flink und manchmal auch so schlau war.“ Konrad Reiher kicherte. „Und jetzt? Jetzt werde ich, sobald das Wetter es zulässt, an das Ufer dieses Sees geschoben, damit ich ein paar alten Schachteln beim Füttern der Enten zusehe. Das Schlimmste daran ist, dass ich bestimmt zwanzig Jahre älter als jede von denen bin, aber ich werde gewiss wohl noch einige überleben! Freiwillig gehe ich jedenfalls nicht von dieser Welt! Meine Kinder sollen sich ruhig noch eine Weile ärgern, dass meine komplette Rente und mein Erspartes für den Heimplatz draufgehen.“
Torben hatte sich zwei Tage nach dem Gespräch mit seiner Mutter entschlossen, den alten Bekannten seines Großvaters aufzusuchen. Als Enkel und auch aus journalistischem Interesse wollte er keine Möglichkeit verstreichen lassen, doch noch zu erfahren, wie das gefundene Buch mit der geheimnisvollen Widmung in den Besitz seines Großvaters gelangt war, und der Hinweis auf Konrad Reiher war die einzige Spur, der er folgen konnte. Eine Spur, die sich noch bester Gesundheit erfreute, wenn man ein Leben im Rollstuhl, auf den Reiher mittlerweile angewiesen war, wie Torben in einem Telefonat mit dem Pflegeheim erfuhr, so nennen konnte. Er hatte das Gespräch mit der Hausleitung gleich als Anlass genutzt, um sich bei dem Kriegsveteranen für den nächsten Tag anzumelden.
Während ihn eine junge, wenn auch anscheinend etwas spröde Pflegerin mit einer erstaunlich wohlgeformten Figur, die dafür verantwortlich war, dass sich Torben insgeheim für seinen Ruhestand schon in der Einrichtung einschrieb, durch den Garten geleitete, entschloss er sich, Reiher noch nichts von dem Buch zu erzählen, sondern nur zu fragen, woher sein Großvater und er sich kannten. Das Zurechtlegen einer Geschichte, um das Gespräch im weiteren Verlauf auf den Krieg zu lenken, erwies sich allerdings als gänzlich überflüssig. Denn Konrad Reiher, wie Torben hörte, selbst verwitwet und Vater zweier Söhne, die ihn aber nie besuchten, und Großvater mehrerer Enkel, deren genaue Anzahl und Namen er aber nicht kannte, lebte – gefangen in einem gelähmten Körper – gedanklich noch das Leben eines jungen, agilen Mannes, dessen Vater ein hoher, dem Führer bis zum Ende treu ergebener NS-Funktionär in Berlin war und der selbst mit voller Überzeugung seine Zukunft in der Wehrmacht gesehen hatte.
Kaum dass Torben von der jungen Pflegerin, die ihn zum Abschied doch noch angelächelt hatte, als Enkel von Hans Schauweiler vorgestellt wurde, schien Konrad Reiher im Geiste ins Deutschland der Vierzigerjahre zurückzureisen. Die Informationen über seinen Großvater, die Torben erhofft hatte, sprudelten neben vielen anderen Geschichten über vermeintliche Heldentaten und Einschätzungen der damaligen Kriegstaktiken wie ein Wasserfall nur so aus dem Greis heraus.
Torben erfuhr, dass sein Großvater und Reiher sich bei einem Kuraufenthalt in Bad Düben kennengelernt hatten, da beide fast zeitgleich bei Bombenangriffen der Alliierten durch Granatsplitter verletzt worden waren. Allerdings waren die Verwundungen nicht so schwerwiegend, dass sie zwei einundzwanzigjährige junge Männer davon abhalten konnten, die Wiesen, Felder und vor allem Schenken des Umlandes unsicher zu machen. In den gemeinsamen vier Wochen war eine Männerfreundschaft entstanden, die jedoch laut Reiher zwangsläufig abrupt endete, als beide wieder an unterschiedliche Frontabschnitte zurückbeordert wurden. Eher beiläufig erklärte er Torben, dass man sich lediglich noch einmal wiedergesehen hätte. Dieses Wiedersehen sei für die Freundschaft allerdings irrelevant gewesen. Darüber bräuchte man jetzt nicht mehr zu sprechen.
