Szene der Schweiz, wo er schon seit über zehn Jahren lebt, ist die Reaktion oft: Paul-Olivier wer?
Wer ist dieser unbekannte Mann, der die wichtigsten Enthüllungen über die Datenkonzerne einfädelte?
Datenschutz für Anfänger
Genf. Paul-Olivier Dehaye sitzt im Impact Hub, einem Arbeits- und Zufluchtsort für Freiberufler. Und er erzählt. Dabei fragt er ständig nach: «Ergibt das Sinn für Sie? Habe ich etwas nicht verständlich genug erklärt?» Er ist es gewohnt, technische Dinge anschaulich zu erklären. Unzählige Male hat er Politikerinnen und Journalisten Dinge erklärt. Es ist ihm wichtig, dass er verstanden wird.
Das Thema Datenmissbrauch ist abstrakt, für viele zu abstrakt. Das weiss Dehaye. Es tut niemandem richtig weh. Deshalb gehen Millionen Menschen so sorglos mit ihren Daten um, als würden sie diese fotokopieren und täglich eine Ladung aus dem Fenster schmeissen.
Dehaye wählt einen anderen Ansatz, einen lokalen: «Wenn wir begreifen, dass alles, was die Technologiekonzerne tun, gegen amerikanische, französische oder britische Gesetze verstösst, wachen die Politiker eher auf.» Und so arbeitet er nächtelang mit Medienschaffenden die nationalen Schlagzeilen heraus.
Das ist sein heutiges Leben. Der ehemalige Mathematikprofessor ist heute so etwas wie ein unabhängiger Rechercheur. Einer, der Medien liebt – und die Arbeit mit ihnen. Begonnen hat das 2015. Damals las er im «Guardian»[7] zum ersten Mal von einer Firma namens Cambridge Analytica. Das Unternehmen besitze Informationen von Millionen von Bürgern und setze diese für militärische Zwecke ein.
Es blieb vorerst bei diesem einen Text. Die Zeitung verfolgte die Spur zu Dehayes Verwunderung nicht weiter. Später erfuhr er, dass der Autor des Artikels nicht mehr dort arbeitete.
Der «Guardian» verlor also das Interesse. Dehaye aber blieb am Thema dran. Und brachte die britischen Behörden auf die Spur. Im August 2016 schrieb er die unabhängige Datenschutzbehörde Grossbritanniens an, das Information Commissioner’s Office. Er fragte, ob sie die Firma Cambridge Analytica auf dem Schirm habe. Mit dieser Nachricht wird die Kommission zum ersten Mal auf das kontroverse Big-Data-Unternehmen aufmerksam. Das war drei Monate vor den Präsidentschaftswahlen in den USA.
Suche nach den «heissen Daten»
Dehaye stellte weitere Nachforschungen über Cambridge Analytica an. Sie führten ihn zum Schweizer Journalisten Hannes Grassegger vom «Magazin» des «Tages-Anzeigers». Auch Grassegger recherchierte über die Big-Data-Firma. Aus dem Kontakt der beiden entstand ein Text mit dem Titel «Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt»[8]. Mit «Bombe» meinten Grassegger und Dehaye die manipulative Werbemaschine von Facebook, die uns zum gläsernen Wähler macht. Der Artikel wurde im Dezember 2016 weltweit zum viralen Hit. Nach der Publikation machte Dehaye seine Erkenntnisse auf «Medium.com»[9] publik. Zweihundert Journalisten aus der ganzen Welt meldeten sich daraufhin bei ihm.
Das war der Startschuss für Dehayes Netzwerkarbeit. Während sich die Welt im Frühjahr 2017 ihre Meinung über Trumps angebliche «Bombe» machte, fing für Dehaye die Arbeit erst an. Zu viele Fragen waren für ihn noch ungeklärt. Was genau sammelt der Konzern Facebook über uns? Welche Datenströme werden wie miteinander verknüpft? Welche Firmen haben wieso Zugang darauf? Und: Ist das legal?
