Diensteifer ging ich als einziger zurück ins Büro. Dort angekommen, konnte ich nur noch das Waschbecken ansteuern, um mich zu übergeben. Dann schlief ich am Schreibtisch ein. Ich hätte den Enzianschnaps sein lassen sollen. Der Tag war für mich gelaufen, während sich Gruppenleiter und Kollegen einen schönen Nachmittag auf dem Cannstatter Wasen machten. Herr Lenk hatte derweil ein paar Mal angerufen und feststellen müssen, dass keiner im Büro war. Für die feuchtfröhliche Runde gab es eine ordentliche Abmahnung.
Es waren die fetten Jahre bei Daimler wie insgesamt für die deutsche Wirtschaft. Zum Beispiel gab es einen Friseur mitten im Firmengelände, den man während der Arbeitszeit aufsuchen konnte, nach dem Motto: Die Haare wachsen ja auch bei der Arbeit. Man sollte sich nur an der Stechuhr abmelden.
Ein Jahr später wurde H. von seinem Posten abberufen. Herr Lenk schlug mich als neuen Gruppenleiter vor, obwohl ich der an Dienstjahren Jüngste unter den Kollegen war. Ich empfand die Beförderung als eine schöne Anerkennung, wenngleich es, bedingt durch einen Umzug in ein Großraumbüro, für mich kein Einzelzimmer und keine Sekretärin mehr gab. Die Arbeitszeiten waren damals noch fest geregelt, Gleitzeit ein Fremdwort. Die Bürozeit war von 8 Uhr bis 16: 40 Uhr und wurde auch meist prompt eingehalten. Als Gruppenleiter hatte ich manchmal länger zu tun. Für mich Junggesellen stellte das aber kein Problem dar.
Schwierigkeiten gab es bisweilen mit zwei älteren Mitarbeitern, Herr Berner und Herr Gerber. Sie waren schon lange bei Daimler und hatten damit einen fast unkündbaren Arbeitsplatz, sofern sie keine goldenen Löffel stahlen. Den lockeren Arbeitsstil bei ihrem früheren Gruppenleiter gewohnt, nahmen sie es mir übel, dass ich die Zügel etwas anzog. Sie wollten anfangs nicht einsehen, dass der Schlendrian aufhören musste und trauerten ihrem Ex-Chef nach.
Ich selbst hatte ihre etwas »freizügige« Art frühzeitig kennengelernt: Kurz nachdem ich bei Daimler angefangen hatte, machten Herr Berner, Herr Gerber und ich eine Visite in unserem Literatur-Außenlager, ein paar Kilometer vom Büro entfernt. Auf dem Rückweg fuhr Herr Berner nach Bad Cannstatt und hielt vor einem Mehrfamilienhaus. Ich hatte keine Ahnung, was sie dort wollten, bis im dritten Stock eine Dame mittleren Alters ihre Wohnungstür öffnete, uns mit ihren beiden weißen Pudeln freundlich begrüßte und in ihre kuschelige Wohnung hereinbat, wo die Tür zum Schlafzimmer weit offen stand. Meine neuen Kollegen wollten mir wohl eine Freude machen, indem sie mir ein Schäferstündchen bei dieser Dame spendierten. Glücklicherweise wehrte ich spontan ab. Unverrichteter Dinge verließen wir dieses Etablissement. Auf der Rückfahrt ins Büro dachte ich: Vielleicht hätte ich es doch machen sollen, von der Dame hätte ich dazulernen können! Als ich Gruppenleiter und damit Chef dieser beiden Herren wurde, war ich froh über die damalige barsche Ablehnung. Sie hätten den Vorfall leicht gegen mich verwenden können.
Zum Ausgleich vom Bürostress machte ich nach Feierabend mit Georg öfter mal Freizeitsport. Die Firma hatte eine Sporthalle, wo wir Tischtennis oder Badminton spielten. Mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ging es alle 14 Tage zum Kegeln. Beim anschließenden Zusammensein in der Kegler-Gaststätte konnte man sich zwanglos über die Arbeit austauschen. Da waren die Leute eher bereit, mir zu sagen, wo sie der Schuh drückte.
Junggesellenfreuden
Mit Hermann in Kanada
Ich weiß nicht mehr, was überwog: War es »Heimweh« oder wollte ich Hermann mit meiner zweiten Heimat beeindrucken? Auf jeden Fall reisten Hermann und ich 1971 nach Amerika.
Zuerst besuchten wir Tante Mina auf Long Island. Wir wohnten jedoch bei ihrer Tochter Martha und deren Mann Bob, Banker von Beruf. Martha und Bob hatten zwei Kinder, Glenn und Joan, eine »American Beauty«. Wenn sie mit uns zum Strand ging, zog sie, braun gebrannt im knappen Bikini und langem blondem Haar, die Blicke vieler männlicher Badebesucher auf sich. Das gefiel uns als Begleiter nicht schlecht. Martha und Bob gingen mit uns in noble Steak- und Fischrestaurants, sie wussten, wo man gut essen kann. Auch in diesen edlen Restaurants, wo die Bedienungen bewundernswert freundlich sind, war es üblich, dass man sich die Speisereste einpacken ließ und mit nach Hause nahm. Unsere Gastgeber fuhren außerdem mit uns nach Manhattan und zeigten uns die schönsten Plätze und Ecken.
