er sie in der üblichen Art angesprochen hätte, wäre sie möglicherweise einfach davon gelaufen, weil sie sowieso schon dermaßen eingeschüchtert war.
Aber weswegen denn eigentlich?
„Meine Herrin Adele Brinkmann schickt mich!“, stammelte sie auf einmal.
„Ach so! Aber ich weiß doch, wer du bist. Du bist ihre Zofe Edith, nicht wahr?“
„Ja, gewiss, werter gnädiger Herr, die bin ich!“
„Gut, sie hat dich zu mir geschickt, und ich nehme an, das soll außer mir niemand mitbekommen?“
„So ist es, werter gnädiger Herr!“
„Und was sollst du mir mitteilen?“
Sie schien wie aus einem Traum zu erwachen, blinzelte zunächst verwirrt, um erst dann endlich zu wagen, ihn anzusehen, immer noch in Demutshaltung, gerade so, als würde sie jeden Moment Hiebe erwarten.
„Es ist so, dass meine Herrin meinte, Euch zu kennen, gnädiger Herr. Sie erwähnte da so ein kleines, privates Fest, auf dem sie jemand anderen kennengelernt hat.“
„Bist du tatsächlich im Bilde? Weißt du, dass auch Johann Wetken dort war, dass sie sich dort begegnet sind?“
Sie zuckte regelrecht zusammen.
„Ja, meine Herrin hat mir alles erzählt.“
„Aber du brauchst doch keine Angst zu haben. Adele und ich sind tatsächlich befreundet. Heimlich natürlich, weil sie eine Brinkmann ist und ich ein Schopenbrink.“
„Ja, das hat sie mir so gesagt.“
„Und weiter? Sie hat dir wirklich alles erzählt? Wie geht es ihr überhaupt, der Armen? Hat sie Hausarrest? Oder ist es sogar noch schlimmer?“
„Nein, nicht schlimmer, aber sie darf nicht ihr Zimmer verlassen und auch niemanden empfangen. Nur ich darf zu ihr.“
„Klar, deshalb hat sie dich geschickt. Was muss ich denn tun für sie? Wie gesagt, habe keine Angst, ich bin doch kein Unmensch. Ich weiß ja nicht, was du im Hause Brinkmann schon alles erlebt hast, aber du kannst ganz offen mit mir reden. Ich bin bereit, Adele zu helfen, wie ich nur kann.“
Edith atmete erleichtert auf. Sie schien sich jetzt tatsächlich ein wenig zu beruhigen.
„Sie – sie will fliehen!“
Das war für Christian wie ein Schock.
„Fliehen? Aber...?“
Edith senkte beschämt den Blick und begann wieder zu zittern.
Jetzt verstand Christian endlich, was die Zofe auf sich genommen hatte. Kein Wunder, dass sie sich dermaßen fürchtete. Das hatte weniger mit ihm zu tun als mit der Möglichkeit, bei ihrem Vorgehen erwischt zu werden. Wenn sie jetzt jemand gemeinsam mit ihm sah... Und wenn das dann auch noch in Zusammenhang gebracht wurde mit Adele... Das würde nicht nur Adeles Situation gründlich verschlimmern, sondern auch Edith selbst mit aller Härte treffen. Sie würde sogleich ihren Arbeitsplatz verlieren und würde niemals mehr irgendwo eine Arbeit bekommen können. Wer dermaßen in Ungnade gefallen war in einem Hansehaus, war für den Rest seines Lebens erledigt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Da gab es keine Gnade. Und mit ihm alle nahen Verwandten gleich mit. Die ganze Familie nämlich!
Eine zusätzliche Bestrafung war da gar nicht mehr nötig. Und dabei wollte Edith doch nur ihrer Herrin helfen, aus purer Freundlichkeit.
Christian kam nicht umhin, ganz besonders den Mut der Zofe zu bewundern. Er suchte nach Worten, um sie zu beruhigen, doch es wollte ihm einfach nichts Passendes einfallen, außer dass er dieses Gespräch möglichst kurz halten musste, um eben das Risiko für Edith möglichst klein zu halten. Falls das jetzt überhaupt noch möglich war.