Dehaye reicht mehrere Anfragen beim grössten sozialen Netzwerk ein. Er gibt sich nicht mit den üblichen Standardfloskeln zufrieden. Er bohrt nach, verwendet das technische Vokabular des Konzerns, ist mit dem rechtlichen Instanzenweg[10] vertraut. Er weiss, dass er nur so alle Informationen zu den «heissen Eisen» von Facebook kriegt. Mehrfach korrespondiert er dazu mit dem Büro von Elizabeth Denham, der britischen Informationskommissarin, die für alle Datenbelange Europas zuständig ist.
«Reverse Engineering» – so heisst Dehayes Recherchemethode. Das Prinzip: Wenn die Plattformen keine Auskunft über ihre Funktionsweise geben wollen, dreht man den Spiess einfach um. Und setzt am anderen Ende der Verwertungskette an. Bei sich selber.
Facebook-Nutzer Paul-Olivier Dehaye verlangt also vom Unternehmen seinen persönlichen digitalen Fussabdruck. Anhand dieses Datensatzes rekonstruiert er die Mechanismen hinter der Plattform. Mit dem Ziel, deren Blackbox zu knacken.
Was zum Teufel sollte diese Werbung?
Die Methode funktioniert. Dehaye macht die Probe aufs Exempel und kommt damit dem Datenhandel des Leave.EU-Lagers[11] auf die Schliche.
Dehaye registrierte sich für den Newsletter von Leave.EU. Es vergingen einige Tage, bis die erste Ausgabe in seinem Postfach landete. Weit unten in der E-Mail sah er eine Werbeanzeige von GoSkippy, einem Unternehmen der Eldon-Versicherungsgruppe. Dehaye wurde stutzig. Wieso zum Teufel zeigen die Brexit-Anhänger ihm – der in der Schweiz wohnhaft ist – Anzeigen für eine britische Autoversicherung?
Dehaye hatte einen Verdacht. Er wusste, dass die Eldon-Gruppe Arron Banks gehört. Und Banks ist kein Unbekannter. Er ist der Christoph Blocher von Grossbritannien. Ein schwerreicher, konservativer Millionär und Mitgründer der Kampagne Leave.EU.
Dehayes Vermutung war also: Das Brexit-Lager verwendet denselben Datensatz wie die Versicherung. Mit anderen Worten: Die Brexit-Befürworter betreiben illegalen Datenaustausch.
Um seine These zu untermauern, spannte Dehaye mit der renommierten Journalistin Carole Cadwalladr zusammen. Er unterstützte sie bei der korrekten Ausformulierung eines subject access request, eines umfassenden Auskunftsbegehrens. Sein Verdacht bestätigte sich: Die Brexit-Kampagne bediente sich der Daten von Eldon-Versicherten. Wer versichert war, erhielt Brexit-Werbung zu Gesicht. Auf allen Plattformen.
Mit diesem Wissen[12] wurde Paul-Olivier Dehaye neben dem pinkhaarigen Whistleblower Christopher Wylie zur wichtigsten Informationsquelle für das britische Parlament. Weil Facebook sich weigerte, auf die fünfzehn Fragen des Brexit-Untersuchungskomitees im Detail[13] zu antworten, griff das Komitee auf die Expertise des unabhängigen Datenschutzexperten zurück.
Der Labour-Abgeordnete Ian Lucas, einer der leitenden Köpfe bei der Untersuchung zum Brexit, sagt: «Das Wissen und die Dienste von Paul-Olivier Dehaye sind für uns von unschätzbarem Wert.»
Doch nicht nur Grossbritannien erhielt dank Dehayes Hartnäckigkeit Klarheit darüber, was da eigentlich während des Brexit-Referendums in der digitalen Sphäre passierte.
Auch die zwei Milliarden Facebook-Nutzerinnen erhielten seinetwegen mehr Transparenz. Weil das soziale Netzwerk nachgegeben hat. Und eine der sensibelsten Informationen für alle sichtbar machte: Mit ein paar wenigen Klicks in Ihren Profileinstellungen[14] erfahren Sie, ob Spotify oder Netflix Ihre persönlichen Daten an Facebook weiterverschenkt haben.
Ein Sieg für Paul-Olivier Dehaye, den man in Wissenschaftskreisen den «Indiana Jones