Günther Henzel

Geschmackssache oder Warum wir kochen


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oder Schmuck (sog. dinglichen Erzeugnissen) der Nachwelt erhalten geblieben, die wir archäologisch zu- und einordnen können (BEHRINGER 2010). Dieser Forschungszweig füllt inzwischen Bibliotheken. Allerdings fehlen in den Auswertungen archäologischer Fundstellen durchgängig Belege oder Hinweise auf einen Wandel des prozeduralen Fortschritts auch in der Nahrungszubereitung. Es werden grundsätzlich nur Rohstoffe genannt (ggf. die Art ihrer thermischen Bearbeitung und benutzte Holzarten) (a. a. O., S. 164 f.), die an den untersuchten Stellen gefunden wurden. Angaben jüngeren Datums (Neolithikum 5000–2000 v. Chr.) erwähnen zwar die »gezielte Produktion von Nahrungsmitteln, mit entsprechend verbesserten Techniken der Nahrungszubereitung« (BEHRINGER 2010; S. 59), doch was mit verbesserter Zubereitung gemeint ist, bleibt offen. Grund: Zubereitungen sind nicht konservierbare Prozesse. Spezielle Verfahren, technische Finessen, die es vermutlich in Ansätzen auch schon in prähistorischen Zeiten gab und deren Produkte dem archaischen Homo sapiens besonders mundeten, lassen sich weder belegen noch rekonstruieren – schon gar nicht, wenn es dabei um aromatische oder gesundheitliche Aspekte geht.

      Trotz dieser Nachweisprobleme in Sachen Zubereitung müssen regionaltypische Verfahrenstechniken, z. B. Lufttrocknung, Salzlagerung, Räuchern, 'Sauer einlegen' (= 'Fermentieren'), Rohstoffkombinationen und die Verwendung von Kräutern und Gewürzen, Ernährungsvorteile gebracht haben. Weshalb sonst hätten sich diese Verfahren bis in die Gegenwart hinein bewahrt? Da das Nahrungsangebot je nach Klima und Jahreszeit variierte, sich dessen Nutzungsmöglichkeit durch Zubereitungstechniken erweiterte, wuchs insbesondere das Wissen über jene Verfahren, mit denen die Genusswerte und Ernährungswerte verbessert werden konnten. Nur diese Techniken haben sich durchgesetzt und wurden an die nächste Generation weitergegeben. Daraus erwuchs eine Handwerkskunst, die es vermochte, aus roh ungenießbaren oder schwer verdaulichen Rohstoffen schmackhaftes und nahrhaftes Essen zu machen.

      Weshalb und wie der Mensch diese Verfahren überhaupt erfinden und schrittweise weiterentwickeln konnte, bleibt vermutlich für immer eine unbeschriebene Seite im Buch der Kochkunstentstehung. Schließlich gab es für die Anfänge, die allerersten Schritte dieser Verfahren, weder »Vorbilder« noch »Wissende«, die die ‚richtigen‘ Handhabungen (schon) kannten oder zeigen konnten. Die Möglichkeit, den ‚Geschmack‘ der Rohstoffe zu verändern, musste erst einmal ‚erkannt‘ werden, bevor sie zur regelhaften (kenntnisbasierten) Zubereitungstechnik werden konnte. Nur wie? Meine Hypothese: Die Nahrungsbearbeitung, das gezielte Verändern von Rohstoffen, hat sich aus der aufmerksamen (der ‚merkenden‘) Beobachtung der Lebenswirklichkeit entwickelt: den wiederkehrenden Wirkungen von Wasser, Sonne und Lagereffekten auf Rohstoffe, dem Erkennen ihrer physikalischen Eigenschaften und Wandelbarkeit.

      Diese Arbeitshypothese unterstellt, dass der frühe Mensch nicht nur die Handlungen seiner Artgenossen nachahmte, sondern eben auch das, was ihm die Natur ‚vormachte‘. Demnach war es die Natur selbst, gaben natürliche Ereignisse die »Lehrstunden« für die gezielten Aktivitäten der Hominini im Umgang mit Rohstoffen. Einmal erworbene Verfahrenstechniken wurden durch dauerndes Üben perfektioniert und durch Vormachen (Zeigen) an die nächste Generation weitergegeben. Die Weitergabe von Können (und Wissen) – das Voneinanderlernen – ist »das eigentlich definierende Kennzeichen von menschlicher Kultur«, das den Menschen weit von anderen Primaten abhebt (STOUT 2016).