Er sicherte abermals nach allen Seiten. Wenn man keinen Beobachter entdeckte, hieß das ja nicht zwangsläufig, dass es keinen Beobachter gab...
Er schluckte schwer.
Da Edith seine Frage nicht beantwortet hatte, ging er davon aus, dass sie es wohl selbst nicht so genau wusste, wie Adele überhaupt vorgehen wollte.
Und dann verstand Christian erst, worauf das eigentlich hinaus lief. Dabei lag es eigentlich auf der Hand.
Er schalt sich einen Narren, wieso er nicht gleich schon darauf gekommen war. Bei all dieser Aufregung hatte er tatsächlich das Offensichtliche einfach nicht sehen können. Niemand hatte das. Außer jetzt anscheinend Adele, und sie hatte es gewagt, deshalb ihre Zofe Edith zu ihm zu schicken.
„Natürlich werde ich alles für Adele tun! Sie wird bei mir sicher unterkommen, das garantiere ich. Zwar wird mein Vater nicht gerade begeistert sein, aber andererseits: Wenn Adele aus dem Hause Brinkmann fliehen will und damit vor ihrer Großmutter, dann wird ihm das sicherlich auch gefallen. Immerhin geht es gegen Margarethe Brinkmann. Wem würde das denn nicht gefallen?“
Edith wagte es wieder, aufzusehen. Ihre Augen waren groß und ihr Blick immer noch ziemlich ängstlich. Trotzdem war diese junge Frau so mutig gewesen, trotz aller Gefahren, die ihr dadurch persönlich drohten, hierher zu kommen und solchermaßen Hilfe zu erbitten. Und sie war höchst dankbar dafür, dass sie es nicht hatte aussprechen müssen, wobei ihr wahrlich sowieso schon jedes einzelne Wort nur sehr mühsam über die bebenden Lippen ging.
„Also gut, richte Adele das bitte aus: Ich werde heute Abend auf jeden Fall vor dem Haus sein, natürlich verdeckt, um nicht gesehen zu werden. Sie kennt sich ja aus und wird mich finden. Meinst du, dass du ihr dabei helfen kannst, die Überwachung ihrer Oma zu umgehen? Ich werde jedenfalls auf sie warten.
Wenn ich sie erst einmal zu uns ins Haus gebracht habe, wird sie in Sicherheit sein. Dafür bürge ich!
Und dann werden wir weiter sehen. Sage ihr das bitte so!“
Sie nickte nur, sicherte jetzt ihrerseits nach allen Seiten und zog sich rasch zurück.
Christian blieb noch eine Weile vor Ort und versuchte, die chaotischen Gedanken zu bändigen, die ihn regelrecht lähmten. Und dann beschloss er, als erstes seine Schwester Gordula von der drastischen Änderung der Lage in Kenntnis zu setzen. Sie musste das unbedingt erfahren.
Er überlegte auch, ob er jetzt schon mit seinem Vater darüber sprechen sollte. Aber dann entschied er sich dagegen. Hieronymus Schopenbrink würde erst von dieser äußerst ungewöhnlichen Angelegenheit erfahren, wenn Adele bereits geflohen war aus dem Hause Brinkmann.
Die Flucht eines Hansekindes aus dem eigenen Hause, um Schutz zu suchen in einem anderen Hansehaus? Das erschien dermaßen prekär, dass Christian sich gar nichts vorzustellen vermochte, was noch prekärer hätte sein können in dieser Zeit, im Jahre des Herrn 1602, mitten in Hamburg.
13
Ohne dass Adele es auch nur ahnte, gab es etwa zur gleichen Zeit eine denkwürdige Begegnung zwischen Margarethe Brinkmann und ihrem Gatten Hermann, der ja der offizielle Anführer der Brinkmann-Gilde war. Obwohl jeder in seinem Umfeld wusste, dass er lediglich die Funktion einer Gallionsfigur inne hatte.
Und diese Begegnung wurde natürlich von Margarethe Brinkmann selbst eingeleitet in ihrer ganz eigenen Art: Nicht etwa aufbrausend oder auch nur im Geringsten im Ton verschärft, was vielleicht eher ihrem