spielt bei der Abhängigkeit vom Dampfen mit hoher Wahrscheinlichkeit die bereits besprochene Gewöhnung an das Verhalten eine entscheidende Rolle. In einem Selbstversuch habe ich vor einiger Zeit herauszufinden versucht, ob ich vorwiegend vom Verhalten oder von Nikotin abhängig bin. Leider ist das nicht so einfach, wie es den Anschein haben mag. Beim Dampfen nikotinfreier Liquids fehlt mir – und viele andere berichten Ähnliches – das leichte Kratzen im Hals, das man auch beim Rauchen verspürt. Ohne dieses Kratzen hat man das unbefriedigende Gefühl Alpenluft zu inhalieren. Diese leichte Reizung der Atemwege, auch als throat hit bezeichnet, beruht auf Aktivierung von nikotinergen Acetylcholinrezeptoren auf sensorischen Zellen der oberen Atemwege [86] und trägt maßgeblich zur Befriedigung beim Rauchen bei [87,88]. Für meinen Selbstversuch habe ich mir daher ein besonders kratziges Liquid gemischt und einen ebenso kratzigen Verdampfer gewählt. Eine Woche lang verwendete ich dieses Setup ohne merkliche Entzugssymptomatik. Auch im Zuge einer Infektionserkrankung, bei der das Dampfen aufgrund von Reizung der Atemwege ausgesprochen schmerzhaft war, habe ich einige Tage ohne Probleme darauf verzichtet, allerdings regelmäßig ein Gerät in Reichweite gehabt, dieses in die Hand genommen und damit „gespielt“. Als Raucher hatte ich hingegen bei regelmäßig wiederkehrenden Infektionskrankheiten die Zähne zusammengebissen und trotz heftiger Halsschmerzen geraucht. Aufgrund dieser Erfahrungen gehe ich davon aus, dass ich viele Jahre nach dem Umstieg noch immer vom Verhalten, aber kaum oder gar nicht von Nikotin abhängig bin. Nachdem bekanntlich jeder Mensch anders ist, lässt sich diese Selbstbeobachtung allerdings nicht generalisieren.
Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich die regelmäßig wiederkehrenden und mantra-artig wiederholten Warnungen vor Nikotinsucht relativieren. Unabhängig davon, ob diese tatsächlich oder nur in den Köpfen von WHO, CDC und Tabakkontrolle existiert, ist der entscheidende Punkt nicht die mögliche Abhängigkeit an sich, sondern allfällige Schädigung der Gesundheit. Gesundheitsorganisationen führen einen jahrzehntelangen Krieg gegen das Rauchen, weil das ein potentiell tödliches Verhalten ist. Alternative Nikotinprodukte, allen voran E-Zigaretten, könnten dazu beitragen diesen Krieg endgültig zu gewinnen. Nur leider hat die Tabakkontrolle irgendwann den tatsächlichen Feind aus den Augen verloren und bekämpft nunmehr seinen harmlosen Gefährten. Da mir die Botschaft immens wichtig ist, wiederhole ich sie hier: Raucherinnen und Rauchern sterben nicht an ihrer Abhängigkeit, sondern an den Folgen der Inhalation von gesundheitsschädlichem Verbrennungsrauch.
3.5. NIKOTINSALZE
Die Firma Juul Labs® hat 2015 ein Podsystem (siehe Kapitel 4) mit Nikotinsalzen auf den Markt gebracht. In einer Patentschrift [89] behauptet die Firma, Nikotin würde aus diesen Liquids schneller aufgenommen und die Inhalation würde geringere Reizung der Atemwege verursachen. Die E-Zigarette von Juul hat in den darauffolgenden Jahren einen regelrechten Hype ausgelöst und sehr schnell erhebliche Marktanteile gewonnen. In den Jahren 2018/2019 war die Juul die am häufigsten verkaufte E-Zigarette in den USA. Die „Salzliquids“ von Juul haben sowohl bei der Bevölkerung als auch in Politik und Medien für Verunsicherung gesorgt und aufgrund des vergleichsweise hohen Nikotingehalts von 5 Gewichtsprozent (60 mg/ml in PG/Glycerin 30/70) Sorgen von Eltern und Schulen vor der Nikotinsucht Jugendlicher ausgelöst. Darauf werden wir in Abschnitt 10.11 noch zurückkommen. Hier möchte ich den Begriff „Nikotinsalz“ erklären und allfällige Unterschiede zwischen herkömmlichen Liquids und den „Salzliquids“ der Firma Juul diskutieren. In Abhängigkeit vom pH-Wert (siehe Glossar) liegt Nikotin in wässrigen Lösungen teilweise als freie Base (ungeladen, in der Abbildung links) und teilweise positiv geladen (protoniert, rechts) vor. Im Körper ist der pH-Wert sehr genau auf 7.4 eingestellt, Nikotin liegt daher im Blut zu etwa 30 Prozent ungeladen und zu 70 Prozent protoniert vor.
Gleichgewicht zwischen ungeladenem und protoniertem Nikotin.
