wir unser intimstes Geheimnis.
„Siehst du ihn?“, hakte sie nach. „Nein, wen?“, fragte ich und schaute verwundert auf die Wand. „Sieh doch genau hin!“, wurde sie energisch. „Jesus ist da! Schau … wie wunderschön er ist …“
Ja, jetzt sah ich ihn auch – auf ihrem Gesicht. Ich sah, dass Oma Lisa ihn sah … Und ich flüsterte ihr zu: „Ja, jetzt sehe ich IHN auch …“ Sie lächelte mit tiefer, erfüllter Freude und zugleich Sehnsucht.
So durften wir beide Jesus sehen – meine Oma von Angesicht zu Angesicht und ich in ihrer Freude, im Strahlen ihres Gesichtes …
Die auf Gott schauen werden leuchten wie die Sonne, sagt die Bibel (vgl. Mt 13,43). Ich habe es selbst gesehen und erlebt, damals am 7. Februar 1983 im Kreiskrankenhaus in Bopfingen auf Ebene eins, ganz hinten am Flur … Es war die Krönung all unserer Gespräche.
(So, nun laufen meine Tränen. Ich weiß nicht, ob es sich „gehört“, wenn man als Autor von seinen Tränen schreibt, während man die Tastatur bearbeitet und mit verschwommenen Blick zu erklären versucht, was unerklärbar ist. Ich spüre nur noch Ehrfurcht, Dankbarkeit und Liebe … Mein Bildschirm ist verschwommen … Ich sehe IHN gerade jetzt, Jesus, vor meinen inneren Augen; und vielleicht erkennst auch du ihn in deinem Herzen.)
Einen Tag später kam mein Papa um die Mittagszeit nach Hause. Dies war das erste Mal, dass ich ihn weinen sah – diesen Mann, der so oft geschrien hatte. Er stieg aus dem Taxi, ging die Stufen unseres alten Hauses hinauf, trat ein und flüsterte unter Tränen: „Meine Mama ist eben gestorben …“ Nie werde ich diesen Augenblick, sein Flüstern vergessen, genauso wenig wie das meiner Oma tags zuvor.
Im Himmel sah sie ihren kleinen Werner wieder, und sie hat nun wieder zwei Beine und tanzt mit Jesus. Ihr Gesicht strahlt jetzt bis in alle Ewigkeit …
Ihr leises Zeugnis von der Schönheit Jesu Christi möge auch in dein Herz flüstern und dir den gleichen Halt schenken, den meine Oma stets hatte, den Trost, der sie durch schwere Zeiten getragen hat, und den Mut, ihr Leben aus Liebe zu geben; ihr Vertrauen in den, der nie von ihrer Seite gewichen ist und der sich ihr im Sterben zeigte. Er nahm ihr alle Ängste und schenkte ihr die Zuversicht, dass der Himmel für sie offenstand wie einst bei Stephanus.
„Schau, Michael, wie wunderschön Jesus ist“, höre ich sie immer und immer wieder flüstern, seit nun mehr als 37 Jahren. Und deshalb flüstere auch ich es jetzt in diese Welt hinaus: „Seht her, wie schön ER ist.“
Mögest auch du sehen, wie schön ER ist … Sein Name ist JESUS!
Kapitel 3: Bett-Flüstern
Ich hatte, wie vielleicht die meisten von euch wissen, keine unbeschwerte Kindheit. Die einfachsten Dinge waren für mich oft Lichtjahre weg. Ich wurde verletzt, gedemütigt und kannte kaum meinen Wert. Mein Papa, der 2010 verstarb und mit dem ich mich fast drei Jahre zuvor versöhnen durfte, war Alkoholiker, und mit dem Arbeiten hatte er es auch nicht so. So war mir damals wie heute meine Mama ein Fels in der Brandung. Sie leistete oft Unmenschliches, obwohl sie es selbst nicht einfach hatte. Noch heute habe ich ihr so viel zu verdanken.
Wir wohnen nun gemeinsam in einem Haus, und sie ist uns in vielen Bereichen eine Stütze. Während ich dieses Kapitel schreibe, kocht sie ein leckeres Mittagessen im unteren Stockwerk in unserer Küche. In Kürze sitzen wir alle gemeinsam wieder an einem Tisch wie fast jeden Tag. Ach ja, Mama, falls du das jetzt liest, du und der Rest der Welt sollen es wissen, dass ich dich liebe und ehre!
Ich durfte vor einigen Jahren lernen, über Gefühle zu sprechen, und sage das meiner Mama und meinem Umfeld immer und immer wieder. Je mehr ich das tue, desto mehr beschenke ich mich auch selbst dabei. „Ehre jeden Menschen“, steht im 1. Petrusbrief.1 Ja, wenn wir Freude schenken, beschenken wir uns dabei selbst. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch: Wenn wir verletzen, verletzen wir uns dabei selbst …
Doch trotz meiner Mama, meiner Oma und meiner geliebten Tante Elfriede, fehlte mir ein liebevolles männliches Vorbild, und das entdeckte ich mehr und mehr bei meinem geliebten Onkel Heinz. Was für ein toller Mann! Er war Jahrgang 1930 und kam aus Berlin.
Er war sooooo schlau. Für mich war er wie ein persönliches Wikipedia und Google in einer Person. Stets hatte er einen Rat. Tante Elfriede und Onkel Heinz wohnten nur 200 Meter von Oma und Opa entfernt. Fast jeden Sonntag gingen wir zusammen spazieren, meine Familie und die beiden.
Heinz und ich „seilten“ uns stets ab und gingen oft hunderte von Metern voraus. Ich saugte alles auf, was er zu sagen hatte. Er bemerkte meine Unsicherheit und brachte mir die ersten Tricks zur Selbstverteidigung bei. Er sagte mir immer wieder: „Junge, wenn du einmal wegläufst, dann läufst du immer weg. – Steh aufrecht! – Halte dem Blick stand! – Sag, wenn du etwas nicht möchtest! – Erhebe deine Hände und beschütze deinen kleinen unsichtbaren Gartenzaun! – Und wenn jemand alle Warnungen ignoriert und dir weh tun will, dann betonierst du ihm sofort eine!“ Boah, er war so mutig, so stark, das Gegenteil von mir. Deshalb bewunderte ich schon immer Muhammad Ali, Bruce Lee und Bud Spencer. Sie alle waren ein wenig wie Onkel Heinz.
In manchen Zeiten war ich täglich bei meinem „Onkele“. Er spürte, wenn es mir nicht gut ging, wenn andere mich verletzten, und oft sprach er mich direkt an: „Bist du aufrecht gestanden? Hast du den Blick gehalten? Und hast du deinen unsichtbaren Gartenzaun verteidigt?“ Immer und immer wieder musste ich verneinen; ich war einfach zu mutlos. Es waren jedoch nicht nur die körperlichen Angriffe oder Beleidigungen, es gab auch dieses Flüstern hinter meinem Rücken, welches tief in meinem Herzen heftige Schmerzen verursachte, zusammen mit den hämischen Blicken. – Bis der große Tag kam.
Ich war in der ersten Klasse, 1976, als ich wieder mal mitten im Unterricht zutiefst beleidigt und sogar hinter dem Rücken des Lehrers verletzt wurde. Da schossen mir Onkel Heinz’ Worte durch den Kopf: „Wer einmal wegläuft, der läuft immer wieder weg.“ In diesem Bewusstsein, hier und jetzt, fasste ich den Entschluss, nicht mehr alles mit mir machen zu lassen. Ich stand auf – ja ich stand sogar aufrecht – und erhob meine Stimme. Und dann „betonierte“ ich meinem Peiniger eine „voll auf die Zwölf“. Der Schlag saß! Mitten im Unterricht brach ich ihm die Nase.
Natürlich hatte das Konsequenzen, ohne sie jetzt hier beschreiben zu wollen. Doch die waren mir egal. Ich war aufgestanden, das war das Einzige, was zählte. Voller Stolz berichtete ich meinem Onkel von meiner Tat. Klar, dass kaum jemand verstand, was da wirklich geschehen war; sie sahen nur, dass ich „Gewalt angewendet“ hatte. Aber mein Onkele und meine Mama, die blickten durch und freuten sich.
Von diesem Tag an hatte ich Ruhe vor dem Typen. Im Gegenteil, wir wurden sogar Freunde, und diese Freundschaft hält nun schon seit 44 Jahren!
Nein, ich heiße es nicht gut, was ich tat, und ich lehre auch, dass jeder vermiedene Kampf ein gewonnener Kampf ist und dass die eleganteste Art, dem Gegner die Zähne zu zeigen, ein Lächeln ist. Doch dort, wo wir jeden Tagen hingehen, wie zur Schule, zur Uni oder zum Arbeitsplatz, können wir nicht täglich fliehen, sonst sind wir jeden Tag auf der Flucht und können uns nicht frei und unbeschwert entfalten. Damals in meiner Klasse gab es für mich nur diesen einen Weg; zumindest erkannte ich in meiner Hilflosigkeit keinen anderen. Ich hatte irgendwie meinen Stand einnehmen müssen.
***
Doch leider war ich damit noch immer kein Held geworden, der immer seinen Mann stand. Die Prägung meiner jungen Seele konnte ich nicht einfach so mit einem Wisch wegfegen. Die Demütigungen zu Hause, in der Schule und nicht selten auch in der Freizeit blieben.
Ich muss so zehn Jahre alt gewesen sein, als mir das alles zu viel wurde und ich nicht mehr wusste, wie mein kleines Herz es noch aushalten sollte. Und so kam es, dass ich eines Tages auf den Gleisen stand, mit Blick sowohl auf unsere Dorfkirche, wo ich so oft Zuflucht gefunden hatte, als auch auf mein Elternhaus. Ich konnte und wollte nicht mehr. Mein Leben schien mir aussichtslos. Mir war klar, dass sich so schnell nichts ändern würde – weder morgen noch in fünf Jahren. Ich war täglich der Gewalt, der Armut, dem Hohn