den ganzen Tag mit den beiden im Wald, während die Pferde die Baumstämme auf den Wagen zogen. Das war eine mühsame Arbeit für die Kaltblüter, aber auch für den Bauern und seinen Knecht. Uns plagte derweil ein ziemlich schlechtes Gewissen, weil unsere Eltern nicht wussten, wo wir steckten. Ob sie sich um uns sorgten?
Wie unseren Eltern zumute war, als Rolf und ich den ganzen geschlagenen Tag nicht nach Hause kamen, ist leicht vorstellbar. Unsere Väter hatten bereits die Polizei gerufen. Sie stand kurz davor, eine Suchaktion zu beginnen. Als wir endlich auf dem Fuhrwerk den Bauernhof erreichten, war es schon längst dunkel. Die Schläge, die mir mein Vater auf das Hinterteil verabreichte, konnte ich nach Tagen noch spüren. Doch sie waren angebracht. Ich nahm mir vor, nie mehr so leichtsinnig zu sein und meine Eltern so zu ängstigen.
Ein Stück aufwärts der Rems war ein Wehr. Dort zweigte der Mühlbach zur Hahnschen Mühle ab, einer großen Getreidemühle in der Vorstadt. Das gestaute Wasser gefror im Winter zu einer dicken Eisschicht – ideal zum Schlittschuhlaufen. Jeder von uns Jungs hatte sich irgendwelche alten Schlittschuhe besorgt, die man unter die Winterstiefel klemmen konnte. Wir spielten Eishockey. Ein gerader Holzstock als Schläger und ein geeigneter Stein als Puck genügten uns völlig. Die Fähigkeit, auf Schlittschuhen zu laufen, waren bei den meisten sehr eingeschränkt. Doch wir hatten unseren Spaß.
Im März des Jahres 1957 ereignete sich eine absolute Sensation: Eine Schneeschmelze in Ostwürttemberg brachte so viel Wasser, dass unser kleines Flüsschen zu einem Riesenstrom anschwoll und über die Ufer trat. Alle Häuser in unserer Straße waren für ein paar Tage völlig von Wasser umgeben. Wir mussten sämtliche Hühner aus dem Stall auf den Boden des Hauses tragen. Plötzlich gab es sogar einen kleinen Kahn. Mein Vater, in hohen Gummistiefeln, setzte mich und die Nachbarkinder hinein und zog uns die Schlachthausstraße entlang bis zur Vorstadtstraße, die etwas höher lag und nicht überschwemmt war. Von dort gingen wir unseren üblichen Weg zu Fuß zur Schule. Von wegen schulfrei nur wegen eines Hochwassers!
Hochwasser auf der Rems, am 3. März 1957, vom Elternschlafzimmer aus fotografiert.
Daheim beobachtete ich vom Fenster aus, was für interessante Dinge die Rems hinunterschwammen. Holzteile von Schuppen und Ställen, Strohballen, sogar ein totes Schwein war darunter. Zum Glück blieben die Wohnungen vom Wasser verschont. Der völlig überflutete Gewölbekeller aber bot nach der Flut einen traurigen Anblick. Er war verwüstet. Große und kleinere Wein- und Mostfässer dümpelten dort herum. Als das Wasser langsam wieder zurückwich, hinterließ es eine riesige Schlammmasse. Es kostete meinen Vater viele Wochen harte Arbeit, um seinen Keller sauber zu bekommen. Ob Wein und Most nachher noch genießbar waren? Für uns Kinder war es das Ereignis des Jahrhunderts: Hochwasser in der Schlachthausstraße.
Meine Brüder sagen Adieu
Wenn ich im ersten Schuljahr Hilfe bei den Hausaufgaben benötigte, fragte ich meine Brüder. Ich kam gerade in die zweite Klasse, als mein großer Bruder uns verließ. Rolf wanderte im Jahr 1951 mit 20 Jahren nach Kanada aus. Heinz folgte ihm ein Jahr später.
Rolf und Heinz hatten zuvor beide eine Elektriker-Lehre absolviert, Rolf in Stuttgart bei der Firma Bauknecht, Heinz in einem Elektrogeschäft am Ort. Für Rolf war der Weg zur Arbeit beschwerlich. Er musste früh aufstehen, zum Bahnhof war es schon mal ein strammer Fußmarsch. Mit der Bahn ging es nach Bad Cannstatt. Von dort überquerten die Fahrgäste zu Fuß auf einem Steg den Neckar, um auf der Stuttgarter Seite in einen anderen Zug zu steigen. Die Eisenbahnbrücke war zum Ende des Kriegs gesprengt worden. Vom Hauptbahnhof ging es schließlich mit der Straßenbahn zu seiner Arbeitsstelle im Westen von Stuttgart. Samstags sollten meine Brüder unserem Vater zur Hand gehen. Bei diesen Gelegenheiten kam sein eigener strenger Vater Gottlob Stilz in ihm zum Vorschein!
