Bernhard Wucherer

Der Geheimbund der 45


Скачать книгу

Zürich und vielleicht sogar nach Basel! Und dabei müssen die Salzroder auch an Ysinensi vorbei …«

      »Oder besser noch«, begann Marquard, der derzeit amtierende Abt von St. Georg, das, was Graf Wolfrad gesagt hatte, zu ergänzen. Bevor er seinen Satz vervollständigte, lachte er triumphierend auf. »… mitten durch Ysinensi hindurch!«

      »Ja!«, bestätigte einer von Hannes Eberz’ Nachfolgern und setzte forsch drauf: »Wir müssen in jeder Hinsicht wachsam sein, um das Stapelrecht zu bekommen!« Der neue Mair von Ysinensi schien wie die meisten seiner Vorgänger ebenfalls ein vernünftiger Mann zu sein.

      »Ihr wollt das Stapelrecht für Ysinensi?«, freute sich der Graf und sagte den anderen zu, alles dafür zu tun, um die Salzfuhrwerker zu verpflichten, in Ysinensi Station zu machen. »Weil wir noch kein offizielles Stadtrecht besitzen, kann ich nichts versprechen«, gab er zu bedenken, strahlte aber gleichzeitig die Hoffnung aus, es noch in diesem Jahr irgendwie hinzubekommen, dass Ysinensi von durchziehenden Kaufleuten verlangen dürfe, ihre Waren für einen noch zu bestimmenden Zeitraum auf dem Stapelplatz abzuladen und hier in Ysinensi den Kaufinteressierten anzubieten. »Sie könnten dann durch das Wassertor und das Viehtor zum Marktplatz gelangen!«

      Weil seine Zuhörer zwar skeptisch waren, das begehrte »Stapelrecht« tatsächlich zu bekommen, aber dennoch zufrieden mit den Planungen ihres Grundherren, herrschte im Refektorium Aufbruchsstimmung.

      *

      Wie erfreut wären die Vorgänger des amtierenden Mairs gewesen, wenn sie es hätten miterleben dürfen, dass Ysinensi das begehrte Stapelrecht tatsächlich noch im selben Jahr erhalten hatte. Und wie stolz wären sie erst gewesen, wenn sie mitbekommen hätten, wie die mächtigen Welfen und der bayerische Herzog Heinrich der Löwe Ysinensi auch noch das Marktrecht verliehen hatten. Denn lange bevor Ysinensi diese Privilegien offiziell erhalten hatte, war von ihnen der Grundstein für den weiteren Ausbau zu einem bedeutenden Handelsstützpunkt gelegt worden. Ysinensi, das aufstrebende Allgäuer Dorf am Rande des westlichen Schwabens, hatte nicht nur das Stapelrecht, sondern durfte sich zudem auch noch als Markt bezeichnen. Und damit gingen einige gewinnversprechende Rechte einher, aber auch Verpflichtungen. Eine davon war, bei Wochen- und Jahrmärkten den sogenannten »Königsfrieden« zu wahren. Dabei standen sowohl die Händler als auch die Besucher unter dem Schutz der marktführenden Stadt, also des jeweiligen Mairs. Streitigkeiten wurden stets vor Ort ohne den Formalismus des Landesrechts entschieden. Denn der Marktherr musste die uneingeschränkte Freiheit des Handelsverkehrs sowie die Sicherheit der Straßen und Wege garantieren. Außerdem hatte er dafür zu sorgen, den Handel durch den Umlauf von Münzen zu erleichtern. Dafür durfte er von den Verkäufern einen Marktzoll einfordern. Außerdem hatte der Marktleiter dafür zu sorgen, dass die örtliche Kaufmannschaft vor Konkurrenz geschützt wurde – eine nicht immer leichte Aufgabe, die den künftigen Dorfvorstehern und Bürgermeistern von Ysinensi zunehmend Sorgen bereite würde.

      Hannes Eberz hatte auch nicht mehr miterleben dürfen, wie die Dorfkasse durch den zunehmenden Wohlstand der Kaufleute und somit auch der Handwerker und Bauern ebenso gefüllt wurde wie durch Steuern, Ungelder und Zölle, die nun auch von reisenden Händlern entrichtet werden mussten. Wenn auch das meiste davon an den Grundherrn und von dort aus noch weiter geleitet werden musste, blieb für Ysinensi immer noch so viel übrig, dass die Dorfentwicklung weiter vorangetrieben werden konnte. Dennoch ärgerte es die Menschen, dass die Abgaben »nach oben hin« immer höher stiegen.

      »Früher hat es geheißen ›Der Graf nimmt’s, der Graf gibt’s‹. Heute nimmt er nur noch!«, schimpften die Leute und hofften inbrünstig, dass sich dies irgendwann ändern würde.

