in dich hineinfrisst? Meinst du wirklich, es wird besser, wenn du mit niemandem darüber redest? Linda, bitte! Wir haben bisher noch immer alles in den Griff bekommen! Weißt du noch, was du nach der Scheidung von Rob zu mir gesagt hast? Ohne dich hätte ich das alles nicht geschafft! Und jetzt? Jetzt willst du allein stark sein, und ich soll zusehen, wie du dabei krepierst? Ich mach dir jetzt einen Vorschlag, und das Angebot wird nicht wiederholt. Ich warte um halb elf auf dich im Bistro am Neckar. Ich hab heut keinen Termin und nehme mir die Zeit, weil du es mir wert bist. Wenn du keinen Bock hast, okay, aber komm dann nicht in ein paar Tagen zu mir, um dich auszuheulen! Ich hab jetzt lang genug zugesehen. Und tschüss!«
Babs stand auf und eilte nach draußen. Ihr Monolog hatte seine Wirkung nicht verfehlt und im Augenwinkel hatte sie bemerkt, dass Lindas Augen feucht schimmerten. Sie musste am Ende sein. Es war Zeit, dass sie aus dem Loch kroch, in das sie gefallen war.
Babs lief auf dem langen Korridor vor den Redaktionsbüros Ingo Dossenberg über den Weg. Er war neu im Team, älteres Semester, aber sportliche Figur, auf jugendlich getrimmt, groß gewachsen. Keiner wusste so richtig, was er vorher gemacht hatte, aber seine Stimme am Mikrofon klang sonor, seine Beiträge waren professionell, seine Recherchen exakt. In dieser Woche war er CvD, Chef vom Dienst.
»Ich habe einen Termin für dich«, sagte er, als sie dem Ausgang zustrebte. »Oder soll ich Linda fragen?«
»Nein«, sagte Babs. »Wann ist es?«
»Heute Mittag um vier. Eine PK in Friedrichshafen. Die sind am See grade knapp mit Reportern, wegen Interboot und Krankheitsfällen. Könntest du hin?«
»Um vier?« Das war zu schaffen. Eine Pressekonferenz dauerte nicht zu lange, sie würde um 20 Uhr wieder zurück sein. »Worum geht’s denn?«
»Ein Toter, direkt am See, hing auf dem Ast einer Kastanie. Komische Sache. Sie sprechen schon von einer Baumleiche. Bei der PK soll Näheres bekannt gegeben werden. Machst du’s?«, fragte Ingo Dossenberg.
Babs nickte.
10
Der zweite Brief
Hallo Linda,
Rache, richtig. Ich bin mir sicher, dass Sie es ohne fremde Hilfe herausgefunden haben: Ihr Genuss ist Mord und ihre Sättigung das Grausen. Und ihre Zahl ist die 6, möchte ich noch anfügen.
Der Rächer hat sein Werk bereits begonnen, das darf ich Ihnen verraten, Verehrteste. Und es wird nicht mehr lange dauern, bis auch Sie davon profitieren werden. Rein beruflich natürlich. Sie werden darüber berichten, und es wird Kohle dafür geben. Schlagen Sie sie nicht aus! Und berichten Sie detailgetreu.
Übrigens – haben Sie schon begonnen, die Wahrheit zu suchen?
Es ist die einzige Möglichkeit, Ihr Leben zu retten.
Hochachtungsvoll
Chui
11
Der Herbst lag schon spürbar in der Luft an diesem Vormittag, auch wenn sich die Sonne immer wieder einen Weg durch die Wolkenlücken bahnte und ihre Strahlen wie gleißende Sterne auf der grünblauen Oberfläche des Neckars hüpften. Wie schwimmende Farbtupfer trieben die ersten Blätter flussabwärts, dem Stauwehr entgegen, vor dem sich das Wasser in einem spiegelnden See sammelte und jede Fließbewegung zum Stillstand zu kommen schien.
Viel zu früh, jetzt, Ende August, sinnierte Babs Wagner und sah den Stockenten zu, die im Flachwasser vor der Platanenallee nach Nahrung suchten. Vom Erkerfenster des Cafés im Haus neben der Eberhardsbrücke blickte sie über den schmalen Flussarm, auf dem sich an lauen Sommerabenden Touristen und Studenten in den langen Holzkähnen stromaufwärts entlang der alten Stadtmauer bis unter die Türme des Schlosses Hohentübingen stochern ließen.
Lange her, dachte Babs, zuletzt hatte sie zusammen mit Linda einen solchen Stocherkahnausflug gemacht. Lindas kleine Tochter Sarah war damals dabei gewesen, ein Mädchen im Vorschulalter, und sie hatten großen Spaß gehabt, im Bug des Stocherkahns zu grillen, während sie ihr Exfreund Steffen, der selbst einer Studentenverbindung angehört und so das Stochern gelernt hatte, mit gezielten Stößen der fünf Meter langen Stange langsam um die Platanenallee herumgesteuert hatte. Über den zweiten, schmäleren Flussarm waren sie wieder zum Liegeplatz zurückgekehrt, hatten noch ein Eis gegessen und den herrlichen Abend genossen.
