Utensilien. Sogar für Federballschläger war noch Platz. In aller Herrgottsfrühe brachen wir von Schorndorf in Richtung Norden auf. Am ersten Tag schafften wir es bis nach Würzburg, eine gewaltige Strecke für uns und unsere Räder, die nur eine Dreigangschaltung hatten.
Am dritten Tag erreichten wir sehr spät die Stadt Kassel. In der Dunkelheit suchten wir nach einem Campingplatz. Wir fanden schließlich ein großes Gelände, auf dem schon viele Zelte standen. Uns fiel auf, dass es sich um keinen gewöhnlichen Zeltplatz handeln konnte. Doch das war uns egal. Am Rand schlugen wir rasch unser Zelt auf und gingen hundemüde schlafen. Am nächsten Morgen stellten wir erstaunt fest, dass alle Zelte weiß waren und in Reih und Glied dastanden. Wir waren in ein Zeltlager der Zeugen Jehovas geraten, die in Kassel ihr Jahrestreffen veranstalteten. Plakate klärten uns darüber auf. Einige böse Blicke verfolgten uns, als wir unser bescheidenes grünes Zelt abbauten und von dannen zogen. Zuvor nutzten wir aber in aller Ruhe die Annehmlichkeiten sauberer Toiletten und Duschen auf dem Gelände.
Auf der Weiterfahrt amüsierten wir uns köstlich über diesen Vorfall. Lothar und ich kamen gut voran, wenn auch zweimal ein Schlauch geflickt werden musste. Entlang der Weser erwies sich die Route als sehr erholsam und abwechslungsreich. Wir fuhren durch schöne Fachwerkstädtchen wie Hann. Münden oder Höxter. Außerdem war die Landschaft angenehm flach.
An der Ostsee angekommen, suchten wir nach einem schönen Platz für unser Zelt und fanden ihn beim Ort Hohwacht, östlich von Kiel. Aus betriebswirtschaftlichen Gründen, sprich Geldmangel, konnten wir es uns nicht leisten, die Gebühren für einen Campingplatz aufzubringen. Wir zelteten daher »wild« irgendwo im Gras zwischen den Dünen. Als Konsequenz mussten wir bei jedem starken Wind bangen, dass unser Zelt weggeblasen wurde. Im sandigen Untergrund fanden die Heringe keinen guten Halt. Für Hohwacht hatten wir uns entschieden, weil wir einen Abstecher nach Malente unternehmen wollten. In der berühmten Sportschule hatten sich unsere großen Fußballidole Fritz Walter, Helmut Rahn, Horst Eckel, Max Morlock und Co. auf die Fußball-Weltmeisterschaft 1954 vorbereitet, die bekanntlich mit dem »Wunder von Bern« endete.
Das Baden im Meer machte anfangs viel Spaß. Doch dann kamen plötzlich die Quallen. Wer sie zu spät bemerkte, wurde von ihnen ordentlich gestochen. Von jugendlicher Neugierde getrieben und beflügelt von unserer Fantasie, wollten wir auch einem nicht weit entfernten FKK-Badestrand einen Besuch abstatten, wurden aber am Eingang von einem älteren Aufpasser schroff zurückgewiesen.
Nach ein paar Tagen Ostsee radelten wir weiter nach Hamburg. Erster Anlaufpunkt für uns junge Burschen war die weitbekannte und viel besungene Reeperbahn in St. Pauli. Tief beeindruckt von den Leuchtreklamen, gleichzeitig aber ziemlich gehemmt, liefen wir dort auf und ab. Verschiedentlich wurden wir von Türstehern in bunten Uniformen aufgefordert, in ihr Etablissement einzutreten, weil hier die »geilste« Show in der ganzen Straße lief. Lothar und ich zierten uns, bis unsere Neugierde und die innere Anspannung obsiegte. In einer der Bars wurden Schaumbäder hübscher Damen dargeboten. Das klang reizvoll. Wir ließen uns vom Türsteher hineinführen und wurden nicht enttäuscht. Förmlich elektrifiziert blieben wir ziemlich lange. Die Flasche Pilsener Bier, die jeder von uns bestellte, musste lange halten. Sie kostete unverschämte fünf Mark.
Nachdem wir noch in der Herbertstraße die Damen in den Schaufenstern begutachtet und bewundert hatten, war unser Reeperbahn-Abenteuer beendet. Wir fühlten uns großartig und nun endlich als Experten in Sachen Sex.
Natürlich besichtigten wir auch den »Michel«, die Michaeliskirche, die Landungsbrücken sowie die Speicherstadt mit den alten Kaufmannskontoren und den Kanälen. So viel Interessantes sieht man nicht alle Tage.
Unser nächstes Ziel war Münster in Westfalen. In der Nähe lebten Lothars Verwandte auf einem stattlichen Bauernhof. Drei Tage übernachteten und erholten wir uns dort. In Duisburg beendeten wir unsere Radtour und stiegen um auf die Rheinschifffahrt mit einem Lastschiff, das Schrott geladen hatte. So tuckerten wir gemächlich gen Süden. Von Karlsruhe aus ging es dann radelnd vollends nach Hause.
Die Höhere Handelsschule
Meine Schulnoten wurden so schlecht, dass eine Nichtversetzung in die letzte Klasse der Mittelschule drohte. Ich schlug deshalb meinen Eltern vor, ein Jahr vor Abschluss der mittleren Reife auf die zweijährige Höhere Handelsschule zu wechseln, wo es keinen Chemie-, Physik- oder Sportunterricht zu ertragen gab. Der Unterricht bereitete mir dort mehr Spaß, meine Noten wurden etwas besser. In der neuen Schule mit gemischten Klassen führte ich mich gern als Klassenclown auf und störte den Unterricht. Wahrscheinlich wollte ich damit mein fehlendes Selbstbewusstsein und meine Schüchternheit gegenüber Mädchen übertünchen. Es gelang mir nur mangelhaft. Doch ich hatte dafür jetzt die Mittlere Reife in der Tasche.
Tanzkurs »Take it easy«
Meine Schüchternheit legte ich erst ab, als ich neunzehn war. In diesem Alter war es höchste Zeit, eine Tanzstunde zu besuchen, um endlich dem anderen Geschlecht etwas näher zu kommen. Die meisten Jungs, die sich zum Tanzkurs angemeldet hatten, kannte ich mehr oder weniger. Ganz anders die jungen Damen. Umso aufgeregter war ich. Wie würden sich die Dinge entwickeln? Welche Pärchen würden sich finden? Ich empfand die Atmosphäre als prickelnd.
Wie üblich fand der Tanzunterricht in einem großen Saal statt, in unserem Fall war es der Festsaal der Schlachthausgaststätte. Männlein und Weiblein saßen weit voneinander entfernt an den Seitenwänden. Sobald von der Tanzlehrerin ein Pfiff kam, rasten die Jungs auf die andere Seite, um möglichst als erster bei der Auserkorenen anzukommen. Nach und nach fanden sich die Tanzpaare.
In dieser Zeit war es üblich, den Tanzkursen einen Namen zu geben. Wir nannten uns »Take it easy«. Mit Margret, die eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin machte, verstand ich mich von Anfang an recht gut. Ich musste sie nicht groß bitten, dass sie mit mir den Abschlussball macht. Sie hatte mich ebenfalls gewählt. Am liebsten tanzten wir Wiener Walzer, doch auch neumodische Tänze wie Boogie oder Rock’n’Roll fanden wir schick. Zwischenzeitlich war ich zum »Take it easy« -Präsidenten gewählt worden. Zu meinem Amt gehörte es, beim Abschlussball, zu dem auch die Eltern eingeladen waren, eine Rede zu halten. Es war meine erste Rede überhaupt! Und dann noch mit Mikrofon! Mit schlotternden Knien unter meiner neu erworbenen Anzugshose hielt ich eine eher kurze Ansprache. Da ich meinen Blick meist auf meine Margret gerichtet hielt, verging die anfängliche Aufregung schnell. Dann übereichte ich unserer Tanzlehrerin, Ruth Sauber, für ihre Mühe und Ausdauer einen reichlich bestückten Geschenkkorb.
Als junge Helden versuchten wir, so oft sich Gelegenheit bot, der Damenwelt zu imponieren. Einer von uns besaß schon einen VW Käfer. Vollgepackt mit einigen Damen und Herren aus der Tanzstunde ging es samstags hinauf auf den Schurwald. Unglaublich, wie viele Leute in einen Käfer passen, wenn es sein muss! Dort gab es ein bekanntes Tanzcafé namens Schurwaldhöhe, wo wir uns austoben konnten. Die Musik kam aus der Jukebox, der Alkohol floss. Am begehrtesten war, zumindest für die Jungs, der Wodka Puschkin mit einer Kirsche obendrauf. Dass wir danach im Käfer immer heil den Berg herunterkamen, grenzt an ein Wunder.
Margret war meine erste, zarte und noch platonische Liebe. Doch überheblich, wie ich war, verdarb ich mir bald schon alles. Als »Präsident« verschickte ich einen Rundbrief an die Tanzschüler mit der Einladung zu einem Nachtreffen und einer Busfahrt ins mittelalterliche Rothenburg ob der Tauber. Ich wollte wohl besonders originell sein, indem ich zum Spaß schrieb: »Übrigens: Margret und ich müssen nicht heiraten!«
Dabei gab es außer flüchtigen Küsschen keine einzige intime Berührung. Wie dumm und eingebildet war ich! Den Brief bekamen auch ihre Eltern zu lesen. Dass Margret den Kontakt mit mir abbrach, war nahezu unvermeidlich. Dass ich aber nicht nachhakte, um sie für mich zurückzugewinnen, worauf sie vielleicht wartete – das war das Allerdümmste. Da kam ganz bestimmt mein Minderwertigkeitsproblem vermengt mit falschem Stolz durch.
Weil bei Tanzkursen regelmäßig Frauenüberschuss herrschte, nahm ich noch an zwei weiteren Kursen teil, ohne dafür bezahlen zu müssen. Ein Mädchen wie Margret fand ich leider nicht mehr. Margret und ich sind uns nie mehr begegnet.
(Übrigens: Die Frau, die ich 15 Jahre später heiratete, heißt zufällig auch Margret. Doch das ist eine andere Geschichte.)
Parkinson