Nun, ich kann Ihnen versichern, ich habe Sie nicht vergessen. Sie und die anderen, die mir mein Leben um 14 Jahre verkürzt haben.
Klick?
Ich habe weder vergessen noch vergeben.
Als gebildete Journalistin werden Sie mit den Klassikern der deutschen Dichtung vertraut sein. Wovon ist wohl die Rede, wenn Schiller in Wilhelm Tell sagt: »Ihr Genuss ist Mord und ihre Sättigung das Grausen«?
Nun, ich will Sie gern ein bisschen auf die Folter spannen, meine Liebe.
Von Mord wird bald die Rede sein. Und das Grausen werden Sie kennenlernen.
Aber im Gegensatz zu mir damals werden Sie eine kleine Hoffnung haben: Bringen Sie endlich die Wahrheit ans Licht!
Ach, und noch etwas, so ganz nebenbei. Behalten Sie den Inhalt meiner Briefe für sich. Das geht nur uns beide etwas an.
Hochachtungsvoll
Chui
6
Linda Roloff betrachtete das Bild, das auf ihrem Nachttisch stand, ihre Finger strichen über das reflexfreie Glas, und sie versuchte, sich das Kribbeln in Erinnerung zu rufen, das sie gespürt hatte, wenn ihre Fingerkuppen über seinen Dreitagebart geglitten waren. Sie versuchte, sich seinen Geruch zu vergegenwärtigen, diesen wilden Buschgeruch, unparfümiert, männlich, intensiv. Den Duft seiner Haut, seiner Haare, seines Atems. Sie versuchte, seine Küsse zu spüren, seine Stimme zu hören, sein Lachen. Und dann versuchte sie, ihn zu vergessen. Wenigstens für den Rest dieser Nacht. Sie brauchte dringend ihren Schlaf. Sie knipste das Licht aus und schloss die Augen. Sie hatte aufgehört, die Nächte zu zählen, die Nächte ohne eine Nachricht von Alan Scott.
Es war wenig los gewesen – eine halbe Ewigkeit schien es ihr her zu sein – auf der Ankunftsebene des Stuttgarter Flughafens. Linda war sich ein wenig verloren vorgekommen, nachdem die Wartenden um sie herum ihre Angehörigen in Empfang genommen und mit lachenden Gesichtern das Ankunftsterminal verlassen hatten. Linda hatte in dem kleinen Blumengeschäft drei rote Rosen gekauft, mit einem kleinen grünen Anhänger, auf dem die Worte Herzlich willkommen zu lesen waren. Alan würde sich darüber freuen, hatte sie gedacht.
Ihre Augen hatten an der großen, schwarzen Anzeigetafel geklebt, wo die gelben Buchstaben immer wieder durcheinandergerattert waren und neue Flüge angekündigt hatten. Noch immer hatten die beiden grünen Leuchtdioden neben der Flugnummer abwechselnd geblinkt, als Zeichen dafür, dass sein Flugzeug gelandet war. Sie hatte noch einmal die Flugdaten verglichen, die sie sich notiert gehabt hatte, Flugnummer, Start- und Landezeit waren identisch gewesen.
Nervös war sie auf und ab gegangen, hatte das Klappern ihrer hochhackigen Schuhe auf dem grauen Steinfußboden gehört und wie sich ihre Schritte mit dem Rattern der Gepäckwagen, den Stimmen anderer Menschen und den wiederkehrenden Lautsprecherdurchsagen zu der bekannten Flughafengeräuschkulisse gemischt hatten.
Sie hatte noch einmal zur Uhr gesehen, nein, sie hatte sich nicht verspätet gehabt, sie hatte außerdem jetzt schon eine knappe Stunde gewartet. Und sie hatte den Ausgang der Ankunftshalle nicht einen Augenblick aus den Augen gelassen, auch nicht, als sie sich einen Espresso in der kleinen Kaffeebar bestellt hatte.
Sie hatte vor der Tafel gestanden, die einen Überblick über die Einrichtungen des Flughafens bot. Informationen eine Etage höher, im Abflugterminal eins. Sie hatte die Rolltreppe genommen, oben angekommen die Warteschlange am Infoschalter gesehen und war wieder nach unten gespurtet. Genervt hatte sie auf einem der schwarzen Wartestühle Platz genommen und versucht, ihren Puls unter Kontrolle zu bringen. Immerhin war es möglich gewesen, dass er den Anschlussflug in Frankfurt verpasst hatte. Doch selbst wenn, warum meldete er sich nicht?
Der Flug Frankfurt-Stuttgart war inzwischen von der Anzeigetafel verschwunden gewesen. Sie war noch einmal zum Infoschalter gegangen und hatte ihr Glück versucht. Der Flug aus Kenya war pünktlich in Frankfurt gelandet, wo steckte Alan Scott? Noch einmal hatte sie auf der Wartebank gegenüber dem Blumengeschäft Platz genommen.
