lang ging alles gut. Dann erlitt meine Mutter eines Nachts einen schweren Nervenzusammenbruch. Ich sehe sie heute noch vor mir, wie sie im Nachthemd im Flur stand und am ganzen Körper zitterte und schrie. Sie musste für längere Zeit ins Krankenhaus und kam später zur Rehabilitation in ein Elly-Heuss-Müttergenesungsheim. Der Arzt machte meinem Vater klar, dass er die Waschküche aufgeben muss, »wenn Sie es gut mit Ihrer Frau meinen «. So kam im Jahr 1954 das plötzliche Aus für Vaters Geschäft.
Die Schulzeit
Im Herbst 1950, kurz vor meinem siebten Geburtstag, wurde ich eingeschult. Da ich nie im Kindergarten gewesen war, kannte ich kein Kind in meiner Klasse und war ein Außenseiter. Meine Schüchternheit trug auch nicht dazu bei, rasch Freundschaften zu schließen.
September 1950: Ich werde eingeschult.
Wie damals üblich, waren wir eine reine Bubenklasse. Der Klassenlehrer, ein alter Mann mit finsterem Blick, wandte etwas sonderbare Erziehungsmethoden an. Er sprach uns nur mit Nachnamen an. »Stilz, steh auf, setz dich Müller!«
Bald gaben wir Jungs uns Spitznamen. Ich war passenderweise der »Rumpel«. Der Lehrer liebte es zudem, uns »Tatzen« zu verabreichen, also mit seinem Lehrerstab auf die flachen Hände zu schlagen. Auch Hiebe auf den Hosenboden waren nicht unüblich, wenn wir uns seiner Meinung nach nicht anständig benommen hatten. Ein besonderes Vergnügen schien es ihm zu bereiten, mit seinem Stab an unseren Oberschenkeln entlang zu streifen, wenn wir in kurzen Hosen auf unseren Schulbänken saßen. Das empfanden wir als ziemlich eklig, doch keiner der Schüler erzählte davon etwas zu Hause. Nach zwei Schuljahren war dieser Spuk zu Ende. Wir bekamen einen jungen Klassenlehrer.
An der Hauswand des Schulgebäudes postierten sich vor der großen Pause zwei Bäckerfrauen mit ihren Weidenkörben, in denen sie köstliche Leckereien feilboten. Ich bekam von den Eltern genügend Geld mit, um Brezeln (damals zu sieben Pfennig das Stück) oder »süße Stückchen« wie Schneckennudeln kaufen zu können. Auch süßer Kakao wurde angeboten. Gab es in der Wäscherei wieder einmal viel zu tun, erwartete mich zuhause nicht immer ein Mittagessen. Dann schickte mich Mutter zum Metzger Winter, um Wurst für den Mittagstisch zu besorgen.
Auch für die Kontrolle der Hausaufgaben war so gut wie keine Zeit. Ich lernte schnell, diesen Umstand reichlich auszunutzen. An meinen Zeugnissen war es abzulesen.
Spaß auf der Straße
Die Schlachthausstraße war nicht besonders lang. An ihrem unteren Ende, wo sie in die Vorstadtstraße mündete, befand sich der eindrucksvolle, aus Klinkersteinen gemauerte Schlachthof. Zu ihm gehörten eine Schlachthausgaststätte, ein Veranstaltungssaal im Obergeschoss und darüber einem Türmchen als Krönung. Im langgezogenen Nebenbau machte das Schlachtvieh aus der ganzen Umgebung die letzten Zuckungen. Jeden Montag färbte sich das Wasser der Rems, die hinter dem Schlachthof gemächlich dahinzog, rot vom Blut der Tiere, die geschlachtet worden waren. An den Wochenenden davor hörte man oft, wie die Tiere vor Hunger und Durst erbärmlich schrien. Kein Anwohner wäre auf die Idee gekommen, sich über derlei zu beschweren.
Oberhalb des Schlachthofs befand sich ein dreistöckiges Haus mit einem großen Garten. Das war die Jugendherberge. Manchmal nächtigten dort auch junge Menschen aus anderen Ländern. Einmal war es sogar eine Gruppe aus Ceylon, wie Sri Lanka damals noch genannt wurde, die den Kontakt mit den Einheimischen suchte. Da in unserer Straße die älteren Kinder über ein paar Brocken Englisch verfügten, kam ein munterer Dialog zustande. Günther, unser Klügster, war unser Sprecher und Übersetzer. Die Schüler besuchten Großbritannien, das »Mutterland« des britischen Commonwealth, dem Ceylon angehörte. Zur Abwechslung unternahmen sie jetzt einen Trip durch Europa. Sie zeigten uns Schwarzweiß-Fotos, auf denen sie in den schicken Uniformen der Oberschule zu sehen waren, in der sie auf Englisch unterrichtet wurden. Die Jungs trugen weiße Hemden, kurze, dunkelgraue Hosen und Kniestrümpfe (die in Wirklichkeit blau waren), die Mädchen entsprechend weiße Blusen und dunkle Röcke.
