Werner Stilz

Darum in die Ferne schweifen


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im Zug exzellent. In östlicher Richtung ging es in die Provinz Ontario, zunächst durch die topfebene Prärie mit riesigen Getreidefeldern, die jetzt im Frühjahr nach dem Pflügen in sattem Braun schimmerten, dann durch lichte Wälder, die nicht enden wollten. Zahlreiche Seen mit tiefblauem Wasser glitten vorüber.

      In einer deutschsprachigen Zeitung hatte ich von einem Jobangebot gelesen: Expedient in einer Molkerei. Dort arbeitete auch Jan, ein junger Holländer, der mich in seine Wohnung aufnahm, bis ich eine eigene Bleibe finden würde. Jan war ein gutaussehender Kerl, der auf die Damenwelt offensichtlich unwiderstehlich wirkte. Sein »Hobby« war der One-Night-Stand. Stolz zeigte er mir die Blutflecken auf seiner Bettdecke, wenn es ihm wieder einmal gelungen war, einem jungen Ding die Unschuld zu rauben. Ich blieb nicht lange in seinem Appartement, doch pflegten wir unsere Freundschaft weiter. Vermutlich war ich ein ruhender Pol in seinem sonst so anstrengenden Leben.

      In Toronto hatte ich verschiedene Jobs, in keinem blieb ich lange. Dafür genoss ich als Junggeselle die schöne Stadt und die Vorzüge des kanadischen Lebens. Wie es in Kanada fast die Regel ist, suchte ich mir einen zusätzlichen Nebenjob, einmal als Kellner in einem Tanzlokal, bei dem das Trinkgeld mehr einbrachte als mein offizieller Lohn, das andere Mal als Platzanweiser im noblen O’Keefe Center, in dem große Künstler auftraten. Eine ganze Woche lang erlebte ich Harry Belafonte zusammen mit Nana Mouskouri live auf der Bühne. Außerdem wurden bekannte Musicals im O’Keefe Center aufgeführt. »My fair Lady«, »Hello Dolly«, »Half a Sixpence« und »The Sound of Music« gefielen mir ausgesprochen gut.

      Für mein erstes Auto, einen azurblauen Pontiac, zahlte ich nur 250 Dollar. Der Straßenkreuzer war in die Jahre gekommen, sah aber noch gepflegt aus. Jetzt brauchte ich nur noch den kanadischen Führerschein. Kein Problem, dachte ich, und meldete mich zur Fahrprüfung an. Fahrstunden waren zu der Zeit in Kanada nicht erforderlich. Der Prüfer saß stoisch auf dem Rücksitz und gab die Kommandos. Als die Fahrt beendet war und ich mich erwartungsvoll umdrehte, sagte er: »You’ve missed it!«

      Ich war durchgefallen, weil ich an einem Stoppschild das Auto nicht komplett zum Halten gebracht hatte. Nun musste ich vier Wochen warten, bis ich einen neuen Anlauf für die Prüfung machen konnte. Diesmal klappte es. Mit dem neuen Führerschein in der Tasche, fuhr ich eine Zeit lang mit einem »Catering Truck« vor die Tore von Gewerbebetrieben, um Kaffee, Sandwiches und Salate zu verkaufen, wenn die Beschäftigten zur Arbeit gingen oder Mittagspause hatten. Dieser Job konnte mich gut ernähren. Doch ich musste verdammt früh aufstehen, mit meinem Auto zum Standort der Cateringfirma fahren und all die Sachen laden, die es später zu verkaufen galt. Eines Morgens kam ich vor Müdigkeit von der Straße ab und landete auf Straßenbahngleisen. Zum Glück passierte mir nichts.

      Während der Weltausstellung 1964/1965 in New York unternahm ich mit Jan einen Abstecher in den Big Apple. Unser Quartier bezogen wir bei meiner Tante Mina und Onkel Christian, die einen schönen Bungalow auf Long Island bewohnten. Wir blieben ein paar Tage, genossen die schönen Strände oder fuhren mit der Long Island Railway ins aufregende Manhattan. Auf der Weltausstellung imponierte mir besonders das erste Bildtelefon, Vorgänger von Skype, jedoch als Telefon mit kleinem Bildschirm. Diese Technik konnte sich nicht durchsetzen.

      Eine andere Reise, mit dem Greyhound-Bus, führte uns nach Chicago, wo mir besonders der Besuch im Original-Playboy-Club in Erinnerung blieb. Nicht nur wegen der Bunny Girls, sondern auch wegen eines umwerfenden Blicks auf den nächtlichen Michigansee, den man von der oberen Etage des Clubs aus genoss.

      Weitere beliebte Ausflugsziele waren die Niagarafälle, die die Grenze zu den USA bilden, und der Ontariosee, an dessen Ufer die Stadt Toronto liegt. Von einer kleinen Insel aus genoss ich den beindruckenden Ausblick auf die imposante Skyline von Toronto. Moderne Hochhäuser, wie die kurz zuvor fertiggestellte City Hall mit zwei halbrunden, einander gegenüberstehenden Gebäuden beeindruckten mich genauso wie die supermodernen, sechsspurigen Highways über den Häusern, Flyovers genannt.

