– sagen wir mal – recht zart zu sein.“ Er lachte. „Sie haben zum Schluss alle, die noch greifbar waren, in den Volkssturm gesteckt. Hitlerjungen waren dabei besonders leicht zu lenken. Sie haben nämlich noch an den Endsieg geglaubt. Zum Schluss waren wir – Soldaten, Volkssturm und Freikorps – vielleicht hunderttausend schlecht bewaffnete Männer und sogar Frauen, die Berlin verteidigt haben. Uns standen aber mehr als zwei Millionen russische Soldaten und Tausende Panzer gegenüber. Mein eigener Vater hatte sich einige Tage zuvor, wie viele Parteifunktionäre, noch dem ‚Freikorps Adolf Hitler‘ angeschlossen. Er wurde aber – das erfuhr ich zufällig – schon kurz darauf verwundet und befand sich in Begleitung meiner Mutter im Lazarett des Luftschutzkellers der Reichskanzlei. Ich nehme an, dass er dort mit irgendeinem ranghohen Offizier gesprochen und diesen gebeten hat, seinen Sohn von der Front abzuziehen, denn am 30. April 1945 erhielt ich Befehl, mich im Führerbunker zu melden. Der Bunