nicht eingefallen war:
„Und wie will ich das überhaupt in die Tat umsetzen?“
Denn es war eine Sache, sich innerlich gegen alles zu stellen, was ihr beigebracht worden war, sich sogar gegen das klare und unmissverständliche Verbot ihrer allmächtig erscheinenden Oma Margarethe hinwegzusetzen... Aber es war selbstverständlich eine völlig andere Sache, dies halt eben auch erfolgreich in die Tat umsetzen zu können.
Dieses innerliche Loslösen von allen Konventionen, nur um sich selbst einzureden, dass sie diese nicht mehr benötigte, weil ihr die Liebe zu Johann wichtiger geworden war als alles andere, wichtiger auf jeden Fall als wohlbehütet, aber doch wie eine Gefangene gehaltene Hansetochter weiter zu leben... Dies war plötzlich für sie die Grundvoraussetzung dafür, überhaupt etwas gegen ihre Situation tun zu können. Kein Ausweg, sondern vielmehr die einzig mögliche Alternative überhaupt.
Denn das, was ihr bisher geboten worden war, ja, das war nur ein Leben im berüchtigten goldenen Käfig. Dies überhaupt zu ertragen, setzte voraus, dass man keine eigenen Gefühle zuließ, sondern immer nur im Sinne des Systems funktionierte.
Kein Wunder, wenn die Erwachsenen zuweilen dermaßen über die Stränge schlugen – dann, wenn sie unter Ihresgleichen waren, die ebenfalls einmal ordentlich Dampf ablassen mussten, um es einmal verharmlosend zu umschreiben.
So weit war Adele längst noch nicht, und wenn sie ehrlich gegenüber sich selbst war: So weit wollte sie sowieso niemals kommen. Nein, sie sehnte sich mit jeder Faser ihres Körpers nach diesem einen Mann, von dem allein sie sich verstanden fühlte und der ihre Liebe genauso erwiderte, wie sie selbst sie empfand.
Egal, ob das nun jemand anderes verstehen konnte oder nicht, musste sie sich über alles, was dem entgegen sprach, auf jeden Fall hinwegsetzen, koste es, was es wolle – und sei es sogar ihr bisheriges Leben, das ihr nun sowieso überhaupt nicht mehr lebenswert erschien.
Es war immerhin ihr eigenes Glück und das von Johann, was hier auf dem Spiel stand. Nicht das Glück von anderen.
Und selbst wenn sie so etwas wie Schande über ihr eigenes Hansehaus brachte mit dem, was sie zu tun beabsichtigte, musste ihr das letztlich egal sein. Genauso egal, wie die Frage, wie das alles noch für sie enden würde.
Denn im Grunde genommen, darüber war sie sich jetzt endgültig sicher, hatte sie überhaupt nichts zu verlieren. Ein Leben im goldenen Käfig war ja auch objektiv betrachtet nicht wirklich lebenswert.
Hinzu kam: Sie wusste genau, dass dieses Unglück, das sie dermaßen tief erfüllte, dass sie im einen Augenblick meinte, daran sterben zu müssen, und im anderen alles hinausschreien wollte, was sie so sehr an Schmerz erfüllte... Nein, dieses Unglück konnte sie unmöglich auf Dauer ertragen.
Selbst wenn sie davon ausgehen würde, im Laufe der Zeit ein wenig zu vergessen, gewissermaßen abgestumpfter zu werden, bis sie ein genauso tristes Leben führte wie ihrer Meinung nach eigentlich vor allem Oma Margarethe, die ja von allen gefürchtet und von niemandem geliebt wurde, war da eben wirklich nichts, ihrer Meinung nach, was sich da überhaupt noch zu leben lohnte.
Nein, sie hatte wahrhaftig nichts mehr zu verlieren, sondern nur noch alles zu gewinnen, was ihr jetzt noch wichtig war, und das konnte man mit einem einzigen Wort bezeichnen:
Johann!
Blieb dennoch die Frage: Wie konnte sie es überhaupt schaffen, diese kühne Entscheidung letzten Ende auch noch erfolgreich in die Tat umzusetzen?
