Werner Stilz

Darum in die Ferne schweifen


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In dieser Zeit fühlte ich mich gut und meine Minderwertigkeitskomplexe schienen einigermaßen Vergangenheit zu sein.

      Sorgenfrei genoss ich das Zusammensein mit Margret. Wenn sie Frühdienst hatte und die Schule beendet war, gab es auch unter der Woche reichlich Zeit für gemeinsame Unternehmungen. Ich ging in ihre Wohnung, bereitete eine kleine Mahlzeit vor und wartete auf sie. Ich hatte auch Muße, ein bisschen lyrisch tätig zu sein und schrieb kurze Gedichte für sie. Herrenbesuche waren offiziell nicht erlaubt, doch es gab keine Kontrollen. Hin und wieder blieb ich über Nacht.

      Seit ein paar Jahren war ich Mitglied im Gesangverein in Heumaden, jetzt verstärkte auch Margret mit ihrer schönen Sopranstimme den Chor bei den wöchentlichen Proben und gelegentlichen Auftritten. Nach den Chorproben saßen wir in der »Rose« mit den anderen Chormitgliedern zu einem oder zwei Gläsern Wein zusammen. Wenn sie keine Frühschicht hatte, blieb Margret über Nacht bei mir in Heumaden.

      Georg war inzwischen mit einer anderen jungen Frau, Hannelore, verbandelt. Da sich die beiden Damen auf Anhieb gut verstanden, unternahmen wir an Wochenenden gern etwas gemeinsam. Im Winter fuhren wir zusammen nach Ehrwald oder ins Tannheimer Tal in Tirol zum Skifahren. Auch mit meinen anderen Daimler-Kumpels pflegte ich weiter die Kontakte.

       Mein neuer Job bei Bosch

      Nach den Jahren meines Studiums der Betriebswirtschaft hieß es, auf Arbeitssuche zu gehen. Ich hatte zwei Angebote in der engeren Wahl. BMW in München bot mir eine Stelle im Bereich Marktforschung an, von Bosch hatte ich ein Angebot, als Länderreferent im Geschäftsbereich Kraftfahrzeug-Ausrüstung Handel (intern KH) für die Exportabteilung Verkauf Übersee mit der internen Bezeichnung KH/VUB zu arbeiten. München und BMW reizten mich, doch ich entschied mich schließlich, im Ländle zu bleiben.

      Im November 1976 begann ich meine Arbeit in der neu erbauten Zentrale der Robert Bosch GmbH auf der Schillerhöhe bei Stuttgart. Ich war für eine Reihe von Märkten in Südost- und Südasien zuständig. Dazu gehörten Indien, Sri Lanka, Thailand, Malaysia, Singapur, Indonesien, Taiwan und Philippinen. In diesen Ländern hatte die Firma entweder eigene Niederlassungen oder eigenständige Auslandsvertretungen. Die wichtigsten Produkte, die in diese Märkte verkauft wurden, waren Startermotoren und Generatoren, Scheinwerfer, Zündkerzen, Batterien, Wischblätter, Bremsbeläge, Keilriemen, Hörner und die Ersatzteile für Diesel- und Benzin-Einspritzpumpen. Die Erzeugnisse wurden an die schon erwähnten Bosch-Niederlassungen oder an die Auslandsvertretungen geliefert und im Land an Großhändler, Einzelhändler und Werkstätten weiterverkauft. Ich nahm an einigen Produktschulungskursen teil, bei denen ich mir die wichtigsten Kenntnisse aneignen konnte. Als technisch eher unbedarfter Mensch fiel mir dies manchmal nicht ganz leicht. Es war von Vorteil, dass die Büros der jeweiligen Experten, die sogenannten Produktmanager, nicht weit entfernt lagen.

      Zu den wesentlichen Aufgaben der Länderreferenten gehörten die Preisgestaltung für die einzelnen Produkte und Ersatzteile, Verhandlungen mit den ausländischen Partnern über Umsatz- und Absatzziele sowie die Erstellung von Businessplänen. Die Korrespondenz fand ausschließlich auf Englisch statt. Es wurde auf Schallplatten diktiert. Die Platten gingen in ein zentrales Schreibbüro. Die fertigen Schriftstücke enthielten hin und wieder einen Tippfehler. Nur eine der Schreibdamen blieb stets fehlerfrei. Als ich einmal eine dringende Sache im Schreibbüro zu klären hatte, lernte ich die Damen kennen. Und siehe da, die Mitarbeiterin, die fehlerlos schrieb, war blind.

      Zu meinem neuen Job gehörten regelmäßige Besuche vor Ort. Meine erste Geschäftsreise führte mich nach Indien, Sri Lanka, Pakistan und Bangladesch. Ich erlebte einen Kulturschock. Im Flugzeug unterwegs in der Business Class, untergebracht in luxuriösen Fünf-Sterne-Hotels, wurde ich konfrontiert mit bitterster Armut, sobald ich mich außerhalb der Hotels befand. Schon bei der Fahrt vom muffig riechenden Flughafen Bombay in die Stadt wurde ich an jeder roten Ampel von Bettlern umringt. Die Fahrt führte vorbei an elenden Slums. In den anderen Ländern war es nicht viel besser. Das musste ich erst einmal verarbeiten.

