Stunden später verließ Linda Roloff Tübingen und fuhr durch das spätsommerliche Neckartal über Hirschau und Wurmlingen auf den Autobahnzubringer zur A 81 Stuttgart – Singen. Am Rasthof Hegau genehmigte sie sich einen Espresso und freute sich beim Anblick der Hegauvulkane auf den Nachmittag am Bodensee.
Sie dachte nicht, dass sie länger bleiben würde.
Sie ahnte nicht, was sie erwartete.
12
Der Uaso Nyiro, den die Weißen Brauner Fluss nennen, gleicht einer trägen Riesenschlange, die das Land der Samburu in zahlreichen Schleifen und Bögen durchquert, der Weg gesäumt von Dumpalmen und roten Sandbänken, ursprünglich und wild, schroff und schön zugleich. Die Ufer Heimat der großen Grevyzebras, deren enge Streifenzeichnung sie von ihren südlicheren Artgenossen unterscheidet.
Die kleine Herde war auf dem Weg zum Fluss hinunter und trabte zielstrebig über die Akaziensavanne am Farmhaus der Shamba Kifaru vorbei. Die gestreiften Wildpferde mit der aufgestellten Nackenmähne und ihren großen Fledermausohren hatten den heißen Tag im Schatten des Buschlands verbracht, das sich in sanften Hügeln ansteigend bis zum Horizont erstreckt, wo es in den mächtigen Felsbrocken der Sambururange seine Grenzen findet.
Drüben, am jenseitigen Ufer des Uaso Nyiro, waren die Hälse der Netzgiraffen zu entdecken, deren feine Zeichnung sie anmutiger erscheinen lässt als die größeren Massaigiraffen, die in der Serengeti und am Mara leben. Drei Dutzend der prähistorisch anmutenden Langhälse zogen in zwei Linien am Fluss entlang, die einen unten im trockenen Randbereich des Betts, die anderen eine Etage höher in der Böschung, wo grüne Feigen reichlich Nahrung boten. Einige der Tiere näherten sich vorsichtig dem Ufer, spreizten umständlich die Beine und reckten ihre Hälse zum Wasser, um zu trinken. Verzerrt spiegelte sich ihr Bild an der Oberfläche, und der graugrüne Baumstamm, dessen gezackte Rinde aus der braunen Flut ragte, trieb fast regungslos auf die Giraffen zu. Plötzlich war er verschwunden, untergetaucht im trüben Sud. Die Schnauzen der Giraffen erhoben sich, Wasser triefte von ihren Lefzen, da verriet ein leichter Strudel die Gefahr. Mit einem Ruck fuhren die Hälse nach oben, die Beine streckten sich durch und mit zwei raschen Sprüngen, die man den behäbigen Tieren nie zugetraut hätte, begaben sie sich aus der Gefahrenzone.
Das Krokodil schoss aus dem Wasser, schäumende Gischt peitschte ans Ufer und überschwemmte die Stelle, wo die Hufe der Giraffen kleine Löcher im Schlamm hinterlassen hatten. Eine Schar Gelbkehlfrankolins flatterte erschrocken auf, doch der gepanzerte Räuber war zu schnell. Gewaltig packten die zahnbewehrten Kiefer zu, schlossen sich um einen der hühnergroßen Vögel und zogen die Beute, die jetzt nicht mehr war als ein Knäuel aus Federn, Knochen, Fleisch und Blut, in das braune Wasser. Sekunden später war nichts mehr von dem Angreifer zu erkennen, kein Strudel, keine Bewegung auf dem ruhig dahingleitenden Strom. Zögernd kehrten die Frankolins zurück, um erneut ihren Durst zu löschen, nur die Giraffen trauten sich nicht mehr heran.
Ein paar Meter stromabwärts ragte jetzt die gezackte Rinde des graugrünen Baumstamms aus dem Fluss, wie von Zauberhand in der Strömung festgehalten. Das Licht der langsam über den Dumpalmen sinkenden Sonne zauberte Farbenspiele auf Land und Wasser, bronzen leuchteten die kurzhaarigen Felle der Impalas und fast schwarz glänzte die borstige Haut des kapitalen Warzenschweinkeilers, der mit eingeknickten Vorderläufen im morastigen Uferschlamm nach Nahrung suchte.
Die Frau, die auf der Terrasse der Shamba Kifaru die letzten Sonnenstrahlen genoss, setzte das Fernglas ab und blickte zu der Dunstsäule, die das näher kommende Fahrzeug schon von Weitem ankündigte. Ein Besucher um diese Zeit?, dachte sie und sah auf ihre Armbanduhr. Von den Fahrern war keiner mehr mit Touristen auf der Farm unterwegs, die nächsten Neuankömmlinge wurden erst in zwei Tagen erwartet, und Freunde und Nachbarn kamen nur aus ganz besonderen Gründen noch so spät auf die abgelegene Shamba, da es auch in ruhigen Zeiten riskant war, sich hier im Gebiet somalischer Shiftas nachts allein auf den Straßen herumzutreiben.
