Gefahr einer Feuersbrunst fürchtete. Doch seit dem Jahr 1764 wurden erneut Laternen in Braunschweig eingeführt, die an eisernen Wandarmen aufgehängt wurden. Der alte Herzog Carl I. hatte damit eine weitere Verbesserung in Braunschweig erreicht, nachdem er schon 1755 angeordnet hatte, dass die Fußgängerwege vor den Häusern mit Steinplatten belegt werden mussten und die Straßen gepflastert wurden.
Es war eigentlich nicht möglich, dass der starke Wind die Laterne ausgeblasen hatte, und Öl war auch genügend vorhanden, wie sich jetzt beim Wiederanzünden zeigte. Gerhard blieb noch einen Augenblick nachdenklich vor der Laterne stehen, dann befestigte er seine Blendlaterne erneut, griff die Hellebarde und nahm seinen Weg wieder auf.
Wieder hemmte eine heftige Windböe sein zügiges Vorwärtsschreiten, und der alte Mann taumelte sogar ein paar Schritte zurück. Er fluchte leise vor sich hin, mit einem scheuen Blick zum Kirchturm hinauf, dessen schier endlose Spitze in den düsteren Nachthimmel ragte. Schwarze Wolken wurden vom Wind getrieben, nur gelegentlich blitzte einmal ein Stern oder die dünne Mondsichel hindurch.
Der Nachtwächter ging jetzt stark nach vorn gebeugt gegen den Sturm an, aber jeder Schritt fiel ihm schwer. Nur wenige Schritte vor der Liberei traf ihn eine weitere, heftige Böe und zwang ihn zum Innehalten. Gerhard stützte sich an der Kirchmauer ab und warf einen zufälligen Blick auf das ehrwürdige Backsteingebäude, das schon im frühen 15. Jahrhundert als Bibliothek erbaut wurde und durch seine besondere Architektur noch heute von den gegenüberliegenden Fachwerkhäusern der schmalen Kröppelstraße auffiel.
Gerhard hatte etwas wahrgenommen, ohne gleich zu wissen, was seine Aufmerksamkeit fesselte. Das kleine, fast quadratische Haus wirkte im ungewissen Licht der einige Schritte zurückliegenden Laterne wie eine Kapelle auf dem Kirchengrund. Angestrengt starrte der Nachtwächter auf die Fensterreihe. Die vier paarweise angeordneten Fenster waren erwartungsgemäß dunkel, aber gerade jetzt blitzte etwas hinter ihnen auf, um gleich danach wieder zu verschwinden.
Der Nachtwächter fasste den Stiel seiner Hellebarde fester und starrte die Fenster an. Schon tränten ihm die Augen, denn der Wind blies ihm ständig entgegen, doch da – erneut ein Aufblitzen. Ganz deutlich erkannte Gerhard jetzt einen Lichtschein, der länger hin und her wanderte, um schließlich zu erlöschen.
Dann war es unverkennbar, in der Liberei bewegte sich jemand, der eine Laterne in der Hand trug. Nun fiel das Licht sogar so, dass Gerhard einen Schatten erkennen konnte, der sich an den Fenstern abzeichnete. Das Licht stand jetzt ruhig, ein matter Schein drang durch die Fenster herüber, ohne jedoch mehr als den schmalen Rahmen zu beleuchten.
Zögernd setzte sich der Nachtwächter in Bewegung, während ihm wirre Gedanken durch den Kopf schossen.
Wer konnte um diese Uhrzeit noch in der Liberei tätig sein? Er wusste, dass die Andreana, wie die Bibliothek früher auch genannt wurde, längst nicht mehr öffentlich zugänglich war, nachdem der Bücherdiebstahl erhebliche Lücken in die Buchreihen gerissen hatte.
Sollte der Pfarrer von St. Andreas um diese Zeit noch über alten Schriften brüten? Vielleicht arbeitete er ja seine Predigt aus? Doch weshalb brannte kein weiteres Licht, und auch die Laterne direkt über der Tür der Liberei schaukelte dunkel im steten Wind.
Hier konnte etwas nicht stimmen, und nun schritt Nachtwächter Gerhard entschlossen auf die kleine Pforte zu. Als er die kalte Klinke in der Hand spürte und sie behutsam herunterdrückte, öffnete sich die Tür lautlos. Gerhard zögerte, bevor er eintrat, und versuchte, seine Augen an die Dunkelheit im Inneren zu gewöhnen. Seine Blendlaterne wollte er nicht öffnen, um einen möglichen Dieb nicht vorzeitig zu warnen.