      In Indien war die Firma Bosch schon seit den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts aktiv und betrieb ein Gemeinschaftsunternehmen mit einem indischen Partner. Die Motor Industries Company Limited (Mico) fertigte für den lokalen Markt große Mengen Zündkerzen und Diesel-Einspritzpumpen. Das Geschäft für unsere Bosch-Erzeugnisse hielt sich noch in Grenzen, hatte aber durchaus Potenzial, nachdem immer mehr europäische Fahrzeuge auf den indischen Markt kamen. In den anderen Ländern, Sri Lanka, Pakistan und Bangladesch, waren unsere Marktpotenziale gering. Meine Besuche dienten hauptsächlich der Kundenpflege mit den dortigen Auslandsvertretungen und Händlern. Der Job in meiner neuen Funktion gefiel mir, zumal ich viele Freiräume für eigene Ideen bekam.

       Besuch in der DDR

      Ich war schon in etliche Länder gereist, doch das am nächsten liegende blieb lange Zeit für mich unerreichbar. Ohne verwandtschaftliche Beziehungen gab es so gut wie keine Möglichkeit, in die DDR zu reisen. Jetzt, Mitte der Siebzigerjahre, kam mir ein Zufall zu Hilfe. Mit Margret besuchte ich eines Tages meine Patentante Loni, eine Schwester meiner Mutter, in Arzberg im Fichtelgebirge. Auf dem Heimweg machten wir auch eine Visite in Ansbach bei Lissy und Kurt Bergmann, von denen schon die Rede war. Lissys Cousine Dorle, eine Rentnerin aus Dresden, war gerade zu Besuch. Offenkundig löcherte ich sie mit Fragen über das Leben in der uns fremden DDR, denn sie schlug vor, sie doch zu besuchen. Bei unserem Einreiseantrag sollten wir sie einfach als »Tante Dorle« angeben. Gesagt, getan: Es klappte, und so fuhren wir im Sommer 1975 das erste Mal ins Arbeiter- und Bauernparadies.

      Dresden war schon damals eine der wenigen Städte, die für DDR-Verhältnisse herausgeputzt war und sich ordentlich präsentierte, im Gegensatz beispielsweise zu Plauen, an dem wir auf der Autobahn vorbeifuhren. Dort waren die Gebäude grau oder sogar schwarz und ungepflegt. »Tante« Dorle wohnte am Stadtrand von Dresden in der Rhönstraße in einem typischen Arbeiterwohnblock aus den Dreißigerjahren. In ihrer Zwei-Zimmerwohnung bot sie uns sofort ihr Schlafzimmer für die Nächte an, während sie selbst auf dem Sofa schlief. Sie war ungemein gastfreundlich. Es fühlte sich an, als ob wir uns schon immer nahegestanden wären. Die Tage waren ausgefüllt mit Besichtigungen von Zwinger, Semperoper, dem Blauen Gewölbe mit seinen fantastischen Schätzen darin, in der überwiegenden Mehrzahl angehäuft von August dem Starken. Außerdem führte uns Dorle ins hochinteressante Hygiene-Museum, wo sie oft mit ihrem Enkel hingegangen war. Sie war trotz Rentenalter ein Energiebündel und erinnerte mich an die Beschreibungen Erich Kästners über seine Dresdener Mutter. Dorles herrliches Sächsisch passte haargenau zu ihrem etwas korpulenten Erscheinungsbild und ihren rosafarbenen Wangen. Sie hatte übrigens während ihrer beruflichen Tätigkeit eine wichtige Stelle bei der Deutschen Reichsbahn inne: Sie war unter anderem für das Depot für Reinigungsgerätschaften zuständig gewesen. Es war köstlich zuzuhören, wenn sie uns erzählte, wie die Tauschgeschäfte so verliefen. Von Kollegen, die öfter nach Berlin fuhren, erhielt sie gegen ein paar Rollen Toilettenpapier oder einer Flasche Desinfektionsmittel schon mal ein feines Rindersteak aus Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik.

      Dorles Familie, sie hatte zwei Söhne, zwei Schwiegertöchter und einen Enkel, wohnte in Hoyerswerda. Der Ältere, Hans, hatte es bis zum Personalleiter der Schwarzen Pumpe, einem großen Betrieb im Braunkohleabbau, gebracht und war damit »Geheimnisträger«. Ihm war Westkontakt absolut untersagt. Wir trafen ihn und seine Frau Erika auf »neutralem Boden«, also im Freien beim Stadtbummel in Dresden. Der Jüngere, Thomas, war das genaue Gegenstück, er arbeitete als Vorarbeiter im gleichen Betrieb und schimpfte mächtig über seine Regierung und das ganze sozialistische System – im Beisein seines Bruders. Glücklicherweise erwies sich die Bruderliebe stärker als die Loyalität seiner Partei und seiner Deutschen Demokratischen Republik gegenüber. Thomas wollte schon immer abhauen und »nach drüben machen«, doch irgendwie verpasste er den richtigen Zeitpunkt. Er beneidete Lissy und Kurt, die es geschafft hatten.

      Wenn Dorle während unseres Besuchs einkaufen ging, flüsterte sie dem Ladenbesitzer zu: »Ich habe Westbesuch.«

      Das half offenbar, das Beste vom wenigen Vorhandenen zu bekommen. Einmal lud sie uns in ein Varieté-Theater ein. Als »Westbesucher« durften wir in der ersten Reihe sitzen. Doch es gab auch negative Erlebnisse. Der Mercedes-Stern auf der Kühlerhaube wurde schon in der zweiten Nacht abgeschraubt. Was hätte ich