Werner Stilz

Darum in die Ferne schweifen


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fällt es zusehends schwerer, ihre Bewegungen zu steuern, die Kontrolle über die Muskulatur geht verloren. Warum die Nervenzellen absterben, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Die Symptome sind klar erkennbar: Betroffene bewegen sich zunehmend langsamer. Es fällt ihnen immer schwerer, eine Bewegung zu beginnen. Außerdem werden die Muskelbewegungen kleiner. Die Arme schwingen weniger mit, die Schritte werden kürzer. Die Schrift wird kleiner und unleserlicher, die Stimme leiser und undeutlicher. Mit der Zeit wird schließlich das Gesicht immer ausdrucksloser. Man redet vom Botox-Gesicht.

      Weitere Symptome treten hinzu: Schlafstörungen, schwindender Geruchssinn, Veränderung von Körperfunktionen wie Blutdruck, Blasen- und Darmtätigkeit, Schluckbeschwerden, Schwindel oder gestörte sexuelle Funktionen. Auch Vergesslichkeit und Erinnerungslücken sind oftmals auf Morbus Parkinson zurückzuführen.

      Diese einfache und laienhafte Beschreibung umfasst natürlich nicht die ganze Vielfalt der Symptome und möglicher Krankheitsverläufe. Auch scheint es bei jedem Patienten andere Schwerpunkte zu geben. Nur eines ist sicher: eine Heilung gibt es bis heute nicht.

       In der Parkinson-Klinik, Mai 2018

      Bald nachdem die Diagnose feststeht, melde ich mich bei der Deutschen Parkinson Vereinigung e.V. als Mitglied an. Von dort erhalte ich eine Liste der Parkinson-Kliniken in Deutschland. Schließlich erteilte mir die Parkinson-Klinik Wolfach die Zusage für einen zweiwöchigen Aufenthalt.

      Ich möchte schnellstmöglich wissen, wie es um mich steht. Ausführliche Untersuchungen und Gespräche mit den Ärzten sollen mir helfen, mehr über mein Krankheitsbild zu erfahren. Vielleicht können die angebotenen Therapien sogar eine Verbesserung herbeiführen? Vor allem aber erwarte ich mir eine psychologische Betreuung, um über meine depressive Phase hinwegzukommen. Auf die Gespräche mit anderen Betroffenen bin ich gespannt. Ich erhoffe mir ganz praktische Hilfe, wie ich mit Morbus Parkinson umgehen muss.

      Anfang Mai 2018 fahre ich mit meiner Frau Margret nach Wolfach. Die Klinik liegt idyllisch am Hang mit einem schönen Garten, wo gerade die Rhododendren blühen. Die Aufnahme in meinem Zimmer erfolgt durch den Stationspfleger Arno, ein freundlicher Einheimischer mit alemannischem Dialekt. Er notiert genau, zu welchen Zeiten ich welche Medikamente einnehme.

      Nachdem sich Margret verabschiedet hat, schaue ich mich im Haus um. Außer Speisesaal und den Therapieräumen entdecke ich einen Fernsehraum und eine Bibliothek, die aber auf den ersten Blick nur verstaubte Bücher zu bieten hat, Mario Simmel, Agatha Christie und andere. Nach viel Abwechslung sieht das nicht gerade aus. Eine gewisse Tristesse schleicht sich bei mir ein. Für einen Spaziergang ist es zu spät, da der Ortskern in einiger Entfernung liegt. Außerdem ist es draußen nass und kalt. Ich bin müde und lege mich gleich in mein Krankenhausbett.

      Das erste Abendessen. Es wird mir ein Tisch zugewiesen, an dem schon drei Männer sitzen. Der Jüngste, Herr Engel, etwa 45 Jahre alt, zittert stark mit der rechten Hand. Er kommt aus Nöttingen, ein Ort ganz in meiner Nähe. Mit ihm unterhalte ich mich über den FC Nöttingen, der in der letzten Saison noch in der hochklassigen Fußball-Regionalliga spielte, jetzt aber in die Oberliga abgestiegen ist.

      Herr Dr. Schubert sitzt mir gegenüber. Seine Haltung ist stark gebückt. Zum Gehen benötigt er einen Rollator. Er erzählt, dass er bereits öfter gestürzt ist. Das verraten auch seine Narben im Gesicht. Er ist mir sympathisch, nicht zuletzt, weil er als Einziger offen über seine Probleme redet. Wir sind beide Jahrgang 1943. Allerdings muss ich mich anstrengen, ihn zu verstehen, weil er sehr leise spricht. Der dritte Tischnachbar, Herr Braun, an dem ich den bekannten »Schüttelkopf« bemerke, ist ebenfalls kaum zu verstehen. Aber er verhält sich meist still. Innerlich stelle ich fest: Mit meiner Schwerhörigkeit werde ich Probleme haben, ordentliche Unterhaltungen zu führen.

      Nach dem Essen verabschieden sich alle sehr schnell. Obwohl wir unter der gleichen Krankheit leiden, werden wir uns in den nächsten zwei Wochen nicht wirklich näherkommen. Wir sind Fremde, die etwas gemein haben: den Verfall des eigenen Körpers. Meist reden wir über Belangloses. Das Wichtigste, unsere Krankheit, klammern wir lieber aus.