      Die Anfänge der Gartechniken werden mit Feuer und Heißstein-Gartechniken (auch in Erdmulden) (BEHRINGER 2010; S.60) in Verbindung gebracht. Entwicklungsgeschichtlich sind diese aber bereits »vollendete Tatsachen«, sie existieren und werden angewendet. Gleiches gilt für die an vielen Orten der Welt Jahrtausende lang praktizierte Gruben-Gartechnik (HARRER 1988).81 Zwischen diesen belegten Verfahrenstechniken und jenen unserer ältesten afrikanischen Vorfahren liegen grob eine Million Jahre »Entwicklung« im Dunkeln. Denkbar ist, dass es zwischen den ersten »Feuergar-Experimenten« von Homo erectus und den Gartechniken heutiger indigener Völker keine weiteren bedeutenden Entwicklungsschritte gegeben hatte. Warum? Wo Feuer (lange) brennt, werden Sand und Steine durch Wärmeleitung heiß und bleiben es auch für lange Zeit, selbst wenn das Feuer erloschen ist. Diese natürliche Wärmespeicherung bot Möglichkeiten, Rohstoffe auch ohne direkte Feuerwirkung zu garen, da sich die kinetische Energie (Wärme) direkt auf (stets wasserhaltige) Rohstoffe überträgt. Der dabei von selbst ablaufende ‚Garvorgang‘ stand im Verhältnis zur Dauer der Wirkung (ein Zeitfaktor). Im absichtsvollen Herbeiführen dieses thermischen Prozesses musste man sich lediglich in Geduld üben (Unterdrückung des Essverlangens) – nicht aber komplexe Fertigungstechniken beherrschen.82 Solche temperaturabhängigen »Lagereffekte« waren zufällig beobachtet worden, und weil diese »gegarten« Rohstoffe vermutlich sensorisch attraktiver waren als in ihrer natürlichen Beschaffenheit (warm, zart, ‚leckerbissenartig‘), wurde dieser Effekt erinnert und gezielt angewendet.

      Als Leckerbissen bezeichnen wir jene Rohstoffe, deren Genuss uns »das Wasser« im Mund zusammenlaufen lässt (der vorab sezernierte Speichelfluss) – eine vom vegetativen »Gedächtnis« des Menschen ausgelöste Reaktion auf Geschmackvolles = Gutes (LOGUE 1995), (POLLMER 2003). Auch Homo sapiens wird bei der Zubereitung zunehmend ein Gespür für ‚passende‘ Rohstoffkombinationen und vorteilhafte Aromaeffekte entwickelt haben.83 Dazu waren – neben Kompetenzen im Umgang mit Feuer und Glut (mit heißen Steinen, heißem Sand, heißer Asche, siedendem Wasser) – entsprechende Gerätschaften notwendig (z. B. hitzestabile Hohlgefäße). Spätestens mit Letzteren entwickelte sich »Kochen« zum eigenständigen Handwerk. Mit der Entwicklung von Haltbarkeits- und Konservierungstechniken konnten schließlich verderbliche Rohstoffe bevorratet werden und/oder wurden als Proviant transportabel.

      Dennoch: Die Frage nach dem Wie und Warum sich dieses »Zubereitungs-Handwerk« bei den Vorläufern des Menschen (den Hominini) entwickeln konnte, ist nicht wirklich beantwortet. Hier kann unsere o. g. Arbeitshypothese – das 'Lernen aus/von Naturphänomenen' – weiterhelfen. Dazu gehen wir gedanklich noch einmal weit in ihre steinzeitliche Lebensweise zurück und versuchen jene »Handlungsauslöser« zu finden, die Homo erectus zur Bearbeitung von Rohstoffen angeregt haben (könnte).

      3.1 Am Anfang war die Beobachtung

      Nahezu alle handwerklichen Fähigkeiten haben sich ursprünglich aus jeweils primitiveren Vorstufen entwickelt. Wie und weshalb nur die Vorläufer des modernen Menschen manuelle Techniken entwickeln haben, unsere nächsten Verwandten (Schimpansen) aber nicht, obwohl sie ebenfalls über Arme und Beine verfügen und zeitgleich lebten, beginnt man erst jetzt zu verstehen. Neuere bildgebende Verfahren (DTI-Aufnahmen),84 die verschiedene Gehirnbereiche von Mensch und Schimpansen sichtbar machen können, belegen, dass sich jene Areale zwischen Mensch und Schimpanse erkennbar unterscheiden, die bei handwerklicher Tätigkeit aktiv sind: Die Nervenstränge sind beim Menschen stärker ausgeprägt,85 insbesondere jene, die hin zur rechten unteren Stirnwindung verlaufen, die auch für die Impulskontrolle zuständig sind (STOUT 2016). Offenbar hat die nachweislich rasante Gehirnentwicklung den Menschen zum »Handwerker« (Homo ergaster) und schließlich zum »Homo sapiens artifex« (dem künstlerischen Mensch) werden lassen – aber auch der umgekehrte Fall wird diskutiert. »Was von beiden Ursache und was Folge war, erzählen die Fossilien nicht« (STOUT 2016).

      Die Gehirngröße allein aber erklärt noch nicht »von selbst« das Motiv, Steinwerkzeuge, scharfe Klingen, Waffen und schließlich Artefakte aller Art herzustellen. Im Kern geht es um die Beantwortung der Frage, was den Produktionswillen, den Handlungseifer angestoßen hat, gestaltend auf Gegenstände oder Nahrungsobjekte einzuwirken (auch mittels Feuer). Dieses zielstrebige Verfolgen eines handwerklichen Produktes kennen andere Primaten nicht einmal ansatzweise. Bezogen auf unsere Thematik stellt sich die Frage, wie aus einfachen Bearbeitungsschritten (die viele Primatenspezies kennen und täglich anwenden) komplexe Techniken der Zubereitung entstehen konnten. Versuch einer Antwort:

      3.2 Von der Beobachtung zur Handlung

      Die ersten einfachen (und kognitiv anspruchslosen) Handlungen haben sich vermutlich durch die Nachahmung eines natürlichen (mechanischen) Vorgangs entwickelt, der zufällig beobachtet worden war und Aufmerksamkeit erzeugte. Das kann das Bestaunen des eigenen