in der Innenstadt, als sein Handy klingelte. Es war Dietrich. Er musste noch kurz weg, der Termin verschob sich um eine Stunde.
„Tut mir leid, Berry.“
„Schon gut.“
Gar nichts war gut. Berringer nutzte die Stunde, um im CaféIN an der Ecke Marktsraße/Königstraße einen Espresso mit ein paar Tropfen Zitrone zu trinken. Das CaféIN hatte sich die italienische Lebensart auf die Fahnen geschrieben und pries sich darüber hinaus als eine „Apotheke“ der besonderen Art an: So wurde dort zum Beispiel Espresso mit Zitrone als Mittel gegen Kopfschmerzen verordnet.
Wenn ich hier öfter hingehe, werde ich noch medikamentenabhängig, dachte Berringer und bestellte sich noch eine zweite Tasse.
Eine Stunde später befand sich Berringer im obersten Stock des Polizeipräsidiums.
Berringer klopfte. An der Tür des Büros standen Name und Dienstrang eines Kriminalbeamten: Kriminalhauptkommissar Björn Dietrich ― Kripo Krefeld.
„Herein!“, rief eine heisere Stimme von drinnen.
Berringer trat ein. Björn Dietrich saß hinter seinem Schreibtisch, und Berringer konnte nur die obere Hälfte des Kopfes sehen, da die untere vom Computerbildschirm verdeckt wurde. Zigarettenrauch hing in der Luft. Dietrich war schon damals, während ihrer gemeinsamen Dienstzeit, ein Kettenraucher gewesen.
Offensichtlich hatte er sich dieses Laster nicht abgewöhnen können.
Dietrich wollte etwas sagen, musste sich aber erst einmal räuspern. Es war der vertraute Klang einer chronisch gewordenen Bronchitis.
Ich wundere mich, dass er damit noch die Fitness-Tests schafft, dachte der Detektiv.
Rauch ...
Feuer ...
Berringer erkannte alarmiert, dass seine Gedanken abzudriften drohten. Obwohl durch das halb geöffnete Fenster ein kühler Luftzug ins Büro wehte, spürte er plötzlich Hitze auf seiner Haut.
Es ist 14 Uhr 30, hämmerte er sich ein, ich befinde mich im Zimmer 112 des Polizeipräsidiums der Stadt Krefeld, am Nordwall ...
Dietrich stand auf. Er war groß, einen halben Kopf größer als Berringer. Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, wedelte mit der Linken den Rauch weg und strich sich danach mit einer fahrigen Geste das gelockte, etwas wirre und inzwischen schon mit leichtem Grau durchsetzte Haar aus der Stirn.
„Hallo, Berry, altes Haus! Was zieht dich mal wieder hierher?“ Ein oder zwei Mal hatten sich die beiden gesehen, seit Berringer aus dem Polizeidienst ausgeschieden war. Die lange gemeinsame Zeit während der Ausbildung und anschließend in der Düsseldorfer Polizei hatten ein Vertrauensverhältnis entstehen lassen, bei dem jeder wusste, dass er sich auf den anderen notfalls blind verlassen konnte. Daran hatte sich auch nichts geändert, nachdem Dietrich nach Krefeld gewechselt war, auch wenn das natürlich zur Folge gehabt hatte, dass der Kontakt immer sporadischer wurde.
„Na, wie laufen die Geschäfte?“, fragte Dietrich.
„Ich kann nicht klagen.“
„Ich schon. Du hast ja vielleicht in der Zeitung davon gelesen. Das Weihnachtsgeld wurde gekürzt, das Urlaubsgeld gestrichen, die Personaldecke weiter ausgedünnt ―
aber am Ende soll die gleiche Leistung stehen.“
Berringer lächelte milde. „Zumindest über diese Dinge brauche ich mich jetzt nicht mehr zu ärgern.“
„Aber anderswo wird das Geld zum Fenster rausgeworfen!“
„Tja, so ist das eben ...“
„Nur ein Beispiel aus der jüngsten Zeit, Berry: Die uniformierten Kollegen haben neue Dienstwaffen und auch neue Holster bekommen. Aus Sicherheitsgründen, wie es so schön heißt. Was man nicht bedacht hat, ist Folgendes: Holster und Pistole sind jetzt so breit, dass bei den meisten Kollegen – und damit meine ich jetzt wirklich nicht nur die Beleibteren! – die Sicherheitsgurte in den Dienstfahrzeugen nicht mehr um die Hüften der Beamten passen!“ Dietrich schüttelte den Kopf.
