Bereits der Duft und der Geschmack informieren über die zu erwartende »Qualität« der Nahrung, und nach dem Verzehr »urteilt« der Organismus über die Bekömmlichkeit und den tatsächlichen Wert, z. B. mit wohligem Empfinden und Sattheit. Stellen sich diese Zustände trotz ausreichender Verzehrmengen nicht ein, wird diese Nahrung – selbst wenn sie mundet – nicht (mehr) gemocht (POLLMER 2003). Nachteilige Rohstoffveränderungen hätten sich daher nicht durchsetzen können. Den verbesserten Wert der Nahrung »erkennt« der Organismus – neben der Konsistenz (der Textur) – vor allem am Aroma (Duft und Geschmack), weil diese Sinneseindrücke jeden Bissen andauernd »zertifizieren« (Abschn. 8.1, S. 128 f.). Auch die Wirkung der Nahrung auf die Darmbiota trägt wesentlich zum Wohlbefinden bei, denn etwa 95 % des Botenstoffs Serotonins wird im Magen-Darm-Trakt produziert (ENDERS 2016).
1.6 Natürliche Grenzen für die Beweisbarkeit der Kochanfänge
Garen zielt, neben der Herstellung der Verzehrfähigkeit, u. a. auf die Erzeugung appetitsteigernder Komponenten. Der Zusammenhang von Aromen und Ernährungswerten (im Kontext von Garverfahren), ist, wie betont, nicht Gegenstand anthropologischer Forschung (sondern Teil der Ernährungsphysiologie). Selbst wenn es einen Nebenzweig in der Archäobiologie gäbe, der molekularbiologische und sensorische Ernährungsaspekte als mögliche Co-Faktoren der Hominisation untersuchte, ließen sich diese Aussagen weder überprüfen noch belegen. Die früheren Wildpflanzen mit ihren damals typischen Nährstoff- und Giftanteilen gibt es nicht mehr – ähnliches gilt für das Jagdwild. Schon deshalb lässt sich das Aroma archaischer Kocherzeugnisse nicht mehr »nachbauen« und beurteilen. Letztlich sind physiologische Reaktionen, die diese Rohstoffe bei Homo erectus tatsächlich auslösten, reine Mutmaßungen, da seine tatsächliche Enzymausstattung und die Zusammensetzung seiner Darmbiota unbekannt sind. Daher bleiben Fragen, ob und wie sich schmackhaftes Essen begünstigend auf die Entwicklung der Hominini ausgewirkt haben könnte, durchweg spekulativ. Alle Nachforschungen können nur auf den heutigen Menschen und andere Primaten Bezug nehmen – einen Rückschluss auf die aromatische Qualität menschlicher Urnahrung erlauben sie nicht.
Das ist bedauerlich, denn ausgerechnet jener Aspekt, der Kochtechniken vermutlich erst angeschoben hat (die »Kochkunst« entwickelte sich nachweislich in Richtung Aromahebung – die vor allem durch Kombination verschiedener Anteile möglich wurde), bleibt aus Sicht der Wissenschaft eine Art terra incognita. Aussagen über die Nahrung der Frühmenschen können sich nur auf die Nennung der Rohstoffe beziehen, die auf dem »Speiseplan« standen. Auch der Hinweis auf eine Vorstufe der »Food Preparation«, die Gorillas anwenden (sie kennen insgesamt über 120 Futterpflanzen; HESS 1989),46 ist kein Hinweis auf eine sich entwickelnde »Zubereitungs- oder Gartechnik« (Hess 1989).47 Aromatische Garprodukte entstehen dabei nicht.
1.7 Ohne Sensorium kein Wohlgeschmack
Offenbar kann der Organismus unabhängig vom Verstand beurteilen, welche Nahrung für ihn günstiger ist (LOGUE 1995).48 Er ist, wie bereits erwähnt, mit vielfältigen hormonellen und metabolischen Reglersystemen ausgestattet, die seine Nahrungswahl steuern, ihn Neues probieren lassen, warnen oder stimulieren. Sowohl der Nahrungsbedarf als auch die Bewertung des Verzehrten unterliegen endogen Kontrollen (REHNER; DANIEL 2010).49, 50 Sie schützen den Organismus vor giftigen und ungünstigen Nahrungszusammensetzungen. Wenn der geschmackliche Wert (»Impact«) nicht mit dem zu erwartenden Ernährungswert übereinstimmt, wird das u. a. vom enterischen Nervensystem (ENS oder 'Darmhirn') registriert und an das Gehirn 'gemeldet'.51
Es ist zu vermuten, dass auch Homo erectus über »vergleichbare« endogene Kontrollsysteme verfügte, da sein Körperbau (u. a. der Brustkorb) auf gleiche Dünn- und Dickdarmlängen schließen lässt und somit auf gegarte Nahrung eingestellt war. Die Epithelzellen der Darmwände tragen Riech- und Geschmacksrezeptoren, die entsprechende Hormone oder Neurotransmitter je nach Nahrungskomponenten freisetzen (HATT 2006). Unsere Ahnen begannen also nicht ohne jegliche »Kontrolle« mit verschiedenen Rohstoffen und Gartechniken zu experimentieren. Vielmehr führte das am Essen und der Verdauung beteiligte Sensorium im Hintergrund »Regie«, entschied über »like« oder »dislike« dieser Kreationen. Die Realisierung attraktiver Garprodukte setzt aber nicht nur Wissen über vielfältige Nahrungsrohstoffe, sondern graduell handwerkliches Können und vor allem planvolles Handeln voraus. Ohne entsprechende Denkleistungen gäbe es diese (z. B. durch Rohstoffkombination) aromatisch optimierten Mahlzeiten nicht. Mit seinem relativ großen Gehirn konnte der in Europa lebende Homo erectus problemlos appetitlichere, vorteilhaftere Alternativen erinnern und zunehmend selber herstellen. Was aber sind vorteilhaftere Alternativen, wenn der Organismus kraft evolutionärer Entwicklung auf eine naturgegebene Nahrung »angepasst« ist?