      Als ich nach meinem ersten Abendessen in der Klinik in mein Zimmer zurückkehre, liegt dort der Patienten-Tagesplan für die nächsten Tage. Morgen, am Samstag, stehen ein Vortrag über Pflegeversicherung und Gruppengymnastik mit Bällen auf dem Programm. Ansonsten tut sich am Wochenende wenig.

      Ein normaler Patienten-Tagesplan sieht dann ungefähr so aus:

      7: 00 Uhr bis 7: 25 Uhr: Schellong-Blutdruckmessung

      Zwischen 10: 00 Uhr und 10: 35 Uhr: Visite, in aller Regel durch den Oberarzt und drei Assistenzärzte; sie kommen ins Zimmer, schauen mich an, kontrollieren die Handgelenke, lassen mich ein paar Schritte gehen und fragen nach meinem Befinden. Dann unterhalten sie sich untereinander und machen Notizen in der Patienten-Kladde. Ohne weitere Erklärungen rauschen sie wieder aus dem Zimmer.

      10: 40 Uhr bis 11: 05 Uhr: Ergotherapie, unter anderem Übungen mit meiner linken, schwachen Hand. Kneten ist angesagt. Das ist ganz schön anstrengend.

      12: 30 Uhr bis 12: 55 Uhr: Feinmotorik-Gruppe, in der wir kleine Bälle rollen oder große Streichhölzer sortieren.

      13: 00 Uhr bis 13: 25 Uhr: Gruppengymnastik.

      15: 00 Uhr bis 15: 25 Uhr: Sprachtherapie in der Gruppe.

      Sprachtherapie und Gymnastik werden auch für einzelne Patienten angeboten.

      Während meines Aufenthalts in der Klinik führe ich auf persönlichen Wunsch ein Gespräch mit einem Psychiater zur Krankheitsbewältigung. Dabei erwähne ich auch meine depressiven Phasen. Mein freundliches Gegenüber hört mir aufmerksam zu und macht sich Notizen. Konkrete Vorschläge hat er nicht für mich.

      Hilfreicher ist ein Gespräch mit der Sozialarbeiterin. Sie erklärt mir, wie man beispielsweise einen Schwerbehindertenausweis oder – was bei mir hoffentlich noch lange nicht eintritt – Pflegestufen beantragt.

      Mein Blutdruck variiert stark: Am Morgen sehr niedrig (bis 90 SYS abfallend), am Abend sehr hoch (bis 165 ansteigend). Zur besseren Kontrolle erhalte ich ein 24-Stunden-Messgeerät, das mir um den Hals gehängt wird. Das automatische Aufpumpen am Oberarm ist lästig. An Schlaf ist nicht mehr zu denken.

      Mein Medikamentenplan vergrößert sich enorm. Vor meinem Klinikaufenthalt nahm ich drei verschiedene Parkinsontabletten, eine halbe Schilddrüsen-Tablette, eine Blutdruck- und eine Prostata-Tablette gegen den Harndrang ein. Jetzt sind es insgesamt neun Tabletten, die ich zu sechs verschiedenen Uhrzeiten nehmen muss. Die erste um 6: 30 Uhr (Schilddrüse), die letzte um 22 Uhr (Levodopa 100/25 Retard). Was mich besonders verwundert: Schon am zweiten Tag meiner Anwesenheit in der Klinik haben die Ärzte die Zahl der Parkinson-Medikamente verdoppelt. Konnten die so schnell wissen, was bei mir zu ändern war?

      Nur einmal in den zwei Wochen meines Aufenthalts lässt sich der Chefarzt bei einer Visite sehen. Auch er beantwortet meine Fragen ausweichend und ist rasch wieder aus dem Zimmer. Andererseits: Im Gespräch mit einem anderen Patienten, bei dem sich nebenbei herausstellt, dass wir Kunden seiner Rollladenfirma in Ettlingen sind, wird der Chefarzt sehr gelobt. Dieser Patient kommt jährlich mindestens einmal in die Klinik, um sich vom Chef persönlich behandeln zu lassen, mit offensichtlichem Erfolg. Ihm sieht man seine Krankheit nicht an.

      Glücklicherweise gibt es auch erquickende Momente. Wie sich herausstellt, spielt Herr Schubert gerne Schach. Schon haben wir eine gute Abendunterhaltung. Allerdings hält er seinen Kopf so weit unten und überlegt so lange, dass ich manchmal denke, er ist jetzt eingeschlafen. Wir sind ungefähr gleich stark (oder eher gleich schwach), so dass uns das Schachspiel Spaß macht.

      Dreimal besuche ich das Städtchen Wolfach. Die Kinzig fließt mitten durch den Ort und prägt das idyllische Stadtbild. An einem Sonntag fahre ich mit der Bahn in die Nachbarstadt. Dort, so habe ich gelesen, befindet sich eine große Modell-Eisenbahn-Ausstellung. Der Ausflug lohnt sich. Eine Strecke der Schwarzwaldbahn ist naturgetreu nachgebildet. Ich kann mich kaum sattsehen.

      Als mich meine Frau am Schluss der Kur abholt, bin ich erleichtert. Ich habe weniger neue Erkenntnisse gewonnen, als ich mir erhofft hatte.

       Die