Mittwochs kam der ehemalige Berufsschullehrer Dr. Biesinger als externer Ansprechpartner ins Haus. Unter seiner Aufsicht führten wir die Scheinfirma »Endersbacher Teigwarenfabriken ETF«. Was um Himmels Willen macht eine »Scheinfirma« im ehrwürdigen Haus Birkel? Um es gleich klarzustellen: Unsere Scheinfirma war kein Unternehmen, das in betrügerischer Absicht undurchsichtige Geschäfte tätigte, im Gegenteil, sie war ein hervorragendes Mittel für eine besonders praxisnahe Ausbildung der kaufmännischen Lehrlinge. Träger war die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft, die Scheinfirmen-Zentrale überwachte die Geschäftsbeziehungen der Übungsfirmen untereinander. An einem Nachmittag in der Woche betätigten wir uns im Wechsel als Buchhalter, Einkäufer, Werbeleiter oder Verkaufsleiter. Jeder war der Chef seiner Abteilung und konnte sich schöpferisch austoben und Entscheidungen treffen, trug dafür aber auch die Verantwortung. Am Jahresende wurden die Gewinn- und Verlustrechnung und die Bilanz in Schein-Mark erstellt. Die Korrespondenz mit anderen Übungsfirmen, mit denen wir Geschäftsbeziehungen unterhielten, lief über die Scheinfirmen-Zentrale in Hamburg.
Ein Höhepunkt war die Scheinfirmen-Messe in Karlsruhe. In wochenlanger Arbeit bauten wir mit tatkräftiger Unterstützung der gewerblichen Lehrlinge einen Messestand. Die linke und rechte Seite war der Werbung für ETF-Teigwaren vorbehalten, auf der Längswand wurde der Ablauf des Produktionsprogramms mit elektrischem Antrieb nachgebildet.
Scheinfirmenmesse in Karlsruhe, 1963. Von links: Karl Jakubowski, Peter Ott, Kurt Ruoff, Werner Stilz, Hermann Rühle. Daneben unser Ausbilder Dr. Biesinger und Peter Birkel.
In unserem Übereifer kam uns die Idee, den Schirmherrn und Chef der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft, Rolf Spaethen, per Telegramm explizit zum Besuch auf unseren Stand einzuladen. Bei seiner Ansprache am anderen Tag erwähnte er die »cleveren Kaufleute aus Endersbach«, die ihm mitten in der Nacht im Hotel den Schlaf raubten, als der Nachtportier mit unserem Einladungstelegramm an der Tür geklopft hatte. Spaethen zeigte Humor und war nicht nachtragend. Auch der baden-württembergische Wirtschaftsminister Dr. Leuze besuchte unseren Stand. Als zuständiger Verkaufsleiter konnte ich ihm eine Bestellung über 1.000 Kilogramm Teigwaren abluchsen. Kurz zuvor gab es das schreckliche Erdbeben in Skopje, Mazedonien, dorthin sollten die Nudeln – »scheinbar« – geliefert werden, als Spende des Landes.
Für unseren Messestand erhielten wir den Ehrenpreis, eine Reise nach Straßburg mit Besuch des Europaparlaments. Zu fünft im Firmen-VW-Käfer verlängerten wir den Aufenthalt in Frankreich für einen Besuch in Nancy und eine Tour durch die Vogesen.
Die Lehrzeit endete im Herbst 1963. Ich war Industriekaufmann. Die Firma spendierte uns Absolventen Karten für einen Besuch im Kleinen Haus in Stuttgart. Aufgeführt wurde »Die Heirat« von Nikolai Gogol, mein erster Besuch in einem richtigen Theater.
Ich blieb noch ein halbes Jahr bei Birkel in der Verkaufsabteilung. Dort übernahm ich unter anderem die Aufgabe, den Außendienst der Firma mit den ungefähr sechzig angestellten Reisevertretern mit zu steuern. Eigentlich gefiel mir die Arbeit gut. Doch dann erhielt ich ein Angebot, als künftiger Geschäftsführer einer kleinen Strickwarenfabrik auf der Schwäbischen Alb einzusteigen. Nach einer Besichtigung des mittelständischen Unternehmens, das sich auf die Herstellung hochwertiger Strickwesten für Damen und Herren spezialisiert hatte, sagte ich spontan zu. Ich sollte mich als rechte Hand des derzeitigen Stelleninhabers einarbeiten, um später sein Nachfolger zu werden. Herr Heßmann hatte aber offensichtlich gar keine Lust, so schnell seinen Posten zu verlassen. Aus diesem Grund, und auch wegen der Abgeschiedenheit des Standortes auf dem Land, zog ich die Konsequenzen und kündigte.
Auf nach Kanada
Inzwischen kam mir eine andere Idee. Es zog mich in die Ferne. Aus den Briefen meines Bruders Rolf konnte ich schließen, dass es ihm in seiner neuen Heimat Kanada sehr gut ging. Er war Vorarbeiter bei den Elektrizitätswerken der Provinz Manitoba mit einem guten Verdienst. Gemeinsam mit seiner Frau Friedel hatte er mit viel Eigenleistung in Winnipeg, Manitoba, ein Haus gebaut, tatkräftig unterstützt von Friedels Vater und ihrem Schwager Herbert.