Auch sonst hatten meine Brüder es zu Hause nicht leicht. Eines Tages hatte Rolf seine Freundin mit nach Hause gebracht, um sie den Eltern vorzustellen. Sie war sehr hübsch. Vater und Mutter waren jedoch unfreundlich zu ihr. Was war geschehen? Sie hatte Lippenstift aufgetragen und sich die Nägel rot lackiert. Das passte nicht in das konservative Weltbild der Eltern. Vor allem meine pietistisch angehauchte Mutter war schockiert. Das war einer der Gründe, dass Rolf von zu Hause weg und in Kanada sein Glück suchen wollte.
In der Mittelschule
Nach der vierten Klasse stand die Entscheidung an, ob ich auf eine weiterführende Schule gehen kann. Der Lehrer empfahl meinen Eltern, mich auf die Mittelschule zu schicken. Die dafür erforderliche Aufnahmeprüfung schaffte ich. Ich wurde aber kein besserer Schüler, im Gegenteil: Das neue Fach Englisch machte mir zu schaffen. Sport hasste ich. Auch mit Physik und Chemie tat ich mich schwer. Umso mehr bewunderte ich meinen Schulfreund Uli Schatz, der zu Hause gerne chemische und auch physikalische Experimente durchführte. (Er wurde später ein erfolgreicher Bauingenieur und Inhaber einer großen Bauträgerfirma. Nach ihm wurde vor einigen Jahren in seiner Heimatstadt ein Sportleistungszentrum benannt.)
Mutter und ich vor der Rückseite unseres Hauses, 1955
Eine Zeit lang spielte ich mit dem Gedanken, Lehrer zu werden. Als dies mein Vater bei einem Elternabend dem damaligen Klassenlehrer, der gleichzeitig Musiklehrer war, mitteilte, sagte dieser spontan: »Dann muss er aber ein Instrument lernen.«
»Was empfehlen Sie denn?«, fragte mein Vater.
»Entweder Klavier oder Geige«, meinte der Lehrer.
Die Entscheidung fiel meinen Eltern als sparsamen Schwaben nicht schwer. Und so kam es, dass ich mich zwei Jahre lang mit einer Violine im Einzelunterricht beim Geigenlehrer Gaiser herumplagte. Zu dieser Zeit gab es noch keine Musikschule in Schorndorf und auch kein Schulorchester. Geige solo zu spielen machte mir aber keinen Spaß, und damit endete die Musikerkarriere, noch bevor sie begonnen hatte. Nicht nur deshalb wurde es nichts mit dem Wunschberuf Lehrer. Ich hätte es nicht bis zum Abitur geschafft.
Einer der wenigen Höhepunkte der Mittelschule war der Schullandheim-Aufenthalt auf der Schwäbischen Alb im Herbst 1957. Auf dem »Vogelhof« verbrachten wir Schüler der Klasse 4a achtzehn unbeschwerte Tage in einer tollen Natur mit vielen schönen Ausflügen und Geländespielen, Nachtwanderungen und Lagerfeuer. Mit dem Bus ging es einmal bis zum Federsee in Oberschwaben und nach Zwiefalten mit seinem Kloster und der schönen Barockkirche.
In der Nacht zum 5. Oktober, meinem 14. Geburtstag, ereignete sich etwas ganz Außergewöhnliches: Ein von Menschen gemachter Himmelskörper, genannt Sputnik, kreiste um die Erde. Voller Hochachtung vor diesem technischen Wunder starrten wir in den Nachthimmel. Herr Joos, unser Klassenlehrer, versuchte uns zu erklären, wie das funktioniert, doch für mich, der in Physik über ein Ausreichend selten hinauskam, war das alles nicht zu begreifen. Wie war es möglich, dass dieser Satellit sich da oben halten konnte und sich gleichmäßig um die Erde drehte? Auf jeden Fall begann damit das Zeitalter der Raumfahrt. Im Wettlauf der politischen Systeme, der als »Kalter Krieg« die Menschheit über 40 Jahre in Atem hielt, verbuchte die Sowjetunion einen beachtlichen Etappensieg.
Wir interessierten uns aber nicht nur für das, was sich am Himmel ereignete. Es war auch eine Mädchenklasse im »Vogelhof« einquartiert. Einige Mutige versuchten, sich den Schlafräumen der Mädchen zu nähern. Doch mit 13 oder 14 Jahren war das alles nur Spielerei. Ich war nicht unter den Mutigen, ich gehörte zur Kategorie »Ängstlich« dem anderen Geschlecht gegenüber. Das sollte noch eine ganze Weile so bleiben.
Auf großer Fahrt
Es gab noch ein anderes »Highlight«. Ich muss wohl 16 gewesen sein, als ich mit meinen Klassenkameraden Lothar Nimmer und Richard Schneider den Beschluss fasste, während der Sommerferien eine Radtour an die Ostsee zu unternehmen. Zuvor allerdings verdienten wir uns das Reisegeld als Ferienarbeiter in einer Lederfabrik. In der Fabrikhalle, in der ich Rohleder durch eine Walze schieben musste, stank es gehörig. Außerdem war es dort sehr heiß. Doch der Lohn reichte für unsere geplante Fahrt. Kurz vor unserem Start verboten Richards Eltern ihrem Sohn leider, mitzukommen. Lothar und ich machten uns allein auf den Weg. Es ist