Herkömmliche Liquids enthalten vorwiegend basisches Nikotin, bei Zugabe von Säure (H+-Ionen) wird das in der Abbildung dargestellte Gleichgewicht nach rechts, also in Richtung der protonierten Form verschoben. Das in den Liquids der Firma Juul Labs enthaltene Nikotin wird durch Zugabe von Benzoesäure vollständig in die protonierte Form überführt, sodass eine neutrale Lösung mit positiv geladenem Nikotin und negativ geladener Benzoesäure (Benzoat) entsteht. Das entsprechende Nikotinsalz (Nikotinbenzoat) hat also im Zuge der Herstellung der Liquids niemals real als Salz existiert und existiert auch in Lösung nur formal in Form der beiden, voneinander durch Lösungsmittel getrennten, positiv und negativ geladenen Bestandteile. Eine Analogie wäre Kochsalz (NaCl), das in wässriger Lösung umgehend zu positiv geladenen Natrium- und negativ geladenen ChloridIonen dissoziiert.
Welche Konsequenzen hat die Nutzung von Liquids mit Nikotinsalzen anstatt der freien Base? Zunächst möchte ich feststellen, dass allfällige Wirkungen von Nikotin nach dessen Aufnahme aufgrund des im Körper exakt gepufferten pH-Werts unabhängig vom pH-Wert des Liquids oder des inhalierten Dampfs sind. Der Verzehr von mit Essig angemachtem Salat hat keinen Einfluss auf den pH-Wert des Körpers. In esoterisch angehauchten Schriften der Alternativmedizin wird zwar „Übersäuerung“ des Körpers gelegentlich für die Entstehung diverser Krankheiten verantwortlich gemacht (und zumeist ein angeblich Wunder wirkendes Heilmittel dagegen angeboten), diese Behauptungen sind aber wissenschaftlich unhaltbar. Metabolische oder respiratorische Störungen, die mit einer Erniedrigung des pH-Werts im Blut auf unter 7,35 einhergehen, werden als Azidosen bezeichnet, die in schwerwiegenden Fällen intensivmedizinische Behandlung erfordern.
Somit beschränken sich allfällige Unterschiede zwischen herkömmlichen Liquids und jenen mit Nikotinsalzen auf Ausmaß und Geschwindigkeit der Aufnahme von Nikotin sowie dessen Wirkung auf der Oberfläche sensorischer Zellen der Atemwege, die als leichte Reizung der oberen Atemwege (throat hit) verspürt wird. Die Verminderung der Atemwegsreizung durch Protonierung von Nikotin ist gut bestätigt und führt dazu, dass die Inhalation von Aerosolen mit höherer Nikotinkonzentration toleriert wird. In einem Selbstversuch habe ich einen entleerten Juul-Pod mit 20 mg/ml herkömmlicher Nikotinbasis gedampft und dabei ähnlichen throat hit verspürt wie mit der Standard US-Variante, die 60 mg/ml neutralisiertes Nikotin enthält. Somit ermöglichen Salzliquids ausreichende Nikotinzufuhr durch vergleichsweise leistungsschwache Podsysteme, ohne zu starke, als unangenehm empfundene Reizung der Atemwege.
Inwieweit Geschwindigkeit und Aufnahme von Nikotin durch Neutralisierung der Liquids beeinflusst werden, ist unklar. Die Aufnahme der meisten Stoffe erfordert deren Diffusion durch Zellmembranen. Da diese Membranen lipophil („fettfreundlich“) sind, können geladene Moleküle nicht passieren. In manchen Geweben erfolgt die Nikotinaufnahme zusätzlich über spezifische Transportproteine, aber auch in dem Fall nimmt die Geschwindigkeit der Aufnahme bei Erniedrigung des pH-Werts ab [90,91]. Es ist somit wissenschaftlich gesichert, dass die Aufnahme von Nikotin durch Ansäuern vermindert und durch Erhöhung des pH-Werts mit Basen beschleunigt wird. Diesem Faktum Rechnung tragend setzt die Industrie dem Tabak angeblich Ammoniak zu, um das Gleichgewicht von Nikotin in Richtung freier Base zu verschieben und so die Aufnahme von Nikotin zu beschleunigen. Juul Labs hat mit den Nikotinsalzen den umgekehrten Weg beschritten, sodass – entgegen den Behauptungen der Firma – gemäß Grundlagenwissen in Biochemie und Biophysik verzögerte Nikotinaufnahme zu erwarten wäre. Allerdings wurde hinterfragt, ob der pH-Wert von Tabakrauch tatsächlich Einfluss auf die Nikotinaufnahme hat, da geringfügige Unterschiede im pH-Wert des inhalierten Rauchs durch die physiologische Pufferung des Lungenepithels abgefangen würden [92]. Diese Überlegungen treffen gleichermaßen auf die Inhalation von Aerosolen aus E-Zigaretten zu. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass die physikalische Beschaffenheit des Aerosols der Salzliquids bessere Lungengängigkeit der Aerosol-Partikel und damit beschleunigte Nikotinaufnahme zur Folge hat [93]. Eine publizierte Pilotstudie lieferte erste Hinweise auf anscheinend effizientere Aufnahme von Nikotin aus angesäuerten Liquids, aber die statistischen Abweichungen der Ergebnisse und die relativ kleine Zahl der für diese Frage relevanten Messergebnisse erlauben keine definitiven Schlussfolgerungen [94]. Dazu wäre eine ausreichend große klinische Studie mit vergleichenden pharmakokinetischen Daten der Nikotinaufnahme erforderlich.