Matt Rendell

Colombia Es Pasión!


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zu werden. Uribe, Oxford-Absolvent, früherer Bürgermeister der Stadt Medellín und Gouverneur der umliegenden Provinz Antioquia sowie im Verdacht stehend, gewissen paramilitärischen Gruppen und deren Anführern nahezustehen, hatte die Liberale Partei verlassen, um sich um die Präsidentschaft zu bewerben. Die beiden letzten namhaften Kandidaten, die das Gleiche getan hatten, Jorge Eliécer Gaitán in den 1940er Jahren und Luis Carlos Galán in den 1980er Jahren, waren beide ermordet worden.

      Doch bei den Wahlen im Mai 2002 wurde Uribe von einer Welle öffentlicher Empörung an die Macht gespült. Am Tag seiner Amtseinsetzung im August feuerte die FARC Mörsergranaten auf die Präsidentengarde und zündete in der Nähe des Präsidentenpalastes eine Bombe, die 17 Menschen tötete.

      Uribe machte sich daran, Streitkräfte und Polizei zu verstärken, die Paramilitärs aufzulösen und den Guerillas den Krieg zu erklären. Bald war Alfredo Quintana mit den Spezialeinheiten in die schlimmsten Kämpfe verwickelt. Durch das Geld, das er nach Hause schickte, leistete auch die Erhöhung des kolumbianischen Militärhaushalts einen kleinen Beitrag zu Nairos früher Radsportkarriere.

      Die vielen Beziehungen, die Nairo aufbaute, während er seinen Weg von lokalen Dorfrennen zu nationalen und internationalen Wettkämpfen machte, sind heute so stark wie eh und je.

      In einem unserer Interviews merkte ich an: »Nairo, du bist wie Amerika. Es gibt so viele Leute, die behaupten, dich entdeckt zu haben.«

      Er antwortete schlicht: »Es waren viele Menschen daran beteiligt.«

      Zum Beispiel Rusbel Achagua. Achagua ist ein weiterer Name mit indigenen Wurzeln: Kleine Achagua-Gemeinschaften überdauern bis heute in Reservaten in der Provinz Casanare. Aber Rusbel kam gebürtig aus Arcabuco und wurde, als Sportkoordinator unter Bürgermeister Silva, ein fester Bestandteil in Nairos unermüdlichem Programm aus Arbeit, Schule und Rennen.

      »Wir unterstützen ihn, wie wir nur konnten«, erzählte mir Rusbel. »Wir schickten ihn ins Schwimmbad und ins Fitnessstudio. An manchen Tagen, wenn er vom Einbruch der Dunkelheit überrascht wurde, übernachtete er bei uns in Arcabuco. Auf dem Rad war er sofort zu erkennen. Sein Oberkörper war absolut unbewegt und man konnte an seiner Miene nicht ablesen, ob es gut oder schlecht lief.«

      Nairo war für seine Schweigsamkeit bekannt, doch als er mit 15 anfing, Rennen zu bestreiten, hatte er einen Aufruf perfektioniert, mit dem er morgens vor den Wettkämpfen in Geschäften, Bäckereien und Cafés vor Ort um finanzielle Unterstützung warb.

      »Señores y señoras, buenos días. Wir sind wegen des Radrennens hier im Dorf. Wir haben gute Chancen zu gewinnen. Wir sind mit dem Bus aus Arcabuco gekommen, die Startgebühr beträgt 10.000 Pesos und wir müssen etwas essen, Sie können uns deshalb mit 20.000 Pesos sponsern und, falls wir gewinnen, werden wir Sie auf dem Podium im Interview fürs Radio erwähnen. Muchas gracias

      Die Antwort lautete entweder »Nein, danke« oder »Hier nimm, chinito« – ein Kosewort, das Kolumbianer im Gespräch mit Kindern verwenden (in etwa »mein kleiner Chinese«) – »jetzt geh und gewinne dein Rennen, hörst du?« Und beim Einschreiben hieß es dann: »Nairo Quintana, Bäckerei so-und-so.«

      Doch wie Nairo betont, hatte er selbst zu diesem Zeitpunkt in seinem Leben keine Ahnung, dass so etwas wie professioneller Radsport und die Tour de France überhaupt existierten. Seine Heimatprovinz Boyacá hatte Dutzende Radprofis hervorgebracht. Zwei von ihnen – Fabio Parra aus Sogamoso, 75 Kilometer entfernt von Nairos Zuhause an der Tienda La Villita, und Francisco Rodríguez aus Duitama, 60 Kilometer entfernt – hatten bei Grand Tours auf dem Podium gestanden. Nairo hatte weder von ihnen noch von den Rundfahrten selbst je etwas gehört. Er lebte noch immer in der kleinen, eng verwobenen Welt seiner Kindheit. Eine gewaltige kulturelle Kluft trennte ihn von der Welt, in der er eines Tages sein Glück machen würde.

      »Wir waren nie Sportfans«, sagt Nairo nur. »Wir hatten keine Zeit. Der Gedanke, Radprofi zu werden, kam mir nie in den Sinn. Erst später erfuhr ich, dass Leute ihren Lebensunterhalt mit dem verdienten, was wir taten.«

      Dies alles sollte sich bald ändern.

