Gewand, dunkelbraune, weite Weste und den schwarzen Turban eines schiitischen Koranlehrers.
Raphael wusste, dass er in ständigem Kontakt mit Fazlur Rahman Kalil stand. Beide hatten sie in Afghanistan gegen die Russen gekämpft. Während dieses Krieges hatte der damals noch sehr junge Ismael den Koranlehrer und den Talibankämpfer kennengelernt. Fazlur Rahman Kalil war die rechte Hand des Führers von Al-Qaida und der Chef seiner Leibwache.
„Eure Stunde ist gekommen‟, sagte der Scheich. „So Allah will, wird sich bald die Tür zum Paradies für euch öffnen.‟ Er lehnte sich zurück und schwieg. Als wollte er seinen Worten Zeit geben, den Weg in die Herzen und Köpfe der Brüder zu finden. „Falls ihr bereit seid‟, fügte er schließlich hinzu.
Eine seiner Frauen kam herein und brachte zwei Gläser und frischen Tee.
„Die Ungläubigen ertrinken in der Flut des Schmutzes, den sie Tag für Tag ausspeien‟, ergriff der Scheich erneut das Wort. „Es wäre gottgefällig, würden sie allein an all dem Dreck zugrunde gehen – aber in ihrer maßlosen Verblendung haben sie beschlossen, die ganze Welt mit ihrem Schmutz zu verunreinigen ...‟
Raphael und Ismael schlürften Tee, während der Scheich sich in zornigen Monologen gegen die Ungläubigen im Allgemeinen und den Großen Satan im Besonderen erging. Wesentliche Dinge brauchten viele Worte – so war das eben.
Al Turabi setzte seine Tasse ab und beugte sich nach vorne. Etwas Verbittertes lag auf seinem dicken Gesicht. Aus großen, braunen Augen musterte er das Brüderpaar. Raphael wusste, dass er nun zum Thema kommen würde.
„Nächste Woche wird hier in London ein Theaterstück aufgeführt, das unseren Propheten Mohammed und den Propheten Jesus aufs Abscheulichste verhöhnt. Einer unserer Brüder hat in New York City vergeblich versucht, den Zorn Allahs über die Schlange zu bringen, die solches Gift abgesondert hat. Bevor seine strafende Hand sie und ihre Schauspieler treffen konnte, griff das FBI ein. Verrat.‟
Raphael und Ismael hörten schweigend zu. Beiden war klar, was jetzt kommen würde.
„Gemäß der Sharia habe ich das Todesurteil gegen diese Hure verhängt. Und noch gegen zwei weitere Schmutzspeier! Morgen wird ein Aufschrei der Angst durch die Städte des großen Satans gellen!‟
Eine Fatwa! Ein Schaudern rieselte über Raphaels Nackenhaut. Ein Todesurteil. Scheich Kahlid Al Turabi war nicht nur ein Mudschtahid – ein Religionsgelehrter, der den Koran selbstständig auslegen durfte – er war auch ein Clanführer, ein Scheich. Er hatte das Recht, eine Fatwa auszusprechen! Und jeder gläubige Kämpfer konnte die Gelegenheit beim Schopfe fassen, Allahs Willen zu vollbringen ...
„Ihr wisst, dass Salman Rushdie sich in ein Loch verkrochen hat, seit er zum Tode verurteilt wurde. Keine Zeile Schmutz hat er seitdem mehr produziert ...‟ Wieder folgte ein längerer Monolog. Diesmal eine Abhandlung über Sinn und Zweck der Fatwa.
„Neben der Theaterhure habe ich die Fatwa gegen zwei Schmierfinken verhängt, die Allah und seine Propheten in nutzlosen, schändlichen, ja sündigen Bilderbüchern lästern. Alle drei leben in einer Stadt, in der Kloake des Großen Satans, in New York City.‟
Wieder machte Al Turabi eine Pause. Er griff nach seiner Teetasse und lehnte sich zurück. Die beiden Brüder saßen wie festgewachsen und starrten auf ihre Hände, die sie auf ihre Oberschenkel gelegt hatten. Raphael merkte, wie der Stoff seiner Jeans unter seinen Händen heiß und nass wurde.
So verstrichen ein paar Minuten. Endlich blickte der Scheich sie wieder an. Seine Augen waren starr und wie aus Stein.