Auch sie hatten nach Sonnenuntergang Patrouillen laufen, junge Samburus, die sich lieber auf diese Weise ihr Geld verdienten als bei traditionellen Stammestänzen für die Touristen der Lodges im Reservat. Doch sie waren nicht etwa zur Sicherheit der Gäste angeheuert worden, sondern wegen der vierbeinigen dickhäutigen Bewohner der Shamba Kifaru, die hier besonderen Schutz genossen, denn die Farm im Norden war eines der letzten Refugien für Schwarze und Weiße Nashörner in Kenya.
Jede Bewegung der Tiere wurde mittels im Horn versteckter Mikrochips per GPS überwacht und von einem Computer aufgezeichnet. Die Chips wurden, von außen nicht sichtbar, in die Hörner eingepflanzt, und so war es nicht nur möglich, lebende Tiere ständig zu beobachten, sondern auch die Auftraggeber und Hintermänner des internationalen Handels mit gewildertem Nashorn aufzudecken. Jedes Tier, das auf der Farm von Georgia Marsh mit einem Minisender ausgestattet und anschließend ausgewildert wurde, barg ein Risiko für die Wilderer in sich, denn um den Sender zu entfernen und unbrauchbar zu machen, musste das Horn aufgebrochen werden und zerstörtes Horn war für den Handel wertlos.
Auf die stattliche Zahl von 15 Schwarzen und fast 30 Weißen Nashörnern war die Anzahl der Schützlinge von Georgia Marsh inzwischen angewachsen, die in den letzten Jahren erfolgreich ausgewilderten Tiere nicht mitgezählt.
Auf der Nashornfarm waren die Tiere sicher, die wenigen Mitarbeiter Georgias waren zuverlässig und kontrollierten täglich das Gelände. Touristen, die sie auf die Safaris mitnahmen, sorgten für eine sichere Einnahmequelle. Das über 250 Quadratkilometer umfassende Gebiet der Farm war durch einen 5000-Volt-Zaun geschützt und hier im Norden bildete der Uaso Nyiro die natürliche Grenze.
Shamba Kifaru – Moses Kyalo Nderi las die großen weißen Buchstaben, die über der Zufahrt zur Farm auf ein morsches graues Brett gemalt worden waren. Die holprige Fahrt im Nissan hatte über eine Stunde gedauert, die Shamba der weißen Frau lag weitab der üblichen Verbindungsstraßen und war nur über waschbrettartige Holperpisten, meist ehemalige Wanderwege der Samburu, zu erreichen. Vereinzelt grasten die halbwilden Dromedare der Nomaden am Rand der Piste, sonst gab es wenig Abwechslung in der staubigen Steppe.
Inmitten einer akazienbestandenen Buschlandschaft fand er am späten Nachmittag das Farmhaus und stieg die breite Treppe hinauf, die über drei Stufen zu der schmalen, schattigen Veranda führte. Die Frau stand auf und trat ihm entgegen. Sie hatte eine feine, leicht gebogene Nase und große blaugrüne Augen. Unter dem Schlapphut quirlten braune Haare hervor, in denen sich erste graue Strähnen zeigten. Der Mund war blass und schmal, die Haut im Gesicht wettergegerbt und von feinen Fältchen durchsetzt. Sie hatte eine zierliche Figur, doch er sah ihren schwieligen Händen an, dass sie harte Arbeit gewohnt war.
Er nahm Haltung an, stellte sich als Constabler der Isiolo Police Station vor und fragte nach Rob Roloff.
»Mister Roloff ist in Mombasa«, sagte sie und fragte: »Darf ich wissen, was Sie von ihm wollen?«
»Sie sind Georgia Marsh, die Mama Kifaru?«, fragte er statt einer Antwort. Die Frau lächelte und nickte. Mutter des Nashorns, so hatten sie die Samburu genannt, als sie vor vielen Jahren, von ihrem Mann verlassen, allein mit zwei Kindern, diese Farm am Uaso Nyiro übernommen und aufgebaut hatte. Inzwischen standen Sohn und Tochter auf eigenen Beinen, Mike arbeitete im Serenahotel in Nairobi, Dianne promovierte gerade in Deutschland und würde als Ärztin nach Kenya zurückkehren. Sie hatte ihr Leben selbst in die Hand genommen, damals – und es nie bereut. Moses Kyalo Nderi riss sie aus ihren Gedanken:
»Mister Roloff hat eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Ein gewisser Alan Scott. Kennen Sie ihn?«
»Alan Scott? Natürlich kenne ich ihn. Er ist einer der besten Freunde, die wir hier auf der Farm haben. Hat uns erst vor wenigen Jahren geholfen, eine Wildererbande zu überführen. Er wollte eigentlich zu einer Freundin nach Deutschland fliegen, ist dort aber nicht angekommen. Wir haben seither nichts von ihm gehört und daher hat ihn Mister Roloff vermisst gemeldet.« Georgia schluckte trocken. Wenn sich ein Constabler der Isiolo Police Station wegen eines vermisst gemeldeten Mannes extra auf den Weg zur Shamba Kifaru machte, konnte das nichts Gutes bedeuten.
»Haben Sie ihn gefunden?«, fragte sie und ihre Stimme zitterte.
»Nun