sie dort dauerhaft nicht ihre Leckerbissen, stellt sich ihr Verdauungssystem auf diese weniger attraktive Kost ein (u. a. durch eine Veränderung der Darmbiota). Reicht diese Anpassung aber nicht, die Existenz zu sichern, bleiben ein weiterer Ortswechsel – oder aber die technische Option: die Rohstoffe selbst zu verändern und sie an die Verdauungsleistung des Organismus anzupassen. Genau das haben die Vorfahren des Menschen gemacht. Allerdings nicht, um einen »Nahrungsmangel« zu überbrücken, sondern aufgrund ihrer sensorischen Fähigkeit, leichter Verdauliches und Wertvolleres zu erkennen.
Die Bearbeitung der Rohstoffe mittels Feuer stellte eine Erweiterung und Modifizierung des Nahrungsvorrats dar – und zwar eine höchst effiziente.72 Sie wurde möglich, weil sich Rohstoffe molekular verändern lassen und der menschliche Organismus von gegarten Strukturen vielfältigen Nutzen hat.73 Eine vollständige »Abkehr« von der Rohkost hat es dennoch nicht gegeben. Auch wir essen bekanntlich viele Feldfrüchte und auch tierische Produkte »roh« (z. B. Obst, Möhren, Leber, Mett, Tatar). Auf die biologischen Hintergründe und Zusammenhänge der Zubereitungsvarianzen von roher und thermisch gegarter Nahrung werden wir in Abschn. 15, S. 219 ff. genauer eingehen.
Mit der Erfindung von Gartechniken hatten sich unsere Vorfahren ein noch größeres Nahrungsspektrum geschaffen, als es ihnen die Natur selbst bot. Gegenüber Nahrungsspezialisten, die sich nur von bestimmten Rohstoffen ernähren (und davon abhängig sind), haben Omnivore mit ihren pflanzlichen und tierischen Nahrungsanteilen stets bessere Überlebenschancen. Hinzu kommt, dass der Organismus von Allesfressern auf variierende Nahrungsangebote gut vorbereitet ist. Er kann bei temporären Nahrungsengpässen oder einseitigen Nahrungsquellen auf im Organismus vorhandene Nährstoffdepots zurückgreifen – besonders jener Nährstoffe, die es oftmals – auch jahreszeitlich bedingt– nicht in ausreichender Menge gab.74 Auch deshalb präferieren Allesfresser Nahrungsvielfalt, probieren sie hin und wieder Unbekanntes. Übertragen auf den im Hier und Jetzt lebenden Menschen erklärt das die unvergleichlich höhere Attraktivität eines kalt-warmen Büfetts gegenüber dem Angebot, ausschließlich aus Reis- oder Kartoffelspeisen zu wählen.
Auch Homo erectus war – wie für Allesfresser üblich – stets auf der Suche nach Lecker-bissen.75 Die mit diesen gekoppelten Empfindungen führen u. a. zur Ausschüttung von Endorphinen, dem biologischen »Verstärker«, vorteilhafte Nahrung zu erinnern. Vermutlich ist das der sensorische 'Urstimulus' oder Impuls, weniger attraktive Rohstoffe aromatisch verbessern zu wollen.
61 Eine »Mehrfach-Anwendung« wurde bei brasilianischen Kapuzineraffen beobachtet, die Steine unterschiedlicher Größe sowohl zum Freilegen von Wurzeln im Erdreich, zum Zerteilen dieser Wurzeln und zum Knacken von Nüssen verwendeten; a. a. O.
62 Die nach dem Gebrauch weggeworfen werden, also jedes Mal neu gefertigt werden müssen; der Mensch würde das nicht tun (ROTH 2011; S. 298 ff.)
63 Sie unterliegen vegetativen neuronalen Schaltkreisen, die auf Schlüsselreize mit einem angeborenen Auslösemechanismus (AAM) reagieren. Diese evolutionär erprobten Reaktionsweisen werden von den ältesten Gehirnregionen (verlängertes Rückenmark, Kleinhirn u. a. m.) gesteuert (ROTH 2011)
64 A. a. O., S. 2
65 A. a. O., S. 2
66 Erste empirische Experimente zum Nachweis der klassischen Konditionierung am Experiment mit Hunden gehen auf den russischen Forscher I. P. Pawlow zurück (SAPOLSKY 2017); a. a. O., S. 53
67 Die Entwicklung komplexerer Gartechniken, zu denen u.a. Abwarten, dosiertes Ergänzen verschiedener Rohstoffe gehören, liegt auf der Ebene der operanten oder instrumentellen Tätigkeit. Ein Verhalten, das eine bereits vorhandene Reaktion durch neue Reize abwandelt und zur Erreichung des Erwünschten modifiziert. Bevor diese kognitive Ebene erreicht worden war, und Eingang in die Zubereitung gefunden hatte, vergingen vermutlich tausende Jahrhunderte
68 Der »Belohnungsmechanismus« ist die Hauptantriebsfeder für Handlungen; die zu erwartende Belohnung dient als Reizverstärker für vielfältige Verhaltensweisen (ROTH 2011), S. 302 f.
