Matt Rendell

Colombia Es Pasión!


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      Einen Monat nach seiner Reise nach Venezuela, am 20. Juli 2008, machte Nairo sich auf den Weg in die Stadt Sogamoso, 70 Kilometer nordöstlich von Tunja gelegen, um das alljährliche Rennen am Unabhängigkeitstag zu bestreiten. Dort sprach er Jenaro Leguízamo an. Gebürtig aus Sogamoso, war Jenaro bis 1991 als Domestik für Café de Colombia gefahren, bevor das Sponsoring eingestellt wurde und der kolumbianische Radsport eine zehn Jahre währende Talfahrt erlebte. Er war ins Trainergeschäft eingestiegen, bevor er einen Abschluss als Sportlehrer machte und in Boyacá Pionierarbeit in Sachen Sportwissenschaft leistete. 2008 hatte Leguízamo bei Colombia Es Pasión als Teamtrainer angeheuert.

      Zehn Jahre später, in seinem Arbeitszimmer in dem Haus, in dem er aufgewachsen war, erinnerte sich Jenaro an den Moment, als der schüchterne, entschlossene Bauernjunge an ihn herantrat.

      »Professor Jenaro, ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Ich bestreite heute ein Rennen und in zwei Wochen wieder. Ich möchte, dass Sie mir zusehen und mir sagen, ob sie meinen, dass ich etwas tauge.«

      Jenaro wurde neugierig. »Bei anderen Fahrern hieß es: ›Trainer, ich brauche einen Vertrag.‹ Bei Nairo hieß es: ›Sagen Sie mir, ob ich etwas tauge.‹ Er war schon immer etwas anders.«

      Nairos Resultat im Rennen am 20. Juli ist in Vergessenheit geraten, aber nicht seine Leistung eine Woche später im Clásico Club Deportivo Boyacá, einem dreitägigen Rennen bestehend aus einem Zeitfahren und zwei Bergetappen. Es war das Heimrennen von Chocolate Sol, und Nairo bekam es mit deren Kapitän Darwin Ferney Pantoja zu tun, sieben Monate jünger als er, aber bereits Gewinner der Vuelta del Futuro 2007, einem nationalen Etappenrennen für 15- und 16-Jährige.

      Im windigen Eröffnungszeitfahren wurde Nairo nur Sechster. Auf der zweiten Etappe belegte er Platz zwei hinter Pantoja, der mit 37 Sekunden Vorsprung das Trikot des Gesamtführenden übernahm. Die letzte Etappe, von Moniquirá nach Tunja, umfasste den Anstieg, den Nairo jeden Tag nach der Schule bewältigte. Er attackierte gleich zu Beginn der Steigung und hängte Pantoja ab. In Vereda La Concepción warf seine Mutter Eloísa Rosenblätter vor ihm auf die Straße, als er vorbeifuhr. Rusbel Achagua hielt das Geschehen vom Fahrersitz eines roten Chevrolet Jimny aus, der dem Büro des Bürgermeisters gehörte, per Videokamera für die Nachwelt fest, während der ergriffene Don Luís tränenüberströmt aus dem offenen Fenster lehnte und seinen Sohn mit »Auf geht’s, mi chinito. Gut so, mi negrito« anfeuerte. Nairo gewann die Etappe mit fast zwei Minuten Vorsprung.

      Als Solist erreichte Nairo die Plaza Bolívar von Tunja und gewann die Etappe, das Gesamtklassement sowie die Berg- und Sprintwertung. Das Video und das Trikot des Siegers, das heute gerahmt an seiner Wand hängt, zählen zu Rusbel Achaguas wertvollsten Besitztümern.

      Nachdem er ganz allein das stärkste Team der Provinz Boyacá demontiert hatte, einschließlich des im ganzen Land gefeierten Darwin Pantoja, eröffneten sich Nairo ganz neue Möglichkeiten.

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      Colombia Es Pasión!

      Im Februar 2004 hatte Präsident Álvaro Uribe Brüssel und Straßburg besucht, wo Mitglieder des europäischen Parlaments demonstrativ den Saal verließen und weiße Flaggen schwenkten, als wollten sie sagen: »Nicht schießen.« Im Oktober desselben Jahres hielt eine dänische Gruppe namens Oprør eine Benefizveranstaltung zugunsten der FARC ab und überwies ihnen 8.500 US-Dollar. Uribe folgerte daraus, dass Europa seine Informationen offenbar von Guerilla-Sympathisanten erhielt, und beschloss, dass es an der Zeit wäre, etwas zu unternehmen.

      Der damalige Leiter von ProExport – der Regierungsbehörde, die damit betraut war, Kolumbiens Tourismus und Handel anzukurbeln – war Luis Guillermo Plata Páez. Als Absolvent der Betriebswirtschaftslehre an der University of Arizona mit einem Master-Abschluss an der Harvard Business School war Plata ein typisches Beispiel der jungen, des Englischen mächtigen, im Ausland ausgebildeten Technokraten, die Uribe geholt hatte, um das Land zu erneuern. 2006 vom Weltwirtschaftsforum zu einem der Young Global Leader gewählt, wurde er später Kolumbiens Minister für Handel, Industrie und Tourismus. Aber zu der Zeit, als Uribe seinen Beschluss fasste, fiel noch die Transformation von Kolumbiens Image im Ausland in Platas Zuständigkeitsbereich.

