Swen Ennullat

Alpendohle


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sich wieder den Stapeln alter Fotoalben und Andenken zu, die er auf die noch vorhandenen Möbel im Wohnzimmer seiner Großeltern verteilt hatte. Seine Mutter hatte ihm bei der Auswahl von Erinnerungsstücken absichtlich den Vortritt gelassen, wohl wissend, dass es auf diese Weise für ihn leichter sein würde, endgültig Abschied zu nehmen.

      Durch das Fenster zum Garten, der im Glanz der ersten warmen Frühlingssonne erstrahlte, konnte er seine Mutter Renate sehen, wie sie gerade Wilfried, einem ihrer Nachbarn, der sich angeboten hatte, beim Ausräumen des Hauses zu helfen, ein Glas Wasser reichte und sich dabei ihre Hände kurz berührten. Ein wenig überrascht und mit einem leichten Gefühl von Eifersucht stellte Torben fest, dass seine dreiundsechzigjährige, aber noch immer gut aussehende Mutter unter dieser Berührung nicht zurückschreckte, sondern dieses Zeichen von körperlicher Nähe und Verbundenheit fast dankend annahm.

      Der Tod seines Vaters lag mittlerweile drei Jahre zurück und vor einigen Monaten hatte Torben bemerkt, dass Wilfried – ebenfalls bereits seit einiger Zeit verwitwet und für knappe siebzig noch recht rüstig – sich sanft seiner Mutter genähert hatte. Er hatte ihren Schmerz über den plötzlichen Verlust respektiert und ihr die nötige Zeit gelassen, sich an die neue Situation zu gewöhnen.

      Wilfrieds Wohnung lag zwei Etagen unter der ihren und durch die alltäglichen Besorgungen oder das Annehmen von Briefen und Paketen kamen beide mehr als einmal miteinander ins Gespräch.

      Wilfried – immer höflich und hilfsbereit – brachte irgendwann den Mut auf, sie zu fragen, ob sie nicht Lust hätte, ihn zur Eröffnung einer neuen Ausstellung für zeitgenössische Malerei zu begleiten. Der Prenzlauer Berg, wo sie wohnten, war berühmt für junge Künstler, die – oft vergebens – auf ihren Durchbruch warteten. Sie sagte zu und aus dem Besuch der Vernissage wurden gemeinsame Spaziergänge, Ausflüge und stundenlange Gespräche. Beide genossen die Gesellschaft des anderen. Es wuchs Vertrauen, Vertrautheit und im Laufe der Zeit Zuneigung.

      Der kurze Augenblick der Eifersucht war längst verflogen. Insgeheim war Torben froh, dass seine Mutter jemanden gefunden hatte, mit dem sie vielleicht wieder ihr Leben teilen würde. Wilfried würde sicherlich nie versuchen, die Stelle einzunehmen, die sein Vater für seine Mutter in den langen Jahren ihrer Ehe erlangt hatte. Ihm würde vielmehr ein kleines Stück Teilhabe an Renates Leben vollauf genügen.

      Torben versuchte weiterzuarbeiten, aber es wollte ihm in diesem Zimmer, in dem er als Kind so viele glückliche Stunden verbracht hatte, einfach nicht gelingen, sich wieder auf seine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren.

      Mit Mitte dreißig war er seit Langem beruflich unabhängig. Er hätte schon längst eine eigene Familie gründen können, aber er war noch immer oder genauer: mal wieder ungebunden. Um körperlich in Form zu bleiben und den beginnenden Fettanlagerungen an Hüfte und Bauch zu begegnen, hielt er sich, so oft es ging, mit Laufen und Schwimmen fit.

      Seine Arbeit führte ihn jetzt zwar um die ganze Welt, den größten Teil seiner Kindheit hatte er jedoch in dieser kleinen, recht idyllisch anmutenden brandenburgischen Gemeinde vor den Toren Berlins in der ehemaligen DDR verbracht. Dass er seine Kindheit so positiv in Erinnerung hatte, war sicherlich auch ein großes Verdienst seiner Großeltern, die nach langen und schweren Krankheiten beide nun innerhalb weniger Wochen verstorben waren, ein weiterer Schicksalsschlag für seine nach außen so starke und innerlich doch so zerbrechliche Mutter. Torben fragte sich, wo sie nur die Kraft hernahm, alle Widrigkeiten des Schicksals so tapfer zu ertragen.

      Renate Trebesius, geborene Schauweiler, war es erst nach drei Fehlgeburten und neun Ehejahren gelungen, einen gesunden Jungen auf die Welt zu bringen. Ein freudiges Ereignis, mit dem zu diesem Zeitpunkt niemand mehr gerechnet hatte. Vielleicht gerade deshalb schlug Torben in seiner Familie von frühester Kindheit an nur Liebe und Wärme entgegen. Er konnte sich tatsächlich im Moment nicht daran erinnern, ob und wann seine Eltern oder Großeltern ihn trotz seines Temperaments, das er laut seiner Mutter von einem unbekannten Verwandten geerbt haben musste, oder seines sprichwörtlichen Starrsinns je wirklich gescholten oder gar in irgendeiner Weise bestraft hätten.

