Günther Henzel

Geschmackssache oder Warum wir kochen


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Teile besser, sodass vermutlich große Fleischstücke gezielt näher an die Glut platziert wurden. Damit wurde das Rösten zum ersten thermischen Verfahren. Das zweite (das Garen in Gefäßen – Garen in Wasser) ist entwicklungsgeschichtlich viel später hinzugekommen. Beide Techniken gehören heute zu unseren Standardverfahren (Basistechniken) (MICHAILOVA 2019 u. MILICA 2017).12 Gleichzeitig entstand mit der Feuergartechnik auch die Möglichkeit, neue, unbekannte sensorische Qualitäten zu erzeugen, sobald verschiedene Rohstoffe gleichzeitig in der Glut garten (z.B. in Blättern eingerollt, mit Lehm oder Ton umhüllt oder mit wasserhaltigen aromatischen Krautgewächsen bedeckt, dazu auch Wikipedia: Erdofen)

      Mit der Entdeckung medizinisch wirksamer Rohstoffe (Heilpflanzen) wurde das tägliche Essen zugleich auch zur Heilnahrung, mit der Erkrankungen oder körperliche Beschwerden beseitigt bzw. gelindert werden konnten. Eine Mahlzeit sollte nicht nur satt machen, sondern auch die Gesundheit bewahren und das allgemeine Lebensgefühl verbessern. Damit war und ist jede Nahrung immer auch Medizin (Ansatz der traditionellen chinesischen Medizin 'TMC'). Aus ihrem Erfahrungswissen über die Wirkung der Rohstoffe auf den Organismus entwickelten die Menschen Zubereitungsregeln, die sorgsam gehütet und mündlich von Generation zu Generation als »Mixturen zur Gesunderhaltung« weitergegeben wurden. Sie sind die Vorläufer der Rezepte, die in älteren Kochbüchern mit der Aufforderung beginnen: »Man nehme« (von lat. recipe), das den ursprünglichen »heilenden« Hintergrund (später die Anweisung des Arztes an den Apotheker) noch erkennen lässt.

      Zur Sprach- und Kochentwicklung: Beide Entwicklungen verbinden vermutlich Sachverhalte, die sich wechselseitig befördert haben. Die unterschiedlichen »Wirkungen« der Rohstoffe (das, was sie im/am Körper tun) und die genaue Beachtung der Verfahrensschritte wären ohne Sprache – ein in Lautsymbolen überführtes Erfahrungswissen – nicht memorierfähig. Sicher können Tätigkeiten auch durch Nachahmung (Emulation, Imitation) 'erlernt' werden – dazu bedürfte es keiner sprachlichen Memorierung. Spätestens aber, wenn es um ein Fertigungssystem geht, dessen Prozessschritte und Ingredienzien bekannt sein müssen (Verfahren, die sich erst durch unzählige trial and error-Erfahrungen als zweckmäßig erwiesen haben), lässt sich dieses Wissen nur durch ein Wortsystem bewahren und weitergeben. Vieles deutet darauf hin, dass unser Wortschatz mit der Erweiterung des Rohstoffspektrums und der Entwicklung von Zubereitungstechniken erst seinen entscheidenden Schub erhielt.

       Zu Teil II

      Das Phänomen Wohlgeschmack setzt komplexe neurobiologische Prozesse und Gehirnleistungen voraus, die auf elementare Reizverarbeitungen archaischer Einzellermembranen zurückgehen. Im Urmeer entwickelten kleinste Biosysteme (Pro- und Eukaryoten) erste physikalische und chemische Kontaktstellen, mit denen sie 'Informationen' über ihre Umgebung erlangten, die so für sie 'erkennbar' wurde. Nahrungsmoleküle wurden (und werden) an Membranrezeptoren nach einem 'Schloss-Schlüssel-Prinzip' erkannt, das sich im Laufe der Evolution von reinen Ionenkanälen zu komplexen Andockstellen (G-Protein-gekoppelte Rezeptoren) entwickelt hat. Sobald hier ein passgenaues Molekül andockt, werden komplexe Reizweiterleitungskaskaden ausgelöst (Signaltransduktionen, Bildung sekundärer Botenstoffe), die im Biosystem zu spezifischen Reizantworten führen. Große Organismen verarbeiten diese Rezeptor-Informationen in einem Gehirn. Vermutlich deshalb, weil sich dort in zig Millionen Jahren Evolution ein neuronales Netzwerk gebildet hat, in dem alle relevanten physikalischen und chemischen Energieformen der Außenwelt (Schall, elektromagnetische Wellen, Ionen u. a.) als aktivierbare, biologisch äquivalente (im 'Ruhemodus' befindliche) Erregungsmuster präsent sind. Sie liegen in spezifischen Kerngebieten (die mit anderen Hirnarealen verbunden sind), in denen entsprechende Erregungszustände ausgelöst werden, sobald sie Rezeptorsignale erreichen. Nach diesem (vermuteten) Modell funktioniert das Gehirn wie ein »Energiewert-Erkennungssystem«, das die im Außenreiz liegenden kinetischen und physikalisch-chemischen 'Informationen' (Energiezustände) in biologisch adäquate Erregungen überführt. Diese Fähigkeit, Außenwelteigenschaften in ein neuronalen Netzwerk einzubetten – als biologisch adäquate Energiezustände – hat in Milliarden Jahren jenes Reizverarbeitungsorgan hervorgebracht, das wir Gehirn nennen. Deshalb können wir Reize mit den sie auslösenden Ursachen (Energieformen) identifizieren. Da alle äußeren Reize mit Empfindungen, Gefühlen und Emotionen gekoppelt sind, verfügt der Organismus über eine weitere Orientierung (ein Bewertungssystem), die unser Meiden und Wollen begründet. Bezogen auf die sensorische Qualität der Nahrung bedeutet das: Der Organismus 'weiß bereits', was er isst und was ihm bekommt.