      Sein wohlklingendes amerikanisches Englisch ist gespickt mit Wirtschaftsjargon und Statistiken.

      »Wussten Sie, dass 90 Prozent des kolumbianischen Kaffees ungeröstet exportiert wird? Toller Kaffee, aber in der Wertschöpfungskette steht er ganz unten. Das ist so, als würde Frankreich Trauben exportieren statt Wein. Ich meine, in welcher Branche wären Sie lieber? Trauben exportieren oder edle Weine herstellen und mehrere hundert Dollar pro Flasche kassieren?«

      Wir trafen uns in Usaquén, einem der vornehmsten barrios von Bogotá – barrios sind kleinteilige urbane Gebiete, so etwas wie Stadtviertel oder -bezirke, die ihrerseits in einem übergeordneten Distrikt zusammengefasst sind, der je nach Stadt comuna oder localidad heißt. Umgeben von Kolonialarchitektur, Restaurants, Boutiquen und kleinen Marktständen, die Krimskrams feilboten, erläuterte er, wie er zusammen mit Coldeportes, der Regierungsbehörde für Freizeit und Sport, die notwendigen Finanzmittel bereitstellte und so das Team Colombia Es Pasión ins Leben gerufen wurde.

      »Dann rief ich einen Freund an, jemand, den ich seit langem kenne, und bat ihn, das Team zu leiten.«

      Dieser Freund war ein weiterer in den USA ausgebildeter Technokrat, ein Finanzberater aus Medellín namens Ignacio Vélez, der mathematische Modellierung an der Stanford University studiert hatte. Vélez, ein passionierter Radsportfan, begann sogleich Handbücher über Trainings- und Sportwissenschaft zu verschlingen, obwohl seine Rolle anfangs rein externer Natur war.

      Das erste Jahr des neuen Teams war ein Desaster. Tests, die am Tag vor der Vuelta a Colombia 2006 durchgeführt wurden, ergaben mehr als 50 Fahrer mit verdächtigen Resultaten, die auf den massiven Gebrauch des damals noch nicht nachweisbaren Hormons Erythropoietin hindeuteten – EPO im Sportjargon. Unter den Übeltätern waren auch Fahrer von Colombia Es Pasión. Vélez war fuchsteufelswild.

      Er erzählte mir: »Wir repräsentierten ein Land, das gebeutelt wurde von seiner Assoziation mit Gewalt und Kokainhandel. Die Worte ›Drogen‹ und ›Kolumbien‹ durften nicht im gleichen Satz auftauchen. Für Kolumbien mit einem Team zu werben, das auf illegale Mittel zurückgriff, war unvereinbar.«

      Die Blutproben wurden vernichtet, die Resultate gelöscht und eine zweite Runde Tests am Morgen der ersten Etappe durchgeführt. Es gab weitere Sperren, aber verglichen mit den Ergebnissen vom Vortag wurde das Ergebnis als akzeptabel eingestuft.

      Auf jeder Bergetappe schien eine Gruppe von Fahrern im Alter von 35 und darüber hinaus ihren deutlich jüngeren Rivalen davonzufahren. Zu den Gesamtführenden zählten drei Fahrer – José Castelblanco, 36 Jahre alt, Libardo Nino, 38, und Hernán Buenahora, 39 –, die für die spanische Kelme-Mannschaft gefahren und von deren berüchtigtem Arzt Eufemiano Fuentes betreut worden waren, der zentralen Figur der im Zuge der Operación Puerto in Spanien enthüllten Dopingaffäre. Am Vorabend der Schlussetappe verbreitete sich die Nachricht, dass Buenahora, der Gesamtführende, disqualifiziert worden war, jedoch gab es keine vollständige Erklärung. Das Rennen gewann schließlich Castelblanco, der bereits 1997, 1998 und 2002 gewonnen hatte und ebenso 2004, allerdings war dieses Ergebnis annulliert worden, nachdem er positiv auf Testosteron getestet worden war.

      Dies war die Welt, in der Vélez und Colombia Es Pasión ihren Platz finden wollten. In den ersten drei Jahren des Bestehens, während Vélez versuchte, seinen Fahrern und Betreuern die Werte des sauberen Sports einzuschärfen, rutschte das Team von einer Krise in die nächste.

      2007 wandte er sich mit dem Vorhaben, in seinem Team den Biologischen Pass einzuführen, an den Weltradsportverband UCI, doch die für das Programm nötige Infrastruktur existierte in Südamerika nicht. Stattdessen beförderte er mit Luís Fernando Saldarriaga einen überzeugten Doping-Gegner vom Assistenz- zum Cheftrainer und holte zudem eine neue Geschäftsführerin an Bord.

      Saldarriaga war selbst ein guter, wenn auch kein herausragender Juniorenfahrer