Später hatte sie sich, nachdem sie allein vom Flughafen zurückgekehrt war, spontan zum Märchensee aufgemacht, um auf andere Gedanken zu kommen. Als sie den See später verlassen hatte, waren drei rote Rosen auf der Wasseroberfläche zurückgeblieben. Ein grünes Kärtchen mit dem Aufdruck Herzlich willkommen war allmählich im Teppich der Wasserlinsen verschwunden, die fast den ganzen See bedeckten.
Unruhig wälzte sie sich jetzt in ihrem Bett hin und her, doch der Alptraum kehrte immer wieder. Nicht die Rosen trieben dort im See, sondern die Leiche eines Mannes. Schweißgebadet wachte sie auf.
Sie hatte das Gesicht des Toten erkannt.
7
Donnerstag, 24. August 2006, Alter Landungssteg, Friedrichshafen
Lichtblitze, grell, schnell, hell, in regelmäßigem Abstand von 30 Sekunden, ein kalter Wind aus Südwest, Stärke sieben, die Oberfläche des Sees aufpeitschend, Regen, der fast waagerecht durch die Luft zu jagen schien. Unwetter.
Die Sturmwarnung hatte schon vor drei Stunden die letzten Segler in die sicheren Häfen getrieben, und selbst die Fischer waren angesichts der Witterung an diesem Spätsommerabend nicht mehr hinausgefahren. Nur die Fähre pflügte zielstrebig dem Aussichtsturm an der Mole zu, dessen Treppengerüst skelettgleich in den wolkenverhangenen Abendhimmel ragte und die Einfahrt zum Hafen markierte.
Das kleine Ruderboot schien verlassen draußen auf dem wild gewordenen Wasser zu tanzen, dann wieder abzutauchen in den Wellentälern, ohne Willen, schien zu treiben, ziellos, ohne den Mann, der es steuerte. Ein Spielball von Wind und Wasser. Und doch näherte es sich, langsam und unauffällig, dem ehemaligen Landungssteg im Westen der Stadt. Die mehrgeschossige Fassade der Schlosskirche ragte düster in den Himmel, flankiert von den beiden mächtigen Zwiebeltürmen, Wahrzeichen Friedrichshafens. Hoch hoben die Wellen den Bug des Ruderboots, trugen es für den Bruchteil einer Sekunde auf ihrem Kamm und ließen es, kaum hatte es seinen Schwerpunkt verloren, schlingernd eintauchen in das nächste Tal. Wasser schwappte ins Innere, bedrohlich schwankte der Kahn und setzte dann, die Ruder wie von Zauberhand gelenkt, seine Fahrt Richtung Ufer fort.
Das Leuchtfeuer der Sturmwarnung, das rings um den Bodensee seine Blinksignale zum Wasser hin aussandte, huschte wie ein orangefarbener Schatten von links nach rechts über die brodelnde Wasseroberfläche, vertauschte für einen kurzen Augenblick das Wellenspiel mit der wankenden Tanzfläche einer Diskothek, um danach wieder den grauen Schatten des tanzenden Wassers zurückzulassen. Jetzt hatte das Boot den Radius des Leuchtfeuers am Landungssteg erreicht und für den Husch eines Augenblicks, in dem das Licht das Wasser streifte, war der gebeugte Rücken eines Mannes zu erkennen, der in durchnässtem Overall, geduckt, ja zusammengesackt im Boot kauerte und die Ruder bewegte.
Ständig glitt ihm das Boot aus der Bahn, zeigte der Bug zu weit nach Osten oder Westen, und doch ließ sich sein Kurs erahnen. Mühevoll kam er voran, Meter um Meter, Wellendach und Wellental, und bei jedem Eintauchen in das Leuchtfeuer schien er der Ufermauer um einen Meter näher gekommen zu sein. Seine Hände, nass glänzende Haut, krampften sich um die Ruderstangen, über die Schulter warf er einen Blick zum nahen Ufer, aus dem Schatten der Kapuze heraus, um sein Ziel anzupeilen. Und er stellte jedes Mal erfreut fest, dass er allein war. Kein Mensch war zu sehen. So hatte er es geplant. Allein und unbeobachtet an einem stürmischen Abend auf dem See.
Das menschengroße Bündel, das im Heck des Ruderboots lag, bewegte sich nicht.
Der Regen ließ etwas nach, und er steuerte das Boot in waghalsigem Manöver an den Resten des ehemaligen Landungsstegs vorbei, schwarzen, baumstammdicken Pfählen, die aus dem Flachwasser des Sees ragten und immer wieder von den Wellen überspült wurden. Er hielt auf das westliche Ende der schmalen Landzunge zu, ein fast kreisrundes Areal, das sich mit dem schmalen Zugangsweg in Form einer Schöpfkelle an der Schlossmauer entlang zum Wasser hin ausdehnte. Im Schatten der efeubewachsenen Mauer stieg er an Land, nachdem er das Boot am schmiedeeisernen Geländer der Ufermauer vertäut hatte.
Er musste jetzt darauf achten, nicht in den Lichtschein des Leuchtfeuers