69 Archäologische Hinweise zur Feuernutzung der Australopithecinen (vor 4 - 1,5 Millionen Jahren) und von Homo habilis (vor 2,5 - 2 Millionen Jahren) sind bis heute umstritten (GOUDSBLOM 2016)
70 Vermutlich hatte schon Homo habilis, wie neuere archäologische Ausgrabungsfunde annehmen lassen, seine Nahrung gegart (WEBER 2011)
71 Unabhängig von der archäologisch genauen Datierung, wann Homo erectus Feuer auch zum Garen verwendet hat, ist belegt, dass Frühmenschen schon vor rund einer Million Jahren Feuer nutzten (WEBER 2012)
72 Tatsächlich handelt es sich um ein komplexes System, zu dem zwei »Seiten« gehören: a) die Nahrung selbst = körperfremde Substanzen der Außenwelt und b) der menschliche Organismus, der diese Biomoleküle zur Existenzsicherung benötigt. Eine Veränderung natürlich gegebener Nahrung ist nur dann sinnvoll, wenn dadurch Vorteile für den Organismus entstehen, sich u. a. die (qualitative und quantitative) Verfügbarkeit der Inhaltstoffe verbessert
73 Eine andere Begründung kann es nicht geben, da sich sonst Garverfahren niemals hätten durchsetzen können
74 Bildlich ausgedrückt ist der Mensch ein auf zwei Beinen wandelndes »Nährstoffdepot«. Eine evolutionäre Anpassung auf Mangelphasen, denen Frühmenschen (besonders aufgrund jahreszeitlicher Bedingungen) wiederholt ausgesetzt waren (REA, P. A. et al. 2015); (BEHRINGER 2010). Wasser und Glukose speichert der Organismus nur minimal. Ohne Wasser kann er sich und seine Kinder nicht durchbringen – Glucose kann er jedoch aus Proteinen und Glycerin der Jagdbeute metabolisch erzeugen (Aspekt der physiologischen Ketose). In den meisten Erdregionen kommen Wasser und Stärke (Glucose) genügend vor – ihr Auffinden wird »vorausgesetzt« – und deshalb müssen diese Komponenten auch nicht gespeichert werden
75 Im Gegensatz zu Versuchstieren sind Menschen keineswegs bereit, sich tagelang das gleiche, 'nährstoffkontrollierte' Essen verabreichen zu lassen, insbesondere, wenn dieses nicht bedarfsdeckend ist. Sie entwickeln Widerwillen
3 Der lange Weg zum Kochhandwerk
Unvorstellbar große Zeiträume liegen zwischen den allerersten Steinbearbeitungen (Chopper) (HOFFMANN 2014)76 der Vor- und Frühmenschen und den handwerklichen Fähigkeiten von Homo sapiens, der vor etwa 44 000 Jahren als moderner afrikanischer Mensch nach Europa und Ostasien einwanderte und vor etwa 12 000 Jahren seine nomadisierende Jäger- und Sammler-Lebensweise aufgab (WONG 2015). Er begann Tiere zu domestizieren, Pflanzen zu züchten, Stallungen und einfache Häuser zu errichten, Felder zu bestellen und zu bewässern. Homo erectus, der zuvor etwa eine Million Jahre überwiegend vom Jagen und Sammeln lebte (LEAKEY 1980),77 wurde sesshaft und legte damit den Grundstein dessen, was wir Kultur nennen (KYTZLER; REDEMUND 1995).78
Hintergrundinformationen
Die oben skizzierte Entwicklung fällt in die Phase der Klimaänderung am Ende der Eiszeit vor etwa 10 000 v. Chr.,79 dem Holozän (griech. hólos »ganz, gänzlich«, kainós »neu«) – die nacheiszeitliche Warmzeit bis heute. Es ist der Beginn der Jungsteinzeit (Neolithikum) und der Anfang der sog. »neolithischen Revolution«, in der erstmals Weizen, Gerste, Einkorn, Emmer, Dinkel und u. a. Schafe, Ziegen und Rinder domestiziert wurden. Die Entwicklung der Landwirtschaft vollzog sich im Gebiet des Fruchtbaren Halbmonds. Klimatisch ist das ein Winterregengebiet, das sich vom Persischen Golf, dem heutigen Irak, über Syrien bis nach Israel erstreckt.80 In mythologischen Erzählungen (biblischer Urquellen) wird besonders diese Region (Mesopotamien) erwähnt und als »Garten Eden« (ein landwirtschaftliches Paradies) verortet (CLINE 2016).
Um von einer nomadisierenden Lebensweise zur bäuerlichen Existenzwirtschaft zu wechseln, sind nicht nur Wissen über ertragreiche Pflanzen und Tierhaltung, Bodenbeschaffenheit, jahreszeitabhängiges Einsäen und Ernten, Lagerhaltung