Solange sie im goldenen Käfig gefangen blieb, zeichnete sich leider keinerlei begehbarer Ausweg ab. Eine Chance konnte es tatsächlich nur geben, falls es ihr gelang, diesem Käfig zu entrinnen. Trotz der unsichtbaren Überwachung, trotz der schieren Allmacht ihrer Oma Margarethe, die natürlich alles tun würde, um ihre Enkelin unter ihrer Fuchtel zu behalten.
Und dann kristallisierte sich etwas heraus bei ihren Überlegungen, das zumindest einen kleinen Lichtschimmer versprach. Es würde ein möglicher Anfang sein, noch nicht die Lösung. Doch dafür benötigte sie dringend ihre treue Zofe Edith. Deshalb musste sie jetzt genau auf diese noch warten.
Und als Edith dann schlussendlich hörte, worum Adele sie bitten wollte, war sie sichtlich geschockt. Bis Adele es ihr ausführlicher erklärte. Das beruhigte sie zwar nicht wirklich, aber trotzdem versprach sie ihrer Herrin, alles zu tun, was in ihren schwachen Kräften stand, um durchzuführen, was von ihr erwartet wurde.
Als Edith sie danach verließ, sah Adele ihr besorgt hinterher. Irgendwie begannen sich in ihr auf einmal doch wieder Zweifel zu regen, ob sie nicht soeben dabei war, einen groben Fehler zu begehen. Denn wenn die weitreichende Allmacht ihrer Oma wirklich so groß war, wie angenommen werden musste, konnte das Ganze sich tatsächlich auch ins Gegenteil kehren. Dann würde Edith möglicherweise wegen ihrer tatkräftigen Mithilfe ihre Anstellung verlieren, und Adele würde nicht nur die einzige Freundin verlieren, die ihr noch geblieben war, sondern den letzten Rest von Vertrauen, den die Oma noch in sie investierte.
Mit anderen Worten: Alles würde noch sehr viel schlimmer werden! Nicht nur für sie, sondern vor allem für Edith!
12
Es war schon eine besondere Überraschung für Christian Schopenbrink, als ihn unerwartet die Mitteilung erreichte, eine Bedienstete aus dem Hansehaus Brinkmann wolle ihm eine dringliche Mitteilung machen. Vor dem Haus wohlgemerkt, ohne eintreten zu wollen, und vor allem höchst persönlich!
Sein erster Gedanke war natürlich: Adele!
Und dann dachte er:
Nein, das kann sie nicht selber sein. Etwa verkleidet als eine der weiblichen Bediensteten? Aber wer sonst kommt in Frage? Und worum geht es?
Natürlich um Adele!, war er letztlich überzeugt und nutzte eine günstige Gelegenheit, um möglichst unbemerkt das Haus zu verlassen. Es war ja nicht für lange, wie er hoffte. Und er war schon äußerst neugierig auf diese Begegnung.
Als dann Edith vor ihm stand, erkannte er sie sofort: Das war ja die Zofe von Adele. Diese hatte ihm gegenüber bereits erwähnt, dass sie auf sie große Stücke hielt.
Edith gab sich sehr ängstlich und unterwürfig. Sie wagte es kaum, zu Christian aufzusehen.
Er nahm sie sanft beiseite und sicherte nach allen Seiten. Hoffentlich wurde das jetzt nicht beobachtet. Es hätte ziemlich missverstanden werden können. Doch das sorgte ihn nicht so sehr wie die Möglichkeit, dass jemand Edith als Adeles Zofe erkennen würde.
Und dann beruhigte er sich mit dem Gedanken, dass dies wohl kaum möglich wäre. Denn eine Zofe aus dem Hansehaus Brinkmann würde ja wohl kaum im Hansehaus Schopenbrink bekannt sein.
Hoffentlich!
„Was ist denn los?“, fragte Christian eindringlich, weil die bibbernde Edith kein einziges Wort heraus brachte in ihrer Ängstlichkeit.
Er versuchte, möglichst freundlich zu wirken, was aber anscheinend nichts nutzte. Er vermutete, dass Edith wohl höllisch Angst davor hatte, von Christian abgewiesen zu werden oder noch schlimmer, durch ihn eine Strafe zu bekommen, weil sie ihn einfach so belästigte. Immerhin den Sohn des obersten Herrn im Hansehaus Schopenbrink. Das war keine Kleinigkeit für eine Zofe, die zudem aus dem Hause Brinkmann stammte.
„Bitte, rede mit mir!“, bat er sie, denn die Zeit rann