Besuch aus Ceylon. Günther links außen, ich vierter von links neben der Lehrerin, Nachbarskinder
Sie waren sehr freundlich und luden uns ein, sie in Ceylon zu besuchen. Dabei hatten die meisten von uns keine Ahnung, wo dieses Land überhaupt ist. Ihrer Hautfarbe nach mussten sie aus Afrika stammen, doch da widersprachen sie aufs Heftigste.
»Unser Land ist eine Insel und befindet sich im indischen Ozean, südlich von Indien«, klärten sie uns auf. So bekamen wir nebenbei einen interessanten Geographieunterricht. (Ich konnte nicht ahnen, dass ich später in meiner beruflichen Tätigkeit mehrmals in dieses schöne Land reisen würde.)
In östlicher Richtung gleich hinter der Jugendherberge zog sich das Rems-Ufer dahin, gesäumt von hohen Pappeln. Die Wohnhäuser lagen auf der anderen Straßenseite. Unser umgebautes Bauernhaus war das älteste in der Straße. Ganz am Ende der Schlachthausstraße, wo sie in einen Feldweg zu den Schrebergärten überging, befand sich ein Sägewerk mit Zimmerei, das dem Vater meines Freundes Rolf gehörte. Seine Eltern hatten das vornehmste Haus in der ganzen Umgebung.
Die Straße war unser Spielplatz. Sie war nicht asphaltiert und es gab keine Bürgersteige. Wenn die Löcher im sandigen Grund zu groß wurden, kamen städtische Arbeiter und schaufelten Steine von ihrem Anhänger. Eine Straßenwalze machte anschließend die Straße wieder eben. Selten hat uns ein vorbeifahrendes Auto gestört. Wir hatten genug Platz für alle Ballspiele. Fußball war natürlich das liebste Spiel, auch wenn ich darin nicht besonders gut war. Beim Auslosen war ich meist als letzter an der Reihe, außer wenn Brunhilde mitspielte. Sie wäre gern ein Junge gewesen und versuchte, mit uns Buben mitzuhalten. Ähnlich beliebt war der Ballwurf, »Zurücktreiben« genannt, bei dem zwei Mannschaften versuchen, den Ball so weit als möglich ins gegnerische Feld zu werfen. Dort muss er aufgefangen und wieder zurückgeworfen werden. Gelingt es einer Mannschaft nicht, den Ball aufzufangen, muss sie drei Schritte zurückweichen. Es gibt Markierungen an beiden Enden der Felder. Wenn es einer Mannschaft gelingt, den Ball hinter die Markierung der gegnerischen Seite zu werfen, ist sie der Gewinner. Ein spannendes Spiel.
An warmen Sommertagen stiegen wir in die Rems und badeten darin. Auf dicken schwarzen Gummireifen ließen wir uns ein Stück mit der Strömung treiben – aber nur bis kurz vor dem Schlachthaus. Ab hier war das Wasser nicht mehr so appetitlich. Horst und Alfred, die Flüchtlingsjungen, hatten an der größten Pappel am Ufer ein langes Seil befestigt, und so entstand eine Riesenschaukel, auf der man wie Tarzan bis zur Mitte des Flüsschens schwingen konnte. Um ehrlich zu sein: Ich hatte oft Angst dabei.
Sonntags, wenn im Sägewerk nicht gearbeitet wurde, gaben wir den Holzkarren mit den Eisenrädern, die sonst für den Transport von Holzstämmen auf schmalen Schienen verwendet wurden, richtig Schwung und vollführten waghalsige Fahrten. Oder wir nahmen ein großes flaches Holzstück und stellten Holzböcke darunter – fertig war unsere Tischtennisplatte. Als Tischtennisschläger dienten uns runde Holzscheiben. Im Sägewerk gab es viele solcher Hilfsmittel. Im Herbst bastelten wir dort unsere Drachen.
Auf der anderen Seite der Rems stand das Haus eines Alteisenhändlers, der allerdings nicht sehr sorgsam mit seinem erworbenen Warenbesitz umging. Das ganze Areal rund um sein Haus war voll mit unsortiertem Alteisen. Hin und wieder bedienten wir Jungs uns daraus und nahmen einige Gegenstände, um sie dem Händler anschließend wieder zu verkaufen. Er bemerkte nichts. Doch eines Tages kamen unsere Eltern dahinter. Mein Vater versohlte mir ordentlich den Hosenboden. Ich empfand diese Strafe als gerecht. Ganz anders verhielt es sich, als der Vater eines Nachbarjungen unerwartet in unserer Haustür erschien. Er behauptete, ich hätte seinen kleinen Sohn geschlagen. Mein Vater fragte mich nicht lange, ob das stimmt, sondern gab mir gleich eine kräftige Ohrfeige im Beisein des Dritten. Das empörte mich.
Eines Tages, es muss ein Samstag gewesen sein, schwangen mein Kumpel Rolf und ich uns heimlich und übermütig auf den Anhänger des Bauern Hinderer, der gegenüber vom Schlachthaus seinen Hof hatte. Er war mit seinem Gesellen und zwei Pferden auf dem Weg zu seinem Wald, um von dort Langholz zu holen. Als der Bauer uns unterwegs entdeckte, schimpfte