Andrea Tuma

War das schon alles?


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benötigen mehr Schlaf als früher, sind abends nicht mehr so lange aktiv, und es fällt uns morgens zunehmend schwerer, aus dem Bett zu kommen. Die Lust, etwas zu unternehmen, nimmt ab. Wir gehen weniger unter Leute, machen nicht mehr so oft Pläne für das Wochenende, weil wir nicht so genau wissen, ob wir, wenn es so weit ist, tatsächlich noch die Energie haben werden, aus dem Haus zu gehen. Der Wunsch nach Alleinsein, Ruhe und Rückzug wird stärker.

      Oder das genaue Gegenteil ist der Fall. Wir haben Schwierigkeiten, Schlaf zu finden, liegen nächtelang wach, fühlen uns morgens wie gerädert und werden trotz körperlicher Erschöpfung immer unruhiger. Es drängt uns, unter Leute zu gehen. Jede Aktivität kommt uns gelegen, können wir doch ohnehin nicht ruhen. Der Wunsch nach Ruhe oder der Drang nach Abwechslung, anfangs wissen wir nicht, was hinter diesem Bedürfnis steht. Vielleicht identifizieren wir es noch nicht einmal als solches. Trotzdem spüren wir, dass etwas in uns aus dem Gleichgewicht geraten ist. Dieser eigenartige Zustand ist uns unangenehm. Wir tun alles, um ihn möglichst nicht wahrnehmen zu müssen.

      Eine meiner Klientinnen wurde in dieser Phase sehr unternehmungslustig, ging abends immer öfter mit Freundinnen aus, flirtete mit fremden Männern und ließ sich auch auf einen Seitensprung ein. Eine andere begann ihre Wohnung komplett zu renovieren und umzubauen, sodass am Ende nichts mehr wie vorher war. Und wieder eine andere zog sich jedes Wochenende in eine einsame Hütte im Wald ohne Strom und fließend Wasser zurück. Verschiedene Strategien mit nur einem Ziel: Ablenkung. Alles ist recht, um die Aufmerksamkeit, zumindest vorübergehend, woandershin zu lenken. In der Hoffnung, dass diese Phase bald wieder vorübergeht, machen wir weiter wie gewohnt, stürzen uns noch mehr in die Arbeit, machen öfter Sport, belegen einen Abendkurs an der Volkshochschule, treffen Freunde und sind viel unterwegs, obwohl uns eigentlich nicht wirklich danach ist. Die Tage sind voll mit Terminen, für Momente der Ruhe und Stille bleibt keine Zeit. Denn kaum entspannen wir uns, spüren wir wieder dieses undefinierbare und irritierende Gefühl in uns.

      Egal, wie hart wir an unserer beruflichen Karriere arbeiten, trotzdem wir gerade eine Familie gegründet oder ein Haus mit Garten gekauft haben, spüren wir tief im Innern, dass all das nicht genug ist. Etwas fehlt. Wir haben vielleicht schon versucht, etwas zu ändern, es aber nicht geschafft. Alte Sorgen, frühere Verletzungen oder tiefe Enttäuschungen wollen uns einfach nicht loslassen und halten uns da fest, wo wir gerade sind. Wagen wir dann endlich eine Veränderung, landen wir oftmals von Neuem in einer ähnlichen Situation wie zuvor. Die gleichen schmerzhaften Erfahrungen scheinen sich stets zu wiederholen. Die Probleme mit den Kollegen oder dem Chef sind im neuen Job wieder da. Die neue Partnerschaft endet letztlich damit, wieder verlassen zu werden. Eine neu begonnene Ausbildung wird schon nach kurzer Zeit abgebrochen, in der festen Überzeugung, es ohnehin nicht zu schaffen.

      Die innere Unruhe treibt dazu an, etwas zu verändern. Und weil große Veränderungen so schwer fallen, wir anfangs vielleicht auch gar nicht wahrhaben wollen, dass diese notwendig sind, beginnen wir unser Leben so umzugestalten, dass unser Bedürfnis nach Routine, Sicherheit und Kontinuität möglichst nicht bedroht wird. Die Wohnung zu renovieren lenkt eine Weile ab, ein Fallschirmsprung macht unseren Alltag aufregend, eine Weiterbildung lässt unsere Karrierechancen steigen, mit der Jahreskarte im Fitnessstudio bringen wir wieder mehr Schwung in unser Leben. Mit einem erotischen Abenteuer ebenso. Rastlos suchen wir nach irgendetwas, das die innere Leere füllt und unsere Sehnsucht stillt, ohne zu wissen, wonach wir uns eigentlich sehnen. Bis wir eines Morgens aufwachen, uns im Spiegel betrachten und erkennen, dass der Weg ein anderer ist. Sein muss. In diesem Augenblick sehen wir hinter den vielen Schichten dessen, was wir als Ich wahrnehmen, unser wahres Selbst hervorschimmern. Dies ist der Moment, in dem wir uns das erste Mal fragen: War das schon alles?

      Ein Erdbeben, dessen Auswirkungen wir vorerst nur in unserem Inneren spüren, erschüttert unser Leben, macht uns Angst, verunsichert und verwirrt. Noch hoffen wir, dass es sich um eine kurzfristige Unpässlichkeit handelt. Wir gehen weiter unseren gewohnten Weg, schlafwandeln durch den Alltag. Bis jetzt war doch alles in Ordnung. Bis jetzt hat unser Leben uns doch genügt. Wenn wir uns nur immer wieder die guten Seiten bewusst machen, dann werden die inneren Erschütterungen wieder vergehen. Einfach weitermachen und darauf vertrauen, dass der Alltag uns ablenken wird und wir auch diese Phase durchstehen werden.