      2005 setzte sich Bürgermeister Silva für die Schaffung eines stadteigenen Radsportteams ein, Alcaldía de Arcabuco (»Bürgermeisteramt von Arcabuco«). Nairo etablierte sich bald als dessen Star. Im Oktober des Jahres investierte Nairos Vater Don Luís die erhebliche Summe von 360.000 Pesos (etwa 102 Euro nach heutiger Rechnung) in ein hellblaues Rennrad, das trotz des Giant-Aufklebers auf dem Stahlrahmen eindeutig keinerlei Bezug hatte zu der renommierten Marke.

      Rusbel Achagua erzählt mir: »Es war dermaßen schwer, die Leute waren baff, dass er darauf gewinnen konnte.«

      Bald darauf, bei einem Bier in Agua Varuna mit einem Zimmermann aus Arcabuco namens Belarmino Rojas, kam Don Luís mit dem Vater eines anderen angehenden Radsportlers ins Gespräch. Juan Guzmán hegte die schönsten Hoffnungen für seinen Sohn Jhon, auch bekannt als Pistolas. Jhon war ebenfalls hin und wieder für Alcaldía de Arcabuco an den Start gegangen, war aber kein reguläres Mitglied der Mannschaft, geschweige denn deren Kapitän. Dennoch schlug Guzmán nun Luís eine Wette vor: 200.000 Pesos, dass Jhon in einem Rennen von Arcabuco zum Alto del Sote, zurück nach Arcabuco und dann hinauf nach Agua Varuna gegen Nairo gewinnen würde. Nachdem er erst vor kurzem Nairos Rad gekauft hatte, war Don Luís knapp bei Kasse, aber Belarmino Rojas streckte ihm das Geld vor und damit war das Rennen beschlossene Sache.

      Rusbal saß mit Luís und Juan Guzmán im Wagen hinter den Fahrern. »Sie beide waren stolze Väter. Pistolas hatte ein besseres Rad und vernünftige Ausrüstung, aber Nairo hängte ihn vom Start weg ab.«

      Danach traf sich Luís mit Belarmino Rojas, um das Darlehen zurückzuzahlen. Belarmino wies ihn an, Nairo das Geld zu geben.

      »Der Junge hat es sich verdient.«

      Die legendäre Wette gilt in der lokalen Folklore als Nairos erste große Bewährungsprobe, Nairo selbst aber spielt die Sache herunter. »Es war nur eine Wette zwischen zwei 15-Jährigen oder vielmehr deren Vätern. Und ich gewann.«

      »Und so«, erzählte mir Rusbel Achagua, »fuhren wir nicht mehr nur zu Dorfrennen, sondern zu Wettkämpfen in der ganzen Provinz Boyacá, und Nairo begann, sich einen Namen zu machen.«

      Nairos Vater fuhr zu so vielen Rennen mit, wie er konnte. Ein anderer Vater, Rodrigo Anacona, dessen Sohn Winner anderthalb Jahre älter war als Nairo, erinnert sich: »Die Rennen fanden meist auf Rundkursen statt, wir sahen sie also an uns vorbeikommen, dann liefen wir zwei oder drei Blocks weiter, wo wir sie wieder vorbeikommen sahen und anfeuerten. Trotz seiner Krücken lief Don Luís mit uns mit. Ich weiß noch, wie gerührt er war, wenn Nairo gewann. Ich fand ihn bewundernswert.«

      Nairo gewann bald Rennen gegen Fahrer aus höheren Kategorien. »Sie zahlten mehr als in meiner Altersklasse. Ich wurde Dritter in einem Bergzeitfahren für Elitefahrer in Cómbita, an das sich ein Rundstreckenrennen anschloss. Einer der sportlichen Leiter beschwerte sich, weil ich erst 17 war, und sie warfen mich raus.«

      Seine Preisgelder teilte er durch drei: ein Teil für seine Familie, ein Teil für Radausrüstung und ein Teil für sich selbst. Zweifellos war es in diesen Dorfrennen, gegen junge Fahrer, die vom Traum beseelt waren, den Giro, die Tour oder die Vuelta zu gewinnen, dass sich die Horizonte in Nairos Leben schwindelerregend zu erweitern begannen.

      Im November 2007 wurde Nairo die Zerbrechlichkeit des Lebens vor Augen geführt, als sein Mentor Raúl Malagón auf der Straße zwischen Arcabuco und seinen Bienenstöcken in La Palma tot aufgefunden wurde. Malagón benutzte ein schweres Bäckerrad, das mit kleinen Gängen, Schutzblechen und einer Gepäckträgerkonstruktion zum Transport von Honigtöpfen ausgestattet war. Niemand fand je genau heraus, was passiert war, denkbar ist aber, dass eines der Schutzbleche das Vorderrad blockierte und ihn mit dem Kopf voraus auf die Straße warf.

      Pedro Camargo erinnert sich: »Jeder im Dorf sagte: ›Diese armen Quintana-Jungs, was werden sie jetzt tun?‹«