      Keimte Sehnsucht nach Verwandtschaft auf, fuhr ich nach Hamilton, einer Industriestadt nicht weit von Toronto entfernt. Dort wohnten Friedels Schwester Erna und ihr Mann Henry. Sie betrieben einen kleinen Grocery Store, einen Lebensmittelladen, der ihnen auskömmliche Einkünfte für ihren Lebensunterhalt ermöglichte. Später sollte Henry umsatteln. Er wurde Häusermakler. Ich genoss die große Gastfreundschaft der beiden. Außerdem war mit Henry gut zu »politisieren«.

       Wieder in Winnipeg

      Nach einem Jahr in Toronto machte ich mich zusammen mit Jan wieder auf den Weg Richtung Winnipeg. Kurz vor dem Ziel, nahe der Stadt Kenora, gab mein schöner Pontiac seinen Geist auf. Wir schafften es gerade noch in die Werkstatt. »Kolbenfresser«, sagte der Mechaniker, »da ist nichts mehr zu machen.«

      Also mussten wir unsere Reise im Greyhound-Bus fortsetzen.

      Jan fuhr weiter in den Westen nach Calgary. Ich blieb in Winnipeg und fand eine Anstellung im K-Mart, vergleichbar mit den hierzulande bekannten Walmart-Läden. Als Trainee war ich verantwortlich für eine Verkaufsabteilung, zunächst die Schreibwaren- und später die Zoo-Abteilung. Dort ging es manchmal chaotisch zu, wenn zum Beispiel ein Kunde einen kleinen Affen kaufen wollte und dieser sich mit Kräften wehrte, aus seinem Käfig zu kommen und aus lauter Angst Durchfall bekam. Hin und wieder entwischte uns auch ein bunter Vogel und flog im Laden herum. Einmal organisierte ich die Verkaufsaktion »Goldfische zum Sonderpreis«. Dazu wurde ein Kinder-Plastikbad mit Wasser gefüllt, in dem die kleinen Fische schwammen. Ein Bösewicht schüttete aber unbemerkt Seifenpulver ins Wasser. Die Aktion war damit schnell beendet. Bei K-Mart hatte ich einen netten Kollegen namens Will, der ebenfalls als Trainee eine Abteilung leitete.

      Ich wohnte im Stadtteil St. Boniface in Untermiete bei Denise Vanderdonckt, einer Witwe mit drei halbwüchsigen Kindern. Ich fand rasch Anschluss an diese nette Familie. Mit meinem inzwischen erworbenen zweiten Auto unternahmen wir schöne Ausflüge in die Umgebung, zum Beispiel zum Winnipeg Lake oder Winnipeg River mit seinem glasklaren Wasser und kleinen Sandstränden. Denise war Zeugin Jehovas. Ich rechnete es ihr hoch an, dass sie mich nie missionieren wollte.

      An Wochenenden war ich oft im Haus meines Bruders Rolf und seiner Familie zu Gast. Samstagabends war »Hockey Night in Canada« angesagt. Wir saßen, wie wahrscheinlich die Mehrzahl aller Kanadier, gebannt am TV, wenn die besten Eishockeyspieler der Welt in der National Hockey League aufeinandertrafen. Dazu gab es traditionell Rum mit Coke oder Whisky mit Ginger Ale zu trinken. Friedel stellte ihre köstlichen gegrillten Sandwiches bereit. Es war typisch kanadisches Leben, wie es bei den meisten deutschen Einwanderern in dieser Zeit üblich war. Man wollte sich schnellstmöglich assimilieren, die kanadische Staatsbürgerschaft erwerben und ein guter Kanadier sein.

      Bei meinem Bruder Heinz lief es leider nicht so gut. Als er in Kanada ankam, arbeitete er zunächst, wie auch Rolf, im Wald als Holzfäller. Im abgeschiedenen Camp gab es wenig Abwechslung. Alle vier Wochen konnten die Waldarbeiter in die nächstgelegene Stadt gehen, um sich von der schweren Holzfällerarbeit zu entspannen. In der Stadt gab es ausreichend Bars mit Alkohol und schönen Damen. Ich muss es leider sagen: Heinz entspannte sich etwas zu extrem, er sprach zu sehr dem Alkohol zu. Nach einigen kleinen Delikten wurde er nach einem Jahr ausgewiesen. Er ging nach Deutschland zurück.

      In Kanada herrschten zu dieser Zeit aber auch ganz besondere, für mich sehr eigenartige Gesetze für den Ausschank und Verkauf von Alkohol. Manchmal ging ich mit Kumpels in Hotels mit angeschlossenen Bierkneipen, die sogenannten Beer Parlors. Diese waren strikt getrennt in Parlors für Männer und solche für »Ladys with Escorts «, also für Paare! In den Parlors für Männer gab es nur Bier, meistens stand man an runden Stehtischchen. Anfangs wunderte ich mich darüber, dass auf jedem Tischchen Salzsteuer standen. Die Kanadier hatten damals die Angewohnheit, Salz in ihr Bier zu streuen. Verrückt wurde es, wenn es im Saal hieß: »Last Call!«

      Die Gäste bestellten schnell etliche Biergläser auf einmal, da sie anschließend die Kneipe verlassen mussten. Wenn ich mich recht erinnere, war das bereits gegen 19 Uhr. Der Grund: Die Zecher sollten zum Abendessen nach Hause gehen. Zwei Stunden später machte der Beer Parlor wieder auf.

      Im Freien war der Alkoholkonsum überall strikt verboten. Wenn junge Leute im Park beim Picknick oder am Strand ein Bierchen trinken wollten, mussten sie die Bierdose unter Papier oder