Michael Stahl

Himmlisches Herzflüstern


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da kniete ich mich vor ihr hin und bat sie um Vergebung für all die Liebe, die ich ihr nicht gebracht hatte, und wo ich an ihr schuldig geworden war. Sie nahm mich behutsam in ihre Arme, küsste meine Tränen weg und sagte: „Ich hab’ dich lieb, mein Guter!“ Und dann fragte ich sie: „Weißt du, dass Jesus dich liebhat?“ „Ja, das habe ich nie vergessen!“, flüsterte sie liebevoll zurück.

      Leider kam dann die Zeit, als wir auch nicht mehr gemeinsam weggehen konnten, nicht mehr auf den Friedhof, nicht in die Kirche, um gemeinsam zu beten, und nicht mehr zum Kaffeeplausch ins Café unseres kleinen Städtchens …

      Vor Kurzem, bei einer gemeinsamen Fahrt durch unser Dörfchen zeigte sie liebevoll auf den kleinen Hügel, auf dem ihr Häuschen stand. Wortlos, mit feuchten Augen, zeigte sie mit ihrem Zeigefinger in Richtung des Hauses, in dem es so oft nach frisch gebackenem Kuchen, nach Rouladen oder heißem Kakao gerochen hatte. Ihr sehnsüchtiger Blick mit dem empor gehaltenen Finger erinnerte mich an „E.T.“, als der in einer Szene sagte: „Nach Hause gehen ...“

      Ja, das ist es: Nach Hause gehen. So viele Sterbende flüsterten dies in mein Ohr – meine Oma, mein Papa und so viele andere auch.

      Vor wenigen Wochen besuchte ich Tante Elfriede, und sie hielt gerade einen Mittagsschlaf. Süß, wie sie aufwachte; ein Lächeln verzauberte ihr Gesicht. Ich setzte mich an den Bettrand und hielt ihre Hände. Auf einmal erkannte sie mich: „Bist du es?“ „Ja, Dodo“, so nenne ich sie seit Kindheitstagen. „Ich bin es, Miggi!“ „Es ist gut, dass du da bist“, flüsterte sie leise mit einem kleinen Lächeln.

      Ich legte meinen Kopf auf ihren Oberkörper und sagte ihr, wie sehr ich sie liebe. Und dann fing ich an, unser Gebet zu sprechen. Ganz sachte, fast schon zärtlich, flüsterte sie mit: „Dich, o Jesus, bet’ ich an … “ Dann flüsterten wir beide das Vaterunser, das Jesus uns selbst gelehrt hat. Sie sprach fast alles mit. Wenn auch das meiste andere vergessen schien oder die Worte irgendwo verschüttet waren, das Beten ging. Und gemeinsam sangen wir noch ein Lied. Es war ein Stück Himmel, mit ihr zum himmlischen Papa zu sprechen …

      Bei jedem Besuch flüstere ich ihr meine Liebe ins Ohr und immer wieder: „Jesus liebt dich.“ Oft huscht dabei ein Lächeln über ihr Gesicht. Alles, was wir aus Liebe tun oder sagen, bleibt in Ewigkeit …

      Kapitel 5: Papas Flüstern

      Seit mein Papa seinen Segen dazu gab, unsere Geschichte zu erzählen, habe ich das unzählige Male in vielen Einrichtungen getan. Oft wurden Herzen berührt, und nicht selten versöhnten sich Menschen im Anschluss daran. Erst vor wenigen Wochen saß eine etwa sechzigjährige Dame in meinem Vortrag. Im Anschluss kam sie auf mich zu und erzählte mir von ihrem Hass und ihrer Bitterkeit und dass sie keine Liebe für ihren Vater empfinde. Sie meinte, es sei Heuchelei, wenn sie Liebe ausspräche, aber Hass empfinde. Ich sagte ihr, ich sei der festen Überzeugung, dass Liebe stets eine Entscheidung ist.

      Als ich 2007 zu meinem Papa gegangen war, um ihm meine Liebe auszusprechen und ihn um Verzeihung zu bitten, da hatte auch mein Verstand rebelliert und mir tausend Gründe angeboten, dies nicht zu tun. Doch gegen alle tausend Gründe hatte meine Entscheidung festgestanden, und ich hatte Gott gebeten, mich bei meinem Vorhaben zu unterstützen.

      Zwei Wochen nach dem Vortrag schrieb die Dame mir, sie habe das Unmögliche getan. Nach Jahrzehnten der Streitigkeiten, nach Hass und vielen Kämpfen, habe sie Jesus gebeten, ihr dabei zu helfen, zu ihrem Papa zu gehen und ihm Liebe auszusprechen. Um nicht enttäuscht zu werden, war sie diesen schweren Weg ohne Erwartung gegangen. Liebe erwartet nichts. Sie hofft und ist bereit, alles zu geben.