Torben, der nach fast zwei Stunden auf einer unbequemen Gartenbank endlich den Eindruck hatte, an einem entscheidenden Punkt angelangt zu sein, versuchte das Gespräch in eine ihm genehme Richtung zu wenden. „Herr Reiher, ich möchte nicht unhöflich sein, ich würde natürlich sehr gerne wissen, warum Sie zum Beispiel Füchschen genannt wurden, aber können sie mir nicht noch etwas über das Wiedersehen mit meinem Großvater erzählen? Meine Familie weiß nämlich nicht, wie er die letzten Kriegsmonate verbracht hat.“
„Mein lieber Junge“, der bislang so redselige Reiher schien schlagartig ernster und verschlossener, „ich bin mir nicht sicher, ob wir wirklich so tief in der Vergangenheit ihres Großvaters und der meinen graben sollten. Ich habe vor langer Zeit einen Eid geschworen, über bestimmte Dinge nicht zu sprechen. Natürlich nehme ich nicht an, dass irgendjemand, dem ich damals verpflichtet war, noch am Leben ist. Dieser Schwur ist also für mich nach der langen Zeit theoretisch nicht mehr bindend. Zwar könnte ich darüber reden, aber dass Sie heute hier bei mir sind und Fragen stellen, zeigt mir, dass sich auch Ihr Großvater bis zu seinem Tode verpflichtet gefühlt hat, Stillschweigen darüber zu wahren. Selbst in unseren letzten gemeinsamen Jahren haben Ihr Großvater und ich nie ein Wort darüber verloren.“
Die Ablehnung Reihers deutlich spürend, folgte Torben einem spontanen Gedanken und konfrontierte ihn mit einer Vermutung: „Sie haben beide den Führer an dessen Todestag getroffen, richtig?“
Einen kurzen Augenblick schien Reiher verblüfft. Er fing sich aber sofort wieder, setzte ein liebenswürdiges Lächeln auf und blickte über den See. Ohne Torben anzuschauen, antwortete er: „Ich wusste bis heute nicht, dass Ihr Großvater den Führer persönlich getroffen hat. Aber offensichtlich besitzen Sie mehr Informationen als ich. Erzählen Sie mir davon und wir wollen sehen, ob ich Ihnen weiterhelfen kann.“
Torben beschloss, das Risiko einzugehen und Reiher zumindest teilweise in Kenntnis zu setzen. „Mein Großvater hat ein Treffen mit Hitler nie erwähnt. Ehrlicherweise muss ich zugeben, hat er fast nie vom Krieg gesprochen. In seinem Nachlass habe ich jedoch eine Ausgabe des Buches ‚Mein Kampf‘ mit einer persönlichen Widmung des Führers gefunden. Die Widmung ist auf den 30. April 1945 datiert. Ich stelle mir natürlich die Frage, ob diese Widmung echt ist und wofür mein Großvater das Buch geschenkt bekommen haben kann.“
Reiher schloss die Augen. Torben spürte förmlich, wie er sich konzentrierte, in der Zeit zurückreiste, seine Erinnerungen abrief und innerlich mit sich rang, ob er bereit war, all das preiszugeben, was vor so vielen Jahrzehnten geschehen war. Plötzlich straffte sich sein ganzer Körper, oder genauer derjenige Teil, den er, wenn auch nur unter Schmerzen, noch bewegen konnte. Er öffnete die Augen, setzte sich so aufrecht wie möglich hin und sagte: „Nun gut, mein lieber Freund, ich bin ein alter Mann. Niemanden interessiert es, ob ich tot oder am Leben bin, nicht einmal meine eigenen Kinder. Aber bevor die Geschehnisse von damals mit meinem Tod völlig in Vergessenheit geraten, sollte ich sie vielleicht dem Enkel eines alten Freundes erzählen. Sie haben mir die Frage gestellt, ob wir beide den Führer getroffen haben. So leid es mir tut, aber ich kann darauf nur für meine Person antworten. Die Antwort lautet: Nein! Ich habe Adolf Hitler nie persönlich kennengelernt. Wenn sie mich aber fragen, ob ihr Großvater den Führer an seinem Todestag getroffen haben kann, muss ich Ihnen sagen, dass ich es theoretisch für möglich halte.“
Torben, der jedes Wort regelrecht aufsog, musste Reiher etwas verwirrt angesehen haben, denn der ergänzte sofort: „Ich kann das sagen, weil ich Ihren Großvater am 30. April 1945 im Führerbunker getroffen habe. Wir hatten jedoch keine Gelegenheit, miteinander zu reden. Ich weiß nicht, was er dort gemacht hat, ich kann es nur vermuten.“
Das obligatorische Notizbuch eines Journalisten zückend, fragte Torben: „Was meinen Sie damit, er war im Führerbunker, und was glauben Sie, wollte er dort?“
„Ich bin Hans am 30. April 1945 gegen drei Uhr nachmittags im Treppenhaus des Bunkers begegnet. Ich weiß das so genau, weil die nächsten Stunden, ach, was sage ich, die nächsten Tage sich unauslöschlich in mein Gedächtnis gebrannt haben. Ich habe ihn im ersten Moment gar nicht erkannt, da er zivile Kleidung trug. Damals erschrak ich, weil ich dachte, er sei desertiert. Aber er war in Begleitung eines schmalen Bürschchens, das auch keine Uniform anhatte, und von SS-Leuten, die ihn verhaftet haben konnten, war nichts zu sehen. Hans war ganz genauso verblüfft, mich dort zu treffen. Er fing sich aber schneller als ich, hielt kurz an, während sein Begleiter an uns vorbeieilte, nahm meine Hand und sagte: ‚So Gott will, werden wir das hier überleben. Viel Glück, Konrad!‘ Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er meine Hand auch schon losgelassen und die nächsten Stufen in Richtung Ausgang genommen. Mich ließ er mit tausend Fragen zurück, die mir durch den Kopf schossen. Sechs Stunden später kannte ich die Antworten oder hatte zumindest eine Vermutung.“
„Wie meinen Sie das, Sie hatten eine Vermutung? Und wer war der Begleiter meines Großvaters?“, bohrte Torben weiter.
„Ich werde