Dann flogen wir weiter nach Kelowna, British Columbia, dem neuen Zuhause von Rolf und Friedel. Als wir aus dem Flugzeug stiegen, herrschte brütende Hitze. Ja, auch in Kanada kann es richtig heiß werden, vor allem in dieser Gegend, einem beliebten Urlaubsziel für Kanadier und Amerikaner. Früher gab es an den Hängen zum See viele Obstplantagen, vor allem Äpfel und Pfirsiche gediehen hier prächtig. Inzwischen aber ist das Tal berühmt für gute Weine und interessante Weingüter, die es auch schon zu internationalen Auszeichnungen gebracht haben.
Mit Rolf und Friedel besuchten wir einige der Weingüter, die meist mitten in den Weingärten liegen. Fast immer gehört ein gutes Restaurant mit Blick auf den See dazu. Hermann und ich, beide Söhne von Weingärtnern, gaben uns natürlich als Experten aus und taten so, als ob wir viel vom Wein verstehen würden. Interessant war, dass die meisten dieser Weingüter von deutschen und österreichischen Auswanderern gegründet worden waren und daher hauptsächlich deutsche Rebsorten, wie Riesling, Sylvaner und auch Muskateller angepflanzt hatten. Am südlichen Zipfel des Sees besuchten wir ein interessantes neues Weingut, welches von Indianern betrieben wurde.
Am 1. August 1971 feierte Rolf seinen 40. Geburtstag. Dazu lud er seine besten Freunde ein, allesamt deutsche Einwanderer. Da waren zum Beispiel Gerhard und Irma, die aus der Nähe von Nürtingen kamen und hier erfolgreich ein Friseurgeschäft führten. Irma sprach ein besonders amüsantes Englisch mit schwäbischem »Sound«. Für kanadische Ohren klang es vermutlich wie bestes Kabarett. Reinhard und Ria waren die ältesten Freunde von Rolf, sie lebten zunächst wie Rolf und Friedel in Winnipeg. Karl und Elvira stammen aus Stuttgart, waren aber schon lange kanadische Staatsbürger. Bob und Brigitte hingegen waren aus Lörrach ausgewandert, wo sie ein Möbelhaus geführt hatten. Zuletzt gab es noch Erwin und Irene. Erwin hatte zuvor im Neckartal eine gut gehende Kanalreinigungsfirma, die er gewinnbringend verkaufte, bevor sie nach Kanada auswanderten.
Mit diesen Freunden wurde zunächst im Garten meines Bruders gefeiert. Abends zogen wir für das Dinner weiter zum deutschen Club. Wir unterhielten uns meist auf Deutsch, vermischt mit englischen Wörtern. Das klang manchmal lustig. Die Deutsch-Kanadier sagten niemals Auto, Telefon, Friseur, Küche oder Kühlschrank, sondern stattdessen Car, Phone, Hairdresser, Kitchen und Fridge.
Am liebsten unterhielt ich mich mit Erwin. Er war politisch sehr interessiert und wollte genau wissen, was in Deutschland geschah. Erwin hatte das schönste und größte Haus des Freundeskreises. Es war im Tudor-Stil erbaut, innen mit viel schwerem Holz ausgestattet und bot einen schönen Blick über den See. Er wohnte dort mit seiner Frau und zwei Söhnen, die schon aufs College gingen. Bei einem späteren Besuch in Kelowna hatten sie es bereits verkauft und sich ein neues Haus zugelegt, inmitten einer Apfelplantage. Erwin richtete sich in der Garage eine Brennerei ein. Eines Tages stand sie in Flammen. Das brachte ihm eine gehörige Strafe ein, denn er besaß keine Lizenz für die Schnapsbrennerei.
Rolf und Friedel mit ihren drei Kindern Jeff, Rod und Linda machten mit uns noch eine Autotour durch die Rocky Mountains. Rolf hatte einen Pontiac Caravan, in dem wir zu siebt genug Platz fanden. Auf dem Anhänger war das Zelt der Familie verstaut. Als echte Kanadier macht man unterwegs natürlich Camping. Die Campingplätze, vor allem entlang dem Trans-Canada-Highway, waren großzügig, beinahe luxuriös. Für jeden Camper gab es ein separates Gelände mit Feuerstelle, Tisch und Bänken und einen Wasser- und Stromanschluss. Bei der Einfahrt in den Platz, den wir ansteuerten, sagte der Wärter: »Passt auf, hier gibt es Bären. Seid nett zu ihnen, wenn ihr sie trefft.«
Scherzhaft fragte mein Bruder zurück: »Und wenn es Grizzlies sind?«
Die Antwort: »Dann seid besonders nett zu ihnen!«
Die Familie schlief im Zelt auf dem Anhänger, für Hermann und mich wurde ein separates kleines Zelt aufgestellt. In der Nacht wachte ich auf und spürte, wie etwas an der Zeltwand vorbei streifte. Mir war sofort klar, das ist ein Bär. Ich verhielt mich mucksmäuschenstill, in der Hoffnung, dass er weiterzieht. Kurz darauf gab es einen lauten Krach, und Rolf rief nach uns. Hermann und ich krabbelten vorsichtig aus dem Zelt und sahen den riesigen Kerl, der sich bereits über