Ein dumpfer, muffiger Geruch schlug ihm entgegen, es roch nach altem Papier, Leder, aber auch nach Fäulnis und Schimmel. Den kleinen Raum hatte er schnell überblickt. Hier befand sich niemand.
Es gab nur eine Außentreppe in das obere Geschoss, die schmalen Fenster boten keinen Fluchtweg. Behutsam setzte der Nachtwächter einen Fuß auf die Treppe, verharrte lauschend für einen Moment, dann setzte er seinen Weg fort. Noch immer schimmerte ihm von oben der matte Schein einer Laterne entgegen und beleuchtete schwach die ausgetretenen Stufen. Als er vorsichtig weiter emporstieg, konnte er doch nicht vermeiden, dass der Schaft seiner Hellebarde gegen die Wand stieß und in der nächtlichen Stille einen Laut verursachte, der dem alten Mann selbst wie ein Schuss erschien.
Erschrocken verharrte er auf der Stufe und wagte kaum, auszuatmen. Fast gleichzeitig war das Licht erloschen, und Gerhard rief in die Dunkelheit:
„Hallo? Wer ist dort oben? Was geht hier vor?“
Seine Stimme klang merkwürdig krächzend, und als der Nachtwächter sich kräftig räusperte, hörte er hinter sich ein leises Rascheln. Noch ehe er sich auf der schmalen Treppe umdrehen konnte, fühlte er, wie ihn jemand am Kragen packte und nach hinten riss. Im nächsten Augenblick spürte er einen brennenden Schmerz am Hals, wollte schreien, aber er brachte nur noch ein Gurgeln heraus. Gerhards Hände ließen die Hellebarde fallen, seine Arme ruderten hilflos in der Luft und suchten Halt. Schließlich kippte der Nachtwächter nach hinten und war bereits tot, als er gegen seinen Mörder stieß. Gleich darauf erschien auf dem Treppenabsatz wieder ein Licht, und eine herrische Stimme erkundigte sich:
„Hast Du den Burschen erwischt?“
Statt einer Antwort kam nur ein unverständliches Grunzen von der kräftigen Gestalt, die soeben dem Nachtwächter den Hals mit einem schnellen Schnitt durchtrennt hatte.
„Gut, ich bin hier ohnehin fertig, wir können verschwinden.“
Wenig später verließen zwei Männer mit dunklen Umhängen und tief in die Stirn gedrückten Dreispitzen die kleine Bibliothek und wandten sich der Reichenstraße zu. Niemand beobachtete sie auf ihrem Weg zurück in die Stadt.
2.
Der Besucher hatte erst wenige Minuten im Antichambrierzimmer gewartet und dabei einen eher gleichgültigen Blick auf die Säulen und die Decken geworfen. Was er sah, bestätigte ihn in seinem Vorhaben. Der Braunschweiger Hof hatte nur bescheidene Mittel zur Verfügung. Die Säulen waren zwar durchaus kunstfertig bemalt, konnten aber das geübte Auge des Besuchers nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich eben nur um eine Malerei und nicht um echten Marmor handelte. Auch die sparsame Ausmalung der Zimmerdecken im Schloss, die im Antichambrierzimmer völlig fehlte, zeigte, dass das Herzogtum noch immer seine Geldausgaben gering halten musste.
Zwar förderte Herzog Carl Wilhelm Ferdinand die schönen Künste und vor allem die Wissenschaft am Collegium Carolinum, aber anders als sein stets großzügiger Vater Carl I. achtete er darauf, den Staatshaushalt nicht übermäßig zu strapazieren.
Die nahezu vollkommen leere Staatskasse, die er beim Antritt seiner Regentschaft vorgefunden hatte, füllte sich dank seiner weisen Entscheidung, dem Wunsch des englischen Gesandten nachzukommen. Hatte sein Vater noch starke Bedenken, so drängte ihn der Prinzregent schließlich erfolgreich, in den Subsidienvertrag mit England einzuwilligen, der eine Armee von etwa fünftausendzweihundert Mann zur Unterstützung der englischen Truppen im Aufstand der Kolonisten in Nordamerika aus dem Herzogtum entsandte. Allerdings hatte der alte Herr darauf bestanden, strengste Regeln für die Anwerbung der Soldaten zu erlassen, die bei hohen Strafen das Pressen der Rekruten verhinderte und dazu führte, dass sich überwiegend Ausländer, das heißt, Menschen, die nicht aus dem Herzogtum stammten, zum Dienste im fernen Amerika meldeten.
Dieses Subsidienheer füllte