Er griff zu seiner Zigarettenschachtel, wollte den nächsten Glimmstängel herausziehen, legte die Schachtel dann aber wieder zur Seite.
Hat also nicht vergessen, dass ich Nichtraucher bin!, dachte Berringer.
„Jetzt steht das Land Nordrhein-Westfalen vor der Wahl, entweder die ganzen neuen Pistolenholster in den Müll zu schmeißen oder in sämtliche Polizeidienstwagen längere Sicherheitsgurte einzubauen, was auch nicht so ganz billig ist. Denn das wären dann Sonderausführungen, wie du dir denken kannst. Du kannst wirklich froh sein, mit diesem Laden nichts mehr zu tun zu haben.“
„Ich wäre damals gern geblieben“, sagte Berringer. „Mal abgesehen von dem Stress, der überall von oben nach unten weitergegeben wird, habe ich meinen Beruf geliebt.
Aber es ging einfach nicht mehr.“
„Ja, ich weiß ...“, murmelte Dietrich.
Nein, dachte Berringer, alles weißt du nicht.
Erinnerungen stiegen in ihm auf. Erinnerungen an ein ziemlich unangenehmes Gespräch mit seinem damaligen Vorgesetzten, Kriminaloberkommissar Heinz Kürten, der gemeint hatte, dass Berringer mit seiner posttraumatischen Belastungsstörung allenfalls noch eingeschränkt diensttauglich wäre.
Himmel, er hatte ja auch recht gehabt, auch wenn Berringer das damals nicht hatte wahrhaben wollen.
Björn Dietrich wusste nichts von den Flashbacks, die Berringer heimsuchten. So nahe standen sie sich nun auch wieder nicht. Außerdem war Berringer der Meinung, dass ihm Menschen, mit denen er zu tun hatte, unbefangen entgegentreten sollten. Das Mitleid anderer lehnte er ab. Er musste mit seinem Problem allein fertig werden. Sein Verstand musste einigermaßen im Gleichgewicht bleiben, damit das schwankende Schiff seiner verwundeten Seele nicht kenterte. Das konnte ihm niemand abnehmen.
Berringers Blick glitt zur Fensterfront. Man hatte vom Polizeipräsidium aus einen hervorragenden Rundumblick über Krefeld, was vor allem daran lag, dass die meisten Häuser nicht besonders hoch waren. Erstaunlich viele Grünflächen unterbrachen die Gebäudefronten. Man konnte den Eindruck gewinnen, sich in einer bebauten Parklandschaft zu befinden.
Das Grün kaschierte zumindest aus der Ferne die vielen schmutzigen Ecken der Stadt. Selbst das Bayerwerk am Rhein war aus dieser Entfernung erst auf den zweiten Blick als Industriebetrieb zu erkennen. Ansonsten ragten nur einige wenige markante Höhen aus diesem flachen Wohn- und Industriepark heraus. Der Wasserturm zum Beispiel – oder Krefelds höchstes Gebäude, das Hochhaus Bleichpfad mit seinen dreiundzwanzig Stockwerken.
Berringer wedelte mit den Händen, um den Rauch zu vertreiben, und unterdrückte einen Hustenreiz.
Dort draußen gelten strenge Abgasnormen für die Schlote!, dachte er. Aber hier, im Zentrum der Rechtschaffenheit, kann man fast ersticken, ohne dass jemand was dagegen tut.
Die Fenster konnte man natürlich nicht öffnen.
Das hat wahrscheinlich Methode!, ging es Berringer durch den Kopf. Jeder Verdächtige, der hier mehr als eine Stunde gefangen gehalten wird, glaubt wahrscheinlich ersticken zu müssen und gesteht dann jedes Verbrechen – die, die er selbst begannen hat, und ein paar andere gleich mit -, nur damit er wieder an die frische Luft geführt wird.
„Der Kerl, der deine Familie auf dem Gewissen hat, sitzt lebenslänglich“, sagte Dietrich. „Ich weiß, dass das kein Trost ist, aber wenn du mal daran denkst, dass wir in anderen Fällen die Täter niemals gefasst haben ...“ Er zuckte mit den Schultern.
„Gerade bei Auftragsmorden ist das normalerweise sehr schwer.“ Roman Dinescu.
Es verging kein Tag, an dem Berringer nicht an diesen rumänischen Lohnkiller dachte, der die Autobombe gelegt hatte. Berringer hatte damals zu einem Team gehört, das gegen eine mafiaähnliche Organisation ermittelt hatte. Eigentlich war die Bombe für ihn gewesen,