      Der Geschmack des Essens wird individuell erfahren. Er ist vom Klima, der Region und dem Kulturkreis geprägt. Nördlichere Erdregionen erfordern Nahrung mit höherer Energiedichte, und dort geerntete Produkte unterscheiden sich deutlich von landwirtschaftlichen Erzeugnissen Afrikas oder Asiens, weil Böden und Wetterverhältnisse anders sind. U. a. deshalb enthalten vergleichbare Rohstoffe unterschiedliche Inhaltsstoffe und sind geschmacklich verschieden. Die Prägung auf diesen Nahrungsvorrat, die bereits im Mutterleib beginnt, führt zu individuellen Geschmacksvorlieben.

      Die Möglichkeit, aus einzelnen, geschmacklich überwiegend unattraktiven Rohstoffen – und das trifft auf die meisten Nahrungskomponenten zu – durch Kombination und Gartechniken schmackhaftes Essen herzustellen, erweist sich für den Menschen als Glücksfall. Tierische und pflanzliche Großmoleküle sind u.a. hitzelabil und lassen sich sensorisch gezielt verändern. Damit ist die 'Zunge' die alles entscheidende Instanz – und nicht der »Kochtopf«! Er aber ist die notwendige Voraussetzung zur Herstellung dieser von uns (vom Organismus) gemochten Zubereitungen.

      Heute wissen wir, dass das 'Erfolgserleben', das Gefühl, ein Ziel erreicht zu haben, über neuronale Schaltkreise mit dem Belohnungszentrum im Gehirn (Nucleus accumbens)13 gekoppelt ist. Offenbar war (und ist) die Möglichkeit, den Genusswert von Rohstoffen zu verbessern, ein starkes intrinsisches Motiv, Zeit und Arbeit zu investieren. Da weltweit und in allen Kulturen gekocht wird, muss das mit verbesserten Ernährungswerten und weiteren physiologischen Vorteilen verbunden sein, sonst hätten sich diese Verfahren nicht durchgesetzt und bewahrt. Genuss- und Nährwert sind daher weder beziehungslos, noch zufällig, sondern gekoppelte Sachverhalte, die der Organismus erfahren und erinnern kann. Vermutlich ist aus diesem »Körperwissen« das immerwährende Suchen nach Wohlgeschmack erwachsen, das die nahezu unbegrenzte Vielfalt der Nahrungszubereitung – die Kochkunst – begründet.

       Zu Teil III

      Vom Rohstoff zur Speise betrachtet das »innere System der Zubereitung«, das jede Rohstoffkombination und Gartechnik begründet. Es ordnet Verfahrensschritte und Zubereitungsoptionen in Abhängigkeit von Rohstoffmerkmalen und -anteilen. Die Technik, Nahrungskomponenten bereits 'außerhalb des Magens' zu kombinieren, ermöglicht, auch jene Anteile in relevanten Mengen zu verzehren, die allein eher ungenießbar wären (z. B. Essig, Salz, Schmalz, Talg, Kräuter und Gewürze). Diese Komponenten verbessern nicht nur den Nährwert, sondern erfüllen vielfältige verdauungsfördernde und pharmakologische Aufgaben (WATZL 1995).

      Neben technologischen Aspekten werden auch Techniken der Genusswerthebung betrachtet, die (bisher) allgemein auf das fachliche Können des Kochs zurückgeführt werden. Doch wer oder was befähigt den Koch, mit unterschiedlichen Rohstoffen (allesamt Produkte der Fotosynthese und/oder im Tiermetabolismus entstandene Biosubstanzen) sensorische Qualitäten zu erzeugen, die die einzelnen Rohstoffe alleine nicht haben? Offenbar lassen sich organische Stoffe wie Elemente eines Baukastensystems nahezu beliebig kombinieren. Bei 'richtiger' Dosierung und gekonnter Zubereitung regen diese Kreationen unsere Sinne an und lassen uns genussvolle Momente erleben. Dieser Sachverhalt weist auf die Bedeutung des menschlichen Sensoriums für Zubereitungsziele hin.

       Zu Teil IV

      Die Begriffe Primär- und Sekundärstoffe sind lehr-/lerntheoretisch begründet. Sie sollen Schülern ermöglichen, das »System der Zubereitung« – seine Regeln und Bedingungen im Umgang mit Rohstoffen – auch theoretisch zu erfassen und zu begründen. Die Begriffe kategorisieren und ordnen Rohstoffe jeweils nach ihren »Funktionen«