Bernhard Wucherer

Der Geheimbund der 45


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sie dann über das nur eine Handbreit hohe Feuer hinweg auf das der inneren neun Quadrate treten durften, auf das sie gemäß der ihnen zugewiesenen Ziffer gehörten, mussten sie traditionsgemäß die Arme nach oben strecken und allen vor ihnen angekommenen Verschwörern mit den Fingern ihre Zahl anzeigen. Erst nach einmütigem Nicken der anderen, das von einem wohlwollenden Grummeln begleitet wurde, war ihnen der Zutritt erlaubt.

      Während die neun etwa acht Fuß großen Vierecke innerhalb des großen Quadrates früher mit Kreide auf den Boden gemalt worden waren, weil die Verschwörer ihren Versammlungsraum ständig hatten wechseln müssen, hatte sich dies mit dem vor wenigen Tagen verstorbenen Großmeister Hubertus von Hohenfels geändert. Denn der Ministeriale der Bischöfe von Konstanz hatte die Trennlinien auf dem Steinboden aufwändig mit blutroten Mosaiksteinchen belegen lassen. Als äußere Umrandung diente eine fingerdicke und fast handtiefe Bodenrinne, in die brennbares Öl geschüttet werden konnte.

      *

      Als die vierundvierzig Verschwörer vollzählig waren und alle in ihren Quadraten standen, wurde es so still, dass nur noch das Quietschen von Ratten und das Tropfen von Schwitzwasser zu hören waren. Die Männer wunderten sich darüber, dass zum ersten Mal in ihrer Geschichte zu beiden Seiten eines Großmeisters je zwei Gestalten standen, die ebenso gewandet waren wie sie selbst. Denn bisher waren es immer genau vierundvierzig Männer gewesen, die sich zusammengefunden hatten, um in Einzelgesprächen mit dem jeweiligen Großmeister zu klären, was getan werden musste, wie es weiterging und wie sie ihre Ziele, den Fortschritt der Wissenschaften und der Erforschung des menschlichen Inneren, weiter voranbringen konnten.

      Aus gegebenem Anlass war die Stimmung an diesem ohnehin tristen Tag so bedrückt wie dies bisher nur selten bei den Versammlungen der Fall gewesen war. Die Verschwörer wussten, dass etwas auf sie zukommen würde. Dabei konnten sie aber nicht im Geringsten erahnen, was gleich passieren würde.

      Der neue Großmeister erhob sich aus seinem thronartigen Sessel und ging gemäßigten Schrittes zum Altar ihres neuen Versammlungsraumes, der sich in einem geheimen Kreuzgewölbekeller der Burg Hohenfels auf einer Spornkuppe nordwestlich von Sipplingen befand. Zornig knallte er ein dickes ledergebundenes Buch mit zwei wuchtigen Messingverschlüssen auf den Altar. Dann legte er – was so gar nicht zu dieser bedrückenden, ja sogar beängstigend anmutenden Situation passen mochte – ganz sanft eine Handfläche auf den Einband und begrüßte seine Mitverschwörer, die darauf warteten, was ihnen der von seinem Vorgänger designierte und erst vor Kurzem von ihnen bestätigte Großmeister zu sagen hatte. Es brach mit voller Gewalt über sie herein: »Dies hier ist die Chronik, die unser Gründungs-Großmeister im Jahre des Herrn 1001 angelegt hat, um die Mitglieder unseres geheimen Zirkels über Generationen hinweg wissen zu lassen, was sie erreicht haben und …«, bevor er weitersprach, schüttelte er sein Haupt unter der Kapuze, was dem Auditorium nichts Gutes verhieß, »… wann sie versagt haben!«

      Nachdem er dies gesagt hatte, füllte ein dumpfes Gemurmel den Saal.

      »Und sie haben versagt! Wir haben versagt!«, schrie er so laut, dass es von den feuchten Wänden zurückhallte, während er gleichzeitig auf das rechte Quadrat in der vorderen Reihe zeigte und damit die vier Männer in Unruhe versetzte, die darin standen.

      Der Großmeister ließ ihnen nicht viel Zeit, um sich Gedanken darüber machen zu können, was nun mit ihnen geschehen würde: »Dank des kürzlich verstorbenen Großmeisters hat unser geheimer Bund zum ersten Mal in seiner einhundertsiebzigjährigen Geschichte einen festen Versammlungsraum, von dem außer uns niemand etwas weiß! Dafür kennt ihr jetzt erstmals den Namen eines toten Großmeisters! Dies kann zu einer Katastrophe führen! Denn wenn bekannt werden sollte, dass der verstorbene Burgherr, Hubertus von Hohenfels, der Großmeister unseres geheimen Bundes gewesen ist und dass er uns diesen geheimen Raum – wie er es hier in diesem Buch schriftlich bestätigt hat – ›für alle Zeiten‹ zur Verfügung stellt, sind wir und unser Bund dem Tode geweiht! Denn das was wir tun, ist bei Todesstrafe verboten!«

      Er zeigte auf seine Mitverschwörer und sagte in nunmehr leisem Ton: »Ihr alle wisst jetzt davon! Und dass es so weit kommen konnte, haben wir vieren von euch zu verdanken!«

      Als sie dies hörten, wurden die vier Männer noch unruhiger, als sie ohnehin schon waren.