      Plötzlich sah er seine Großmutter vor sich, wie sie am Tisch mit ihm Bilder malte und Papierhüte faltete, oder seinen Großvater, der ihm höchst wissenschaftlich erklärte, wie man einen lockeren Zahn mit einem Garnfaden ziehen könnte, und dabei nach dem Kopf seines Enkels griff, um ihm dies sofort zu zeigen, was dazu führte, dass sich der Zahn vor Aufregung von selbst löste und der schmale sechsjährige Junge ihn verschluckte. Er erinnerte sich, dass er wochenlang vergebens darauf gewartet hatte, dass der Zahn wieder auftauchte, übrigens mit all den höchst unangenehmen, aber notwendigen Handlungen, die mit einer solchen Wartezeit und Suche verbunden waren. Seine Großmutter war es auch gewesen, der er vor allen anderen schüchtern und verlegen, wie er damals manchmal war, seine erste feste Freundin Julia vorgestellt hatte.

      Torben hatte schon vor der sogenannten „Wende“ seine schriftstellerischen Fähigkeiten entdeckt und nutzte 1990 die neu gewonnenen Freiheiten, um mit einigen Freunden auf dem Gymnasium eine Schülerzeitung herauszugeben. In den letzten beiden Jahren seiner zwölfjährigen Schulzeit stieg er quasi zum Chefredakteur auf und blickte in dieser Funktion irgendwann in die schönsten und strahlendsten grünen Augen, die er je gesehen hatte.

      Sie gehörten einem aufgebrachten, schwarzhaarigen, sechzehnjährigen Mädchen mit Pferdeschwanz, welches ihm lautstark erklärte, dass das Nichtveröffentlichen ihrer eingereichten Fotografie Zensur und er sowieso ein arroganter Idiot sei. Torben, der zwar nicht im Geringsten wusste, um welches Foto es sich handelte, und noch nicht einmal für die Auswahl der Aufnahmen verantwortlich war, stieg jedoch nur zu gerne in das Wortgefecht ein. Er erklärte ihr, dass ihre Aufnahme unscharf, nicht ausreichend belichtet und sie sowieso eine schlechte Fotografin sei. Das wiederum brachte die Besitzerin der grünen Augen dazu, sich fast auf ihn zu stürzen. Nur die Intervention seines damaligen besten Freundes Michael hatte Schlimmeres verhindern können.

      Das anschließende Gespräch zwischen Torben und der schönen Unbekannten, die sich als Julia Hartwig vorstellte und etwa ein Jahr jünger war als er selbst, klärte das Missverständnis nicht nur auf, sondern war der Beginn einer sechsjährigen wundervollen und intensiven Liebesbeziehung.

      Julia wurde als Fotografin fester Bestandteil des Redaktionsteams und folgte Torben später an seine Uni nach. Während er Journalistik studierte, schrieb sie sich für Grafik und Design ein. Das Ende ihrer Beziehung kam mit keinem lauten Knall oder gar durch einen Einfluss von außen. Sie brach irgendwann einfach auseinander, vielleicht war es die frühe Bindung, die beide eingegangen waren, und der Wunsch beider, noch etwas anderes erleben zu wollen, von dem sie aber eigentlich gar nicht wussten, was es sein könnte. Torben – immer verrückt nach interessanten Geschichten und neuen Grenzerfahrungen, die er beispielsweise als Anhalter trampend im Ausland erlebte – gab mit seinem unruhigen Geist den endgültigen Ausschlag für die Trennung und verließ Julia noch vor seinem vierundzwanzigsten Geburtstag – eine Entscheidung, an die er sich in sentimentalen Momenten, wenn Freunde und Bekannte sesshaft wurden oder Kinder bekamen und er sich dadurch einsam und allein fühlte, manchmal wehmütig erinnerte.

      Julia und er hatten natürlich wie viele andere Paare vor ihnen die Absicht, befreundet zu bleiben. Sie verloren sich aber schon nach wenigen Monaten aus den Augen. Jahre später las er eher zufällig ihren Namen unter einigen Fotoaufnahmen über moderne Architektur. Offensichtlich hatte sie doch noch ihre frühere Passion zum Beruf gemacht.

      Da seine Familie Julia so gemocht hatte, verzichtete er danach meistens darauf, seine neuen Eroberungen vorzustellen, wohl auch deshalb, weil er bei keiner von ihnen das Gefühl hatte, dass sie die Frau sein könnte, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte, obwohl nicht wenige genau diese Hoffnung hegten.

      So kam es, dass ihm bei den Nachfragen seiner Großmutter, die augenscheinlich stark auf Urenkel hoffte, regelmäßig sein Großvater zu Hilfe eilte und für ihn antwortete: „Kaum schläft man zwei, drei Mal mit einer Frau, schon sagen die Leute, man hat was mit ihr! Stimmt’s, Torben?“ Die Reaktion seiner Großmutter war immer die gleiche und ähnelte einer Moralpredigt für seinen Großvater, der diese stoisch und ihm zuzwinkernd über sich ergehen ließ. Torben jedoch war froh, auf diese Weise vom ursprünglichen Thema abzulenken und um eine Antwort herumzukommen.