Werner Stilz

Darum in die Ferne schweifen


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Mensch und gegenüber seinen Kindern oft ein brutaler Vater. Friedrich, der älteste Sohn, ließ es sich nicht sehr lange gefallen und verließ schon in jungen Jahren das Elternhaus, was den Vater erst recht in Rage brachte. Friedrich kam bei der Stuttgarter Straßenbahngesellschaft unter, erst als Hilfsarbeiter, später als Straßenbahnfahrer, und wurde schließlich verbeamtet.

      Mina, die älteste Tochter, verschlug es schon bald nach Amerika, wo sie bei entfernten Verwandten in Brooklyn, New York, eine Stelle als Hausmädchen bekam. Sie heiratete Christian Kies, der wie sein Schwiegervater aus Schnait stammte. Aus ihnen wurden gute Amerikaner. Ihre drei Kinder erhielten typisch amerikanische Vornamen: Warren, William und Martha.

      Die Zwillinge Ottilie und Martha versuchten ebenfalls ihr Glück in Amerika, angezogen von der älteren Schwester. Doch beide kehrten später nach Schorndorf zurück, heirateten und gründeten ihre eigenen Familien. Die vierte Tochter, Anna, blieb am längsten bei den Eltern im Bauernhaus. Sie war für alle Arbeiten zu gebrauchen. Später hatte sie das Glück, einen »feschen Nationalsozialisten« zu ehelichen. Als Leiter der örtlichen Molkerei war er während des Krieges unabkömmlich und durfte bei seiner Familie bleiben. Sein ältester Sohn, Karl, hatte das zwiespältige Vergnügen, bis zum Zusammenbruch des »Tausendjährigen Reiches« in die Nationalpolitische Lehranstalt, kurz Napola, geschickt zu werden, die Eliteschule für künftige Nazigrößen.

      Mein Vater Robert war das zweitjüngste Kind in der Familie. Seine schulischen Leistungen waren schlecht, was jedoch auch dem Umstand geschuldet war, dass er von seinem Vater von Anfang an als billige Arbeitskraft missbraucht wurde. Wenn er von der Schule kam, gab es nach dem Mittagessen sofort Arbeit für ihn im Weinberg, im Viehstall oder auf dem Acker. Am späten Abend war es für Hausaufgaben zu spät. Völlig übermüdet, schlief er häufig darüber ein. Nach der Schulzeit verwehrte sein Vater ihm die Möglichkeit, eine Lehre anzutreten. Als Knecht war er für ihn nützlicher. Später erzählte mein Vater häufig, wie er seinen Vater eines Tages um eine Entlohnung gebeten hatte, worauf dieser barsch erwidert hatte: »Du hast dir noch nicht mal deine Windeln verdient!«

      Diese Demütigung vergaß mein Vater sein Leben lang nicht. Um zu etwas Geld zu kommen, verdingte sich Robert neben der Arbeit bei seinem Vater als Jugendlicher und junger Mann als Hilfsarbeiter auf dem Bau. Auch beim Kiesbaggern im Flüsschen Rems, das am elterlichen Haus vorbeifloss, konnte er etwas verdienen.

      Der jüngste Sohn, Paul, war ein richtiger »Rackerer«, wie man auf Schwäbisch sagt: Er konnte nicht genug von der Arbeit bekommen und war deswegen der Liebling seines Vaters. Aus diesem Grund sollte er den Hof erben. Dazu kam es aber nicht. Paul blieb auf dem Schlachtfeld des schrecklichen Krieges.

       Robert trifft auf Rösle

      Mein Vater hatte sich inzwischen so weit emanzipiert, dass er eine Anstellung als Weingärtner bei den Ziegelwerken fand und so den Grundstein für eine spätere Familie legen konnte.

      Es war um das Jahr 1929, er war 24, als er bei einem Erntedankfest erstmals auf Rösle traf, die als Dienstmädchen in einem Geschäftshaushalt in Schorndorf tätig war. Mit vollem Namen hieß sie Karoline Rosine Häberlein. Zwischen den beiden knüpften sich zarte Bande. Rösle war eine hübsche, etwas untersetzte Person. Auch mein Vater Robert sieht auf Bildern dieser Zeit richtig fesch aus.

      1904 als uneheliches Kind geboren, war meine Mutter in Wallhausen aufgewachsen, einem kleinen Bauerndorf in der Hohenlohe, einer landwirtschaftlich geprägten Gegend im nordöstlichen Teil von Württemberg. Das raue Klima ließ nur geringe Erträge zu. Meine Mutter lebte bei ihren Großeltern, die zwar bettelarm waren, ihr Enkelkind aber über alles liebten. Zu ihrer leiblichen Mutter, die das Dorf verließ und auswärts als Magd arbeitete, hatte sie als Kind kaum Kontakt.

      Ihr Großvater war ein Bauer mit nur einer Kuh im Stall. Doch irgendwie kamen sie über die Runden. Später erwähnte Rösle immer wieder, dass sie eine glückliche Kindheit hatte. Jährlicher Höhepunkt, von dem sie mir stets mit einem Leuchten in den Augen erzählte, war der Besuch auf der Muswiese. Einmal im Jahr fanden in der kleinen Ortschaft Musdorf eine Kirmes und ein Krämermarkt statt, auf dem sich das Landvolk mit Dingen des täglichen Bedarfs eindeckte. Ihr Großvater nahm sie auf den vier Kilometer langen Fußmarsch mit und spendierte ihr eine rote Wurst – welch ein Genuss. (Die Muswiese gibt es übrigens noch heute. Inzwischen wuchs sie zum größten Volksfest der Region Hohenlohe mit vielen Fahrgeschäften, Krämermarkt und einer großen Landmaschinen-Ausstellung.)