      »An euch wäre es gelegen, unserem schwerkranken Großmeister das Amulett abzunehmen, bevor dessen Verwandte merken konnten, dass er einem geheimen Zirkel vorstand! Obwohl ihr gewusst habt, dass Hubertus von Hohenfels in absehbarer Zeit sterben wird, habt ihr so lange gesäumt, bis sein Sohn ihm das Amulett abgenommen hat. Ihr alle wisst, dass es gemäß der Prophezeiung unseres ersten Großmeisters bei einem neuerlichen Verschwinden des Amuletts vier Sühnetote geben muss!«

      Der Großmeister hielt inne, bevor er die Versager anschrie und ihnen deutlich machte, dass das Amulett als verschwunden gewertet werden musste, weil es nicht mehr im Besitz des Großmeisters gewesen war, … auch wenn es die Burg wahrscheinlich nicht verlassen hatte.

      »Nur gut, dass es ein anderer von uns dem jungen Hohenfelser unbemerkt stehlen konnte. Wie ich aber gehört habe, hat der junge Herr die Motive auf dem Amulett abgezeichnet, um sie sich von einem Mystiker deuten zu lassen. Und allein schon deshalb, weil wir diese Zeichnungen nicht gefunden haben, leben wir ab sofort in ständiger Gefahr, enttarnt zu werden! Normalerweise müsste der junge Herr für den kurzzeitigen Besitz des Amuletts sterben. Weil aber sein Vater unser Großmeister gewesen ist und uns diesen wunderschönen Raum zusammen mit dem geheimen Pfad hierher und einem nicht entdeckbaren Einlass geschenkt hat, werden wir ihm nichts antun! … Außerdem dürfen wir kein Aufsehen in der Burg erregen!«

      Der Großmeister hielt wieder inne. Dann sagte er, dass der Prophezeiung dennoch Genüge getan werden müsse, was hieß, dass vier Menschen ihr Leben lassen mussten.

      Von diesem Moment an war den Männern im rechten vorderen Quadrat klar, dass sie sterben würden.

      »Was habt ihr zu eurer Verteidigung zu sagen?«, mochte der Großmeister wissen, um die vier aus der Reserve zu locken und sie zum Sprechen zu bringen. Denn sollten sie dies tun, würden sie zu allem hin auch noch gegen das Schweigegelübde des »Gladius Dei« verstoßen.

      Und dies taten sie auch. In ihrer Todesangst sprudelte es aus den Beschuldigten nur so heraus. Mit erhobener Hand gebot der Großmeister den Ausreden der vier Todgeweihten Einhalt, indem er mahnte: »Habt ihr vergessen, dass ihr ein Schweigegelübde abgelegt habt?«

      Nun wussten die vier, dass sie auf die Finte des gerissenen Mannes hereingefallen waren und er sie nun mit Recht töten lassen durfte. Da half weder das gotterbärmliche Flehen, noch das Ziehen ihrer Schwerter. Auf Geheiß des Großmeisters traten acht andere Verschwörer aus ihren Quadraten und hielten die vier fest.

      »Ich habe hier vier neue Mitglieder, die euch ersetzen werden! Aber seid unbesorgt; nach eurem Tod werdet ihr der Wissenschaft dienen!«

      Dann ging alles ganz schnell und die vier lagen tot in ihrem Quadrat.

      »Erde, Feuer, Luft und Wasser!«, rief der Großmeister und ergänzte in beschwörendem Ton, dass die Vier ebenso eine zeitliche Orientierungs- und Ordnungszahl sei, wie der Mondlauf aus vier Phasen bestehen würde. »Dem Protokoll ist Genüge getan, also muss die Prophezeiung noch nicht erfüllt werden!«, rief der Großmeister den anderen zu, die zum Zeichen dafür, weiterhin für ihre Sache kämpfen zu wollen, ihre Schwerter zogen und nach oben reckten. »Und nun lasst uns klären, wie wir es endlich fertigbringen, weit mehr Ärzte für Leichenöffnungen zu gewinnen als bisher.«

      Das montfortische Burgum »Domum Ulrici«

      Anno Domini 1257

      Die magische Zahl V

      Kapitel 10

      Nicht nur bei den Geheimbündlern, sondern auch im gesamten ehemaligen Herrschaftsgebiet derer von Altshausen-Veringen hatte sich viel geändert. So hatte sich auch die Bevölkerung von Isine, wie sich das Dorf inzwischen nannte, bereits seit einiger Zeit an einen zusätzlichen Potentaten gewöhnen müssen. Dem Grafen von Montfort-Bregenz gehörte inzwischen das Gebiet südlich der Stadt – eine mehr als heikle Situation