1.8 Unspezifische Nahrungsvorzüge
Biologische Systeme sind grundsätzlich nicht statisch und befinden sich in einem ständigen Anpassungsmodus. Selbst im Zustand des 'Gut-angepasst-Seins' verfügen sie über genetische Dispositionen, alternative Nahrung zu erkennen und zu nutzen (RUSCHKE 2007). Das ist biologisch sinnvoll, da sich ihr Lebensraum in einem (über erdgeschichtliche Zeiträume hinweg) andauernden Wandel befindet. Verändert sich z. B. aufgrund des Klimawandels ihr Nahrungsspektrum, werden jene Rohstoffe gewählt, die am schmackhaftesten und am besten verdaulich sind – vorausgesetzt, sie sichern damit ihr Überleben. Hierbei handelt es sich keineswegs um eine vollständig »neue« Ernährung, sondern um eine graduelle Abweichung zur bisher vertrauten Nahrung (die benötigten Nährstoffe sind mit anderen Begleitstoffen verpaart und liegen in einer anderen Rohstoffmatrix und in anderen Mengenverhältnissen vor). Stellte der Menschen solche abweichenden 'modifizierten Rohstoffe' selbst her, musste in diesen Veränderungen ein »physiologischer Mehrwert« liegen (wäre das nicht so, hätten die Nachteile überwogen und dem Organismus auf Dauer geschadet). Dieser »Mehrwert« hatte (und hat) einen »Geschmack« – und zwar einen höchst attraktiven.
Grundsätzlich sind sensorische und metabolische Wechselwirkungen (als biologische Regulative) maßgeblich an der handwerklich »beabsichtigten« Veränderung von Rohstoffen beteiligt – eine Strategie zur Selbsterhaltung und -organisation (KÜPPERS 2012). Die Erfindung von Kochtechniken ist daher nichts anderes als eine vom Körper kontrollierte und herbeigeführte »Nahrungsoptimierung«.
1.9 Der Faktor Verstand
Bevor der Frühmensch verschiedene Handlungsschritte im Voraus durchdenken und in zeitlicher Abfolge ausführen konnte, benötigte er ein leistungsfähiges Gehirn (ROTH 2011).52 Nach ROTH lag der sog. »zerebrale Rubikon« in der menschlichen Entwicklung bei etwa 750 g,53 ein Wert, den Homo erectus mit 900 bis 1100 g deutlich übertraf. Damit war sein Gehirnvolumen mehr als doppelt so groß wie das der Schimpansen und Gorillas (400 bis 550 g). Da diese keine vergleichbaren technologischen Fertigkeiten wie der moderne Mensch entwickelt haben, liegt ein Zusammenhang mit der Gehirngröße nahe.54 Allerdings lassen bloße Größen- oder Gewichtsaspekte des Gehirns nicht zwangsläufig auf den Grad der Intelligenz schließen (sonst müssten Elefanten und Wale intelligenter sein als wir). Entscheidend ist das relative Verhältnis von Gehirn- und Körpergewicht (ROTH 2011).55
Neben Ernährungsaspekten werden für die Größenzunahme des Gehirns (MARTIN 1995) vor allem auch anatomische Veränderungen vermutet, die mit der Entwicklung des aufrechten Gangs in Verbindung stehen. Einen in der Savanne in Aktion befindlichen Körper auf nur zwei Beinen stabil zu halten, erforderte ein leistungsfähigeres Gehirn als dafür, einen Körper von Ast zu Ast zu hangeln. Es müssen beim Gehen und Laufen 'unzählige' Muskelaktivitäten mit dem Gleichgewichtssinn, der Körperbewegung und -lage im Raum (Propriozeption = Eigenempfindung) koordiniert werden. Weiterhin war im aufgerichteten Körper ein höherer Blutdruck notwendig, um gegen die Schwerkraft das Gehirn mit ausreichend Blut, also auch mit Sauerstoff und Nährstoffen zu versorgen. Letzteres sollte sich bei einem weiteren Selektionsdruck hin zu größeren leistungsfähigeren Gehirnen als wichtiger Co-Faktor erweisen,56 da die vermehrte, auch zur Kühlung erforderliche Blutzirkulation mehr Energie und Nährstoffe ins Gehirn transportierte. Insbesondere die Trockenzeit vor etwa 2 Millionen Jahren war laut C. Egeland »die Zeit der Selektion