      An manchen Tagen funktioniert diese Strategie besser, an anderen weniger gut. Doch irgendwie schaffen wir es, uns von Tag zu Tag, Woche zu Woche, Jahr zu Jahr zu retten. Wir bekommen unkontrollierbare Heulkrämpfe oder Wutausbrüche, fallen grundlos in tiefe Traurigkeit und ziehen uns mit Zweckoptimismus wieder aus unserem Loch. Wir beginnen immer mehr, an uns selbst und unseren Entscheidungen zu zweifeln, lachen seltener als früher und interessieren uns weniger für Dinge, die uns einst so wichtig waren. Wir funktionieren weiter, zu leben haben wir aufgehört.

      Nach außen lassen wir uns nichts anmerken. Wie sollten wir schließlich diesen inneren Zustand anderen erklären, haben wir ihn doch selbst noch nicht richtig erfasst? Wer hat schon Verständnis für unser Unglücklichsein, wenn es uns doch äußerlich an nichts fehlt? Noch dazu, da wir selbst nicht verstehen, was mit uns gerade passiert. Also beißen wir die Zähne zusammen, setzen eine heitere Miene auf und hoffen, dass dieses unangenehme Gefühl wie ein Sommergewitter vorüberzieht.

      Verdrängen wir die innere Unzufriedenheit zu lange, versuchen wir, uns davon abzulenken oder sie zu ignorieren, greift irgendwann unsere seelische Führung ein. Bis dahin kann aber viel Zeit vergehen. Mit viel Aktivität im Außen und wenig Zeit für Innenschau gelingt es oft über Jahre, manchen sogar über Jahrzehnte, alle unerwünschten Impulse, Empfindungen und Fragen, die im Inneren auftauchen, zu unterdrücken. Der bewusste Wille scheint mächtiger zu sein als das Wollen der Seele. Über weite Strecken glauben wir felsenfest, dass alles in Ordnung ist und es keinen Grund zur Sorge gibt. Einzig die Tatsache, dass wir uns immer öfter ausgelaugt und erschöpft fühlen, stört ein wenig unsere Illusion vom glücklichen Leben, kostet es doch viel Energie, ständig innere Zustände und Bedürfnisse, bewusst oder unbewusst, zu verleugnen.

      Es mag einen Grund oder viele Gründe, einen Anlass oder mehrere Anlässe geben, die zur Umorientierung und Weiterentwicklung bewegen. Sie reißen uns aus der Trance der Routine. Es ist nicht mehr möglich, sich dagegen zu wehren, egal, wie stark unser Wille ist. Wir haben das Gefühl, diese äußeren Ereignisse würden uns völlig aus der Bahn werfen, und übersehen, dass wir schon lange nicht mehr in der Bahn waren.

      Plötzliche Wendungen in unserem Leben treffen uns im ersten Moment wie ein Schock. Völlig erstarrt sehen wir anfangs keine Perspektive, wie es weitergehen soll. Warten wir aber erst einmal ab, bis der erste Sturm sich gelegt hat, so können wir allmählich hinter die Kulissen des Offensichtlichen blicken und die Botschaft, die hinter den Ereignissen steht, erkennen. Wir verlieren beispielsweise den Job und damit ein ganzes Stück Sicherheit. Hinzu kommt ein Gefühl der Unzulänglichkeit und der Wertlosigkeit – in einer Gesellschaft, in der Leistung alles ist. Diese Kündigung könnte ein gemeiner Schachzug des Schicksals sein. Oder aber die Chance für eine berufliche Neuorientierung. Es ist unsere Wahl, wie wir den Ereignissen in unserem Leben begegnen.

      Gab es da nicht schon lange den Wunsch nach beruflicher Veränderung? Haben wir uns nicht nach einer Aufgabe gesehnt, bei der wir zeigen können, was alles in uns steckt? Träumen wir nicht schon seit Jahren von unserer eigenen kleinen Firma? Gedanken, die in der Vergangenheit immer wieder aufgetaucht sind und möglichst rasch wieder verdrängt wurden.

      Bei manchen Ereignissen und Entwicklungen finden wir schnell heraus, wohin das Leben uns führen will. Bei anderen offenbaren sich Sinn und Bedeutung nicht so unmittelbar. Oft vergehen Jahre, bis wir rückblickend erkennen, wozu etwas gut war. Und in manchen Fällen werden wir auch am Ende unseres Daseins noch keine Antwort haben. Letztlich geht es im Leben aber nicht darum, alles mit dem Verstand zu begreifen, auch wenn wir das gerne würden. Tief in unserem Inneren kennen wir die Wahrheit hinter den Dingen und Ereignissen. Ob sie uns bewusst wird, steht auf einem anderen Blatt.

      Die Seele möchte wachsen, sich entwickeln und entfalten. Dies kann sie vor allem dann, wenn Umstände dazu zwingen, uns mit unseren Ängsten auseinanderzusetzen. Erst wenn wir an Grenzen geraten, können wir die Erfahrung machen, wie wir diese kraft unserer essenziellen Energie überschreiten. Wir lernen aus diesen Erfahrungen, gewinnen Stärke und Selbstvertrauen, kommen in Verbindung mit dem großen Potenzial in uns,