10
Für einen Moment dachte Sharon allen Ernstes, die beiden Männer wären Schauspieler, und ihr Auftritt würde zum Stück gehören. Erst als der Mann im Trenchcoat sich in die Reihe der Zuschauer warf, begriff sie, dass sich eine Katastrophe anbahnte.
Sie stieß einen Schrei aus und klammerte sich an Mikes Arm fest. Plötzlich schrien alle durcheinander. Die Leute sprangen auf und drängten aus den Sitzreihen. Mike blieb sitzen und blickte um sich, als wäre das ausbrechende Chaos für ihn weiter nichts, als eine besonders interessante Szene des Stücks.
„Wir müssen raus hier, Mike!‟, schrie sie ihn an.
„Uns tottrampeln lassen?‟ Er schüttelte den Kopf.
Sharon stand auf und wollte ihn hochziehen. Von überall her drangen jetzt panische Schreie. Und das Getrampel unzähliger Schritte. „Wir müssen raus!‟, kreischte Sharon.
Ihr Partner zog sie zu sich herunter. „Still jetzt‟, zischte er. „Tief durchatmen!‟ Mit seinen großen Händen packte er ihren Kopf und fixierte sie. Hinter seinen dicken Brillengläsern wirkten seine grünen Augen unnatürlich groß. Wie kleine, exotische Tiere.
„Niemand kann seinem Schicksal entgehen.‟ Er rutschte von seinem Sitz und zog Sharon mit sich auf den Boden hinter den Stuhllehnen. „Mach dich klein, kauer dich zusammen‟, befahl er.
Im nächsten Moment übertönte eine Explosion das Geschrei und das Getrampel der Schritte ...
11
Wie die Salzsäulen standen die Schauspieler auf der Bühne. Sie schirmten ihre Augen mit den Händen ab und blinzelten in das grelle Licht der Bühnenscheinwerfer. Keiner von ihnen begriff, was sich im Zuschauerraum abspielte. Noch immer dröhnte Musik aus dem Lautsprecher in der Baumattrappe.
Ich hatte den seitlichen Vorhang zur Seite gerissen und stand am Rand der Bühne.
„Weg hier!‟, schrie ich. „Verlassen Sie die Bühne!‟ In dem Augenblick knallte etwas hart auf den Bühnenboden. Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen – schon wieder eine Handgranate! Ein Aufschrei ging durch die Schauspieler.
Mit drei langen Schritten erreichte ich das Teufelsding. Ich dachte nicht nach – ich sah nur die kleine Kuppel an der Bühnenkante aus dem Boden ragen, ich sah nur die leere Öffnung des Souffleurkastens, und mein Instinkt steuerte meinen Fuß. Ein Tritt, und die Handgranate schlitterte in den Kasten hinein und verschwand in der Unterwelt der Bühne.
„Flach hinlegen!‟, schrie ich und hechtete mich auf den Boden, rollte mich ab, und robbte auf der anderen Seite der Bühne unter den seitlichen Vorhang. Die Explosion hörte sich dumpf und trocken an. Der Boden zitterte. Ich verbot mir die Vorstellung, irgendjemand könnte sich unterhalb der Bühne aufgehalten haben.
Immer noch flach gegen das Podium gepresst schob ich den Vorhang beiseite. Zersplitterte Holzdielen ragten bizarr aus dem Bühnenboden, Rauch stieg aus einem klaffenden Loch, die Schauspieler drängten sich auf der anderen Bühnenseite hinter den Vorhang. Einige zerrten eine Frau in einem weißen Umhang mit sich. Ich sah Blutflecken im Weiß des Stoffes.
Aus dem Zuschauerraum Schrei und Getrampel vieler Schritte.
„Bleiben Sie ruhig!‟, schrie jemand. „Keine Panik, Herrschaften!‟ Jays Stimme. Ich konnte nicht erkennen, was sich dort unten abspielte. Noch immer prallte das Licht der Bühnenscheinwerfer auf die Bühne herab. Keine Chance, hinter diese Wand aus blendendem Licht zu sehen. Kurz entschlossen legte ich meine Waffe an und zielte auf die Scheinwerfer.
Der Schuss dröhnte durch den Saal, Funken sprühten, Glas splitterte – die grelle Beleuchtung erlosch.
Ein Notlicht erhellte den Saal dürftig. Die vordere Hälfte war schon fast leer. Hinten Menschen über Menschen. Helleres Licht fiel durch die weit geöffneten Saaltüren.
„Ruhe! Beruhigen Sie sich! Keine Panik! Wir haben alles im Griff!‟ Jay, Leslie und ein paar Cops brüllten dahinten durcheinander. Und aus dem künstlichen Baum noch immer Rockmusik.
Und dann sah ich ihn. Heller Trenchcoat, dicke Brille, schwarzes Haar – rückwärts bewegte er sich auf die Bühne zu. Vor sich hielt er eine Frau fest. Wie einen Schutzschild schleifte er sie mit sich zur Bühne. Offenbar erwartete er keinen Angriff von dort. Aber was, um alles in der Welt, hatte dieser Wahnsinnige vor?
Ich robbte auf die Bühne. Der Seitenvorhang bewegte sich. Milo tauchte auf. Der Kerl unten holte eine zweite Handgranate aus der Manteltasche. Und ich begriff, was er vorhatte. Er wollte die Granate in die panisch flüchtende Menge werfen.
Ich sprang auf. Wenn es dem Wahnsinnigen gelang, die Granate scharf zu machen, war alles zu spät. Ein Schatten flog an mir vorbei. Milo – er warf sich in den Zuschauerraum. Unter dem Aufprall seines Körpers stürzte der Terrorist mitsamt seiner Geisel zu Boden. Die Handgranate kullerte unter eine Sitzreihe.
Schon war ich neben Milo. Er lag auf dem Wahnsinnigen. Und unter beiden die kreischende Frau. Zwei Griffe, und die Handschellen schlossen sich um die Handgelenke des Mannes. Milo riss ihn von der Frau herunter und drückte ihn auf den Boden. Für einen Moment trafen sich unsere Blicke. Es war, als wollten sich jeder vergewissern, dass der andere noch am Leben war.
Ich wandte mich der Frau zu. Sie weinte wie ein kleines Kind.
„Ist gut, Ma′am.‟ Ich streichelte ihren Hinterkopf und half ihr hoch. „Ist gut. Der Albtraum ist vorbei ...‟
12
„Was sollte ich tun, verdammt!‟ Der Polizeisergeant fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. „Ich seh′ den Scheißkerl zur Bühne marschieren ...‟ Er schoss einen bösen Blick auf den Mann in Handschellen ab. „... ich seh′ die gottverdammte Granate in seiner Hand! Was hätten Sie getan?!‟
„Schon okay, Sergeant Castle.‟ Ich klopfte ihm auf die Schulter. „Schon okay.‟ Der Mann hatte ja Recht. Wahrscheinlich hätte ich ähnlich gehandelt wie er.
Es hatte drei Tote gegeben. Die Handgranate unter der Bühne hatte einen Bühnentechniker getötet. Ich durfte gar nicht daran