      *

      Seit dem Tod des Dorfvorstehers Hannes Eberz hatte sich innerhalb der Familie viel verändert. Nicht nur aus seinem Sohn Peter war ein erfolgreicher Kaufmann geworden, auch all dessen Geschwister waren aufgestiegen. Und deren Kinder und Kindeskinder befanden sich ebenfalls schon auf bestem Weg, es zu etwas zu bringen. Insbesondere Peters zweitältester Enkel Godehard bereitete der Familie viel Freude, weil er wie sein Großvater hervorragend mit Zahlen umzugehen wusste. Aber auch Peters ältester Enkel Paul schien ein kluger Knabe zu sein. Allerdings hatte die Art und Weise, wie Paul in seiner Kindheit mit seiner Begabung umgegangen war, die Eltern zutiefst verunsichert. Denn Paul hatte schon als sechsjähriger Knabe Fröschen Strohhalme in den Hintern gesteckt, um sie aufzublasen – damit hatte er sie beileibe nicht quälen, sondern lediglich in Erfahrung bringen wollen, ob mit Luft gefüllte Frösche tauchen konnten. Als er später Ratten gefangen und bereits tote Katzen oder andere Tiere aufgeschnitten hatte, um zu sehen, was sich im Inneren von deren Bäuchen befand, war Pauls Eltern nicht nur einmal übel geworden. Sie hatten sich große Sorgen darüber gemacht, dass ihr Sohn der Narretei verfallen sein könnte, und ihn nach jeder Verfehlung so lange eingesperrt, bis Paul hoch und heilig Besserung gelobt hatte. Aber Pauls Schwüre hatten nie lange gehalten. Beim letzten Mal hatte ihn die Mutter erwischt, wie er den vom Fell befreiten Schädel eines toten Hundes an einen Strick gebunden hatte, um ihn im Stadtbach zu versenken, damit die Fische den Rest erledigen würden. »Ich wollte doch nur sehen, wie Hundekiefer funktionieren, weil die so fest zubeißen können!«, hatte der zu einem beachtlichen Burschen herangereifte Paul zu seiner neuerlichen Entschuldigung gesagt … und war wieder eingesperrt worden.

      *

      Von alledem hatte Peters Berufskollege und Freund Melchior Habisreitinger nichts gewusst. Er hatte nur mitbekommen, dass Paul ein überaus kluger Knabe war, aus dem unbedingt ein Studiosus werden musste. »… Arithmetik vielleicht?«, hatte Melchior vorgeschlagen und ergänzt, dass Rechnen schließlich die Grundlage für den Erfolg eines guten Kaufmannes sei. »Was würdest du davon halten, wenn ich deinen von Gott gewollt klugen Enkel bei meiner nächsten Handelsreise in die italienischen Lande mitnehme, damit er dort ein Studiosus werden kann?«, hatte Melchior seinen verdutzt dreinschauenden Freund gefragt, weil er dessen Leid nicht mehr hatte mit ansehen können. Peters Frau Elsebeth war vor einem Jahr den Folgen eines Arbeitsunfalles erlegen. Zu allem hin waren kurz darauf auch noch sein Sohn und seine Schwiegertochter an der Roten Ruhr verstorben, einer der vielen unerklärlichen Epidemien, die über das Land hinweggefegt waren wie ein Totenheer und auch in Ysinensi etliche Opfer gefordert hatten.

      Um den Kraftakt zu schaffen, die alleinige Erziehung seiner Kinder und seiner Enkelkinder mit dem Geschäft unter einen Hut zu bekommen, hatte der gutmütige und gottesfürchtige Peter eine Haushälterin nehmen müssen, die viel Geld gekostet hatte – von der Amme für seine kleinste Enkeltochter ganz zu schweigen. Er hatte das zweifelhafte Glück gehabt, dass das neugeborene Kind einer Nachbarin dem Kindstod zum Opfer gefallen war, weswegen sie Milch gehabt hatte, die sie Peters kleiner Enkelin gegen gutes Geld hatte zur Verfügung stellen können.

      Trotz des schweren Herzens bei dem Gedanken, seinen Enkel Paul vielleicht nie mehr wiederzusehen, hatte der fürsorgliche Großvater erwogen, um des Kindeswohls willen auf Melchiors Vorschlag einzugehen.

      »Glaub mir, Peter, das ist das Beste für den Knaben!«, hatte der in Reisen erfahrene Kaufmann mehrmals gesagt und dazu immer wieder bemerkt, dass er freundschaftshalber auf das Kostgeld für Paul während der wochenlangen Reise in die italienischen Lande verzichten würde. »Und du hast dann einen Esser weniger zu Hause!«

      Peter hatte die Wangen aufgebläht und fest Luft ausgestoßen, bevor er zustimmend genickt und in resigniertem Ton bemerkt hatte, dass er dann immer noch sechs Mäuler zu stopfen habe.

      Ein knappes Jahr später war es dann zum schmerzlichen Abschied gekommen. Während Paul mit »Onkel Melchior« mitgegangen war, ohne eine einzige Träne vergossen zu haben, hatten sich seine Geschwister und der Rest der Familie die Augen ausgeheult.

      Kapitel 9

      Dass sich der Geheimbund »Gladius Dei« im Laufe der Jahre zunehmend radikalisiert hatte und längst mit sich selbst genauso gnadenlos umging wie mit denjenigen, die mit dem Verschwinden des Amuletts in Zusammenhang gebracht werden konnten, sollte sich an diesem regnerischen Novembertag auf grausame Art und Weise zeigen.

      Wie immer bei ihren Zusammenkünften verneigten sich die Mitglieder beim Betreten des sakral wirkenden Raumes vor ihrem Großmeister und küssten das um seinen Hals hängende Amulett. Dann