„Ich frage dich, Ismael Mussa – bist du bereit, die Strafe Allahs an diesem Abschaum zu vollziehen?!‟
„Ja‟, sagte Ismael mit fester Stimme.
„Und ich frage dich, Raphael Mussa, bist du bereit, die Strafe Allahs an diesem Abschaum zu vollziehen?‟
„Ja‟, sagte Raphael leise ...
14
„Der Islam ist keine kriegerische Religion‟, sagte der Mann. „Genauso wenig wie das Christentum in seinem Kern eine gewalttätige Religion ist.‟ Er trug einen dreiteiligen Maßanzug, war hager, klein und glattrasiert. „Aber Sie kennen ja die Geschichte der christliche Kirchen, und Sie kennen die christlichen Extremisten in Ihrem eigenen Land – ich erinnere Sie nur an die Mordanschläge auf amerikanische Ärzte, die Abtreibungen durchgeführt haben.‟
Wir hatten den Anwalt des Attentäters in seinem Büro in Flatbush, Brooklyn, besucht. Er hieß Zakaria Nabul, war gläubiger Moslem. Ein Palästinenser, der schon seit über zwanzig Jahren in Brooklyn lebte und mit einer Amerikanerin verheiratet war.
„Und so gibt es leider, leider auch im Islam radikale Strömungen‟, sagte er. „Strömungen, die den Koran sehr willkürlich auslegen. Ich gebe zu, dass diese Strömungen gefährlich sind und in den letzten Jahren viel Einfluss gewonnen haben.‟
Wir hatten ihn nicht gebeten, uns die verschiedenen Schattierungen des Islams zu erklären. Aber der Anschlag auf das 92nd Street Y-Theater hatte einen großen Wirbel in der Presse ausgelöst, und Nabul schien das Bedürfnis zu haben, seine Religion zu verteidigen. Milo und ich hatten Verständnis dafür.
„Aber es ist doch wahr, dass der Koran den Heiligen Krieg predigt‟, wandte Milo ein.
Nabul winkte ab und schüttelte den Kopf. „Heiliger Krieg – was für eine irreführende Übersetzung. Dschihad bedeutet in erster Linie Anstrengung für die Sache Gottes. Kampf gegen die eigenen schlechten Eigenschaften und das Bemühen um wahren Glauben und aufrichtigen Gehorsam gegen Gott. Das ist der sogenannte große Dschihad. Und dann gibt es allerdings noch den kleinen Dschihad?‟
„Und was meint der Koran damit?‟, wollte ich wissen.
„Damit ist in der Tat der militärische Kampf gemeint‟, räumte Nabul ein. „Aber nur zur Verteidigung der islamischen Glaubensfreiheit und gegen die Unterdrückung verfolgter Glaubensgenossen.‟
„Das gleiche alte Lied wie im Christentum.‟ Milo zuckte mit den Schultern. „Alles eine Sache der Auslegung.‟
„Da haben Sie leider nicht ganz unrecht, Mr. Tucker.‟ Zakaria Nabul machte ein bekümmertes Gesicht. „Diese radikalen Islamisten legen den Koran in der Tat so aus, wie es ihnen passt. Mohammed hat aber nie davon gesprochen, den Islam mit Waffengewalt durchzusetzen. Der Koran sagt ganz eindeutig: In der Religion gibt es keinen Zwang, und: Ruf die Menschen mit Weisheit und einer guten Ermahnung auf den Weg deines Herrn.‟
„Ach ..‟ Ich war erstaunt. Und Milo ging es ähnlich. Der Anwalt nickte bekräftigend.
„Nach unseren Erkenntnissen gehört Ali Sadr zu der radikalen Gruppe um den Scheich Bin Laden‟, sagte ich. Wir hofften, der Anwalt des Attentäters würde ein paar Informationen herauslassen. Er hatte stundenlang mit Ali Sadr – so hieß der Fanatiker – gesprochen. Der Mann saß im Hochsicherheitstrakt von Rikers Island.
„Zur Al-Qaida?‟ Nabul wirkte plötzlich betroffen. „Er hat mir eine Menge irrsinniger Phrasen an den Kopf geworfen. Aber die Al-Qaida hat er nicht erwähnt. Das ist natürlich ein schlechtes Zeichen, wenn der Arm des amerikanischen Staatsfeindes Nummer eins schon bis nach New York City reicht.‟
Staatsfeind Nummer Eins