Schon zwei Jahre vorher, im Jahr 1962, besuchten unsere Eltern ihren Sohn Rolf und ihre Schwiegertochter. Der kanadische Lebensstil, die noblen Häuser und die riesigen Straßenkreuzer beeindruckten sogar sie. Doch jetzt waren sie nicht glücklich darüber, dass auch ich als ihr letzter Sohn sie verlassen wollte. Ich versprach ihnen, dass es nur für ein Jahr sei. Daraufhin gaben sie mir ihren Segen. Mein Vater zahlte sogar den Flug nach Winnipeg. Kurz vor meinem 21. Geburtstag begann mein Kanada-Abenteuer.
Ich bezog ein Zimmer im Haus meines Bruders. Friedel kannte ich schon, da die beiden uns Ende der Fünfzigerjahre in Deutschland besucht hatten. Damals stand die Entscheidung an, ob sie eventuell nach Deutschland zurückkehren oder Kanadier werden wollten. Nach dem Besuch stand für sie fest: »Wir werden die kanadische Staatsbürgerschaft beantragen.«
Rolf hatte Friedel bei einer Tanzveranstaltung im Deutschen Club von Winnipeg kennengelernt. Ursprünglich stammte sie aus Ostpreußen. Nach der Flucht im Winter 1945 hatte die Familie noch einige Zeit im Westen Deutschlands gelebt. Anfang der 1950er Jahre bewiesen die Eltern den Mut, mit fünf Kindern nach Kanada auszuwandern. Sie lebten sich in der Neuen Welt gut ein. Auch Friedels vier Schwestern heirateten deutsche Einwanderer.
Nach zwei Wochen nahm Rolf mich zu einem Angelwochenende mit. Gemeinsam mit Kumpel George fuhren wir im Pickup hinaus zum Winnipeg River, etwa fünfzig Kilometer nördlich der Stadt. Das Fishing Camp lag auf einer kleinen Insel und bestand aus rot gestrichenen Holzhäuschen. Dort tummeln sich im Sommer meist Amerikaner, die zum Fischen im glasklaren Wasser nach Manitoba kommen. Doch jetzt war die Saison vorüber. Rolf und George kannten den Besitzer des Camps. Er händigte ihnen die Schlüssel aus. Außerhalb der Saison konnten wir uns völlig ungestört dem Fischfang widmen. Es war für mich ein starkes Erlebnis – einsam in purer Natur. In drei Tagen huschte nur einmal ein Trapper in seinem Boot an uns vorüber. Fische, vor allem Regenbogenforellen, gab es in Hülle und Fülle. Kaum hatten wir die Angel vom Boot aus ins Wasser geworfen, zappelte schon ein stattlicher Fisch an der Schnur. Damit sie frisch blieben, zogen wir die gefangenen Fische an Haken hinter dem Boot her.
Mit Rolf am Falcon Lake in Kanada, 1965
Einmal gab es ein Rascheln in der absoluten Stille. Ein Nerz war unbemerkt herangeschwommen und hatte sich am größten Fisch gelabt, nur noch Gräten blieben übrig. George wollte den Bösewicht mit seiner Knarre abschießen, doch schon war der schlaue Kerl im Wasser verschwunden. Auf dem Holzkohlengrill zauberten Rolf und George Delikatessen aus den frisch gefangenen Fischen. Dazu wurden etliche Bierdosen geleert. Die Sonne ging am wolkenlosen Himmel unter und reflektierte auf dem Wasser des Winnipeg River. Als Absacker gab es den guten kanadischen Whiskey Crown Royal. Das war Canadian Life pur.
Zurück in Winnipeg, bekam ich über das Arbeitsamt einen Job. Dem für mich zuständigen Jobvermittler hatte ich von meiner Arbeit bei Birkel berichtet. Das brachte ihn auf die grandiose Idee, ich müsste der geborene Helfer für Campbell Soups sein, da dort Nudelsuppen hergestellt würden. Für die Firma Campbell Soups hatte Andy Warhol nur kurz zuvor, 1962, seine berühmte Grafik mit der rot-weißen Dose angefertigt.
Meine Aufgabe war es, die auf einem Band anrollenden Suppendosenkartons zu verschließen und auf Paletten zu stapeln. Das war gar nicht so einfach, die Kartons kamen in rascher Folge. Nach etwa sechs Wochen wurde ich ins Büro bestellt, wo man mir meine Entlassung verkündete. Für mich war das völlig unverständlich. Schließlich erfuhr ich, dass ich nur ein Ersatz für einen erkrankten Arbeiter gewesen war. So lernte ich zum ersten Mal das amerikanisch-kanadische Prinzip von »Hire and Fire« kennen.
Auf einen Bürojob hatte ich mit meinem rudimentären Schulenglisch zunächst keine Chance. Ich blieb zunächst ein Gelegenheitsarbeiter, was mich aber nicht störte, weil ich schnell eine neue Beschäftigung fand.
Toronto
Nach einem halben Jahr bei Rolf und Familie packte ich meine Habseligkeiten und zog weiter nach Toronto. Mit der Canadian Pacific