      In der Dorfschule war Rösle eine der Besten. Ich bewunderte später immer ihre wunderschöne Handschrift, ohne Makel und Schreibfehler. Mit 13 Jahren endete ihre Schulzeit. Sie kam zu einer Cousine nach Göppingen, einer riesigen Stadt im Vergleich zu ihrem Heimatdorf. Die Cousine verhalf ihr zu einer Stelle als Dienstmädchen. Als sie älter wurde, verdingte sie sich auch in Geschäftshaushalten in Stuttgart und Mannheim, bevor sie schließlich nach Schorndorf kam und ihren Robert kennenlernte.

      Die Hochzeitsfeier fand am 24. Oktober 1930 im Bahnhotel Goldenes Lamm statt. Aus alten Unterlagen lässt sich entnehmen, dass die Hochzeitsgesellschaft 27 Leute umfasste, die 23 Liter Wein konsumierten. Das Festmenü kostete 3,80 Mark pro Person. Es gab noch 24 Nachtessen zu je 0,80 Mark, die Gesamtrechnung betrug 141,40 Mark. Die Braut vermerkte auf der Rechnung: »Vater Gottlob Stilz bezahlt 60 Mark.«

      Auch die Rechnung für die Möbel des Brautpaars liegt noch vor. Die Möbelwerkstätte Gottlieb Rau in Schorndorf fertigte das komplette Schlafzimmer für 600 Mark, das Wohnzimmer-Buffet für 260 Mark, den Auszugstisch für 90 Mark, vier gepolsterte Stühle für 56 Mark, dazu noch einige weitere Möbelstücke. Die Rechnung belief sich auf 1.110 Mark.

      Weil Rösle etwas klein geraten war, versuchte der Fotograf, das Manko durch ein kleines Podest auszugleichen, das er unter den Teppich im Fotostudio schob. Dummerweise kann der Betrachter des offiziellen Hochzeitsfotos diesen Trick leicht erkennen. Der gegenseitigen Zuneigung von Braut und Bräutigam tat dies sicherlich keinen Abbruch.

      Nach ihrer Hochzeit bezogen Robert und Rösle eine kleine Mietwohnung. Am 1. August 1931 kam mein Bruder Rolf zur Welt. Zwei Jahre später vergrößerte Heinz die Familie.

      Robert arbeitete zunächst als Hilfsarbeiter auf dem Bau. Ein paar Jahre später heuerte er bei den Ziegelwerken Arnold & Groß GmbH an. Der Verdienst war allerdings gering und reichte für die vierköpfige Familie gerade so. Mein Vater erzählte oft, dass er zu Mittag im Weinberg zum Vesperbrot öfter mal »vergessen hat, die Wurst mitzunehmen«. In dieser Hinsicht hatten es die Knechte der Ziegelei besser. Sie bekamen ihr Essen von der Firma gestellt.

      Schon bald nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im September 1939 wurde mein Vater eingezogen. Er war als Gefreiter in Norwegen, wo die deutschen Soldaten bekanntlich die Bevölkerung ziemlich schlecht behandelten. Einzelheiten darüber habe ich später von ihm nie erfahren. Es war sozusagen ein Tabuthema für ihn. Da er schlecht lesen und schreiben konnte, schaffte er es nur bis zum Obergefreiten der Wehrmacht. Im Januar 1943 hatte mein Vater Heimaturlaub, und so geschah es, dass ich neun Monate später, im Oktober, zur Welt kam.

       Die Nachkriegsjahre

      Großvater Gottlob starb im Jahr 1946 an Kehlkopfkrebs. Ich habe keine eigene Erinnerung an ihn, doch es gab ein Foto, auf dem ich als Zweijähriger auf seinem Schoß sitze. Er hatte einen prächtigen Schnauzer.

      Nach seinem Tod begann das Gezerre um das Erbe. Paul, der jüngste Sohn, der den Hof übernehmen sollte, war im Krieg gefallen. Friedrich hatte sich schon längst anders entschieden. Damit blieb nur noch mein Vater Robert übrig. Da er keinen anderen Beruf erlernen hatte dürfen, hätte er den Hof vermutlich gern übernommen – allein, es fehlte das Geld, um die Geschwister auszuzahlen. So wurde das Erbe nach schwäbischer Sitte aufgeteilt. Mein Vater erhielt das Haus, die anderen Geschwister teilten den Grundbesitz – Äcker, Wiesen und Weinberg – unter sich auf. Doch wie es in schwäbischen Familien eher die Regel als die Ausnahme ist, kam es zu heftigem Streit um das Erbe. Von den Einzelheiten dieser unerquicklichen, jahrelangen Auseinandersetzung, die sogar gerichtlich ausgetragen wurde und viele Wunden aufgerissen hat, möchte ich den Leser gern verschonen.

      Bereits 1948 begann