Einiges war passiert in dieser Zeit; Babs hatte sich von Steffen, dem überarbeiteten Rechtsanwalt, getrennt, der kaum einmal einen Abend freihatte und ständig in Gedanken bei seinen Mandanten war. Sie hatte herausbekommen, dass eine Frau, seine neue Kanzleipartnerin, dahintersteckte und einen Schlussstrich gezogen. Doch im Gegenteil zu Linda, die noch immer ihrer großen Liebe Alan Scott hinterhertrauerte, hatte sie schon nach wenigen Tagen wieder eine neue Beziehung begonnen.
Babs hatte auf Lindas Liaison mit Alan in Afrika nie besonders viel gegeben, es war für sie, die Realistin, nicht mehr als eine Urlaubsbekanntschaft, eine Liebelei, die sich im Grau des Alltags wieder verlor und die man zu Hause im gewohnten Trott rasch vergaß. Doch Linda Roloff hatte Alan Scott offensichtlich nie vergessen. Auch wenn meist Monate zwischen ihren Wiedersehen lagen und sich Alan nie für eine Zukunft in Deutschland entscheiden konnte.
Vor ein paar Jahren hatte Linda ihn kennengelernt, ein zärtliches Raubein, hatte sie später geschwärmt. Er hatte ihr geholfen, ihren verschollenen Exmann in Afrika wiederzufinden und war auch für ein paar Tage in Deutschland aufgetaucht. Aber so schnell er gekommen war, war er auch wieder verschwunden.
Ein Jahr später hatten sie sich wiedergetroffen, als Linda bei der Recherche in einem Mordfall abermals seine Hilfe brauchte. Linda war danach allein nach Deutschland zurückgekehrt, in der festen Überzeugung, in Alan Scott ihre große Liebe gefunden zu haben. Doch sein Versprechen, sie in Deutschland zu besuchen, hatte er nie eingelöst. Und jetzt das endgültige Aus?
Babs wusste es nicht genau, Linda hatte ja nicht darüber sprechen wollen. Nur soviel war ihr klar: Sie hatte auf ihn gewartet, und er war nicht gekommen. Ohne etwas von sich hören zu lassen. Dabei war Linda so voll Zuversicht gewesen. Alan kommt nach Deutschland, hatte sie gesagt. Linda hatte Pläne geschmiedet, Pläne für eine gemeinsame Zukunft, hatte sogar begonnen, sich nach einem Job für ihn umzusehen. Doch als sie ihn am Flughafen abholen wollte, war er nicht unter den Passagieren gewesen. Und schlimmer noch: Er hatte nicht einmal eine Nachricht für sie hinterlassen, kein Anruf, keine SMS. Blieb verschwunden, bis zum heutigen Tag.
Babs war anders als Linda. Konsequenter auf alle Fälle, dachte sie. Sie hätte, schon als er damals nicht nach Deutschland gekommen war, einfach Schluss gemacht und sich erneut auf dem Markt umgesehen. Schließlich wusste sie aus eigener Erfahrung, dass es funktionierte: Clemens Edel war aufgetaucht, einfach so, wie gerufen, in ihr Leben getreten. Sie hatte sich in ihn verliebt, vor wenigen Wochen erst. Und auf einmal war das Leben wieder schön geworden.
»Und was ist mit Steffen?«, war die typische Reaktion von Linda gewesen, als ihr Babs nach ihrer Rückkehr aus Südafrika von Clemens erzählt hatte. Immerhin war sie über fünf Jahre mit Steffen zusammen gewesen, und Linda hatte eigentlich eher mit einer Hochzeit als mit einer Trennung gerechnet.
»Er ist jetzt mit seiner Kanzleipartnerin zusammen!«, hatte Babs ihr kurz angebunden eröffnet, das habe sich schon eine ganze Zeit lang angebahnt.
»Aber du hast mir nie etwas davon erzählt«, hatte sich Linda empört. »Im Gegenteil, du hattest Steffen sogar noch gebeten, mir bei meinen Problemen in Südafrika zu helfen!«
»Und? – Hat er es nicht getan?«
»Doch! Sogar so professionell, dass seine Recherche dazu beigetragen hat, den Fall letzten Endes zu lösen! Ich hatte ja keine Ahnung, dass er …«
»Du hast dich ja auch zu der Zeit für nichts anderes interessiert als für deinen Alan Scott und diesen mysteriösen Mord am Märchensee«, hatte Babs vorwurfsvoll zurückgegeben. Linda hatte es dabei belassen und Babs zu ihrem neuen Lover gratuliert. Clemens war ein netter Kerl, das würde auch Linda zugeben müssen, wenn sie Babs erst einmal einander vorgestellt hätte. Er war fast zehn Jahre älter