      An diesem besagten Tag saß ihr (über 80 Jahre alter) Papa im Garten und wurde durch das Liebesflüstern seiner Tochter bis tief in sein Herz getroffen. „Ich liebe dich, Papa“, flüsterte sie ihm zu. Gegen alle Hassgefühle tat sie das schier Unfassbare. Ihr Papa weinte den ganzen Nachmittag. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Nun sind beide nach Jahrzehnten von Streit und Bitterkeit endlich frei.

      Ja, das war der Wunsch meines Papas gewesen, dass sich durch unsere Geschichte mehr und mehr Menschen versöhnen würden und letztendlich Gott fänden und ihn lieben lernten.

      Bis zu meinem 37. Lebensjahr hatten wir sehr schwere Kämpfe miteinander gehabt. Trotz aller Turbulenzen schenkte ich ihm allerdings zu jedem Weihnachtsfest eine Kleinigkeit. Irgendwie dachte ich, das gehöre sich so. Doch stets war es irgendwie lieblos gewesen. So auch 2006. Ich schenkte ihm ein Rasierwasser und ein paar selbstgebackene Kekse. Etwa zwei oder drei Wochen später sahen wir uns wieder. Schon von Weitem schrie er mir entgegen: „Die alten Kekse kannst du in Zukunft selber fressen!“

      Ich war schockiert wegen des Gebrülls und der hasserfüllten Worte. „Du undankbarer Mensch, ich will nie wieder was mit dir zu tun haben, geh mir aus den Augen!“, schrie ich zurück.

      Doch heute weiß ich, was er mir eigentlich sagen wollte. Er wollte mir etwas ganz, ganz anderes aus seinem Herzen mitteilen; eigentlich wollte er mir etwas zuflüstern, was er aber nie gelernt hatte, was man ihm nie beigebracht oder vorgelebt hatte. Er wollte mir zuflüstern: „Miggi, jedes Weihnachten war ich alleine, ich wäre so gerne bei dir gewesen, weil ich dich so liebhabe.“ Das war es, doch er konnte es nicht. Und mir hatte keiner beigebracht, sein Gebrüll richtig zu verstehen.

      Wenn Menschen uns also beleidigen und anschreien, sollten wir vielleicht darauf achten, was sie uns aus dem Grunde ihres Herzens wirklich flüstern wollen: vielleicht eine Kostbarkeit, die nur total verdreht herauskommt? Das gilt natürlich auch für dich und mich, bevor wir brüllen und beleidigen. Um was geht es tatsächlich? Was wollen wir unserem Gegenüber wirklich zuflüstern?

      Mein Papa und ich gingen uns noch viele Monate lang aus dem Weg. Mein Herz wurde immer schwerer und bitterer – bis der große Tag kam, an dem Gott mein Herz stark berührte und mich zu meinem Papa führte. Dort, in der kleinen Kneipe, in Gastzimmer Nr. 5, flüsterte ich ihm mitten aus meinem Herz zu, was ich schon viel, viel früher hätte tun sollen: „Papa ich wollte dir nur sagen, dass ich dich sehr liebhabe, und bitte vergib du mir.“ Nach Schweigen mit großem Erstaunen flüsterte er mitten in mein Herz, worauf ich 37 Jahre voller Sehnsucht gewartet hatte; weshalb ich krampfhaft jahrzehntelang Kampfsport ausübte, in den Sicherheitsdienst ging und Urkunden sammelte …

      „Immer hab’ ich dich liebgehabt, Bub! Leider konnte ich es dir nie sagen, bitte vergib mir!“

      Papas Liebesflüstern veränderte mein ganzes Leben. Ich beendete meine Tätigkeit im Sicherheitsdienst. Kampfsport betrieb ich nur noch aus Freude, fern von jedem Druck und Leistungsdenken. Ich versöhnte mich mit vielen in meinem Umfeld. Endlich entdeckte ich auch Gott als Papa, was mir fast 37 Jahre fremd war. Durch das Flüstern meines himmlischen Papas heilte mein Herz zunehmend und ich konnte es mit vielen Menschen teilen.

      „Ich will euch ein neues Herz geben“, flüstert Gott uns allen zu. Das erlebte ich an meinem irdischen Papa. Er hörte mit dem Trinken auf und seine ganze Art veränderte sich; aus Bitterkeit wurden Dankbarkeit und Freundlichkeit. Aus Fluchen und Schreien wurden geflüsterte Gebete.

      Ja, um das irgendwie mit der heutigen Zeit zu vergleichen: Es ist wie ein Virus – total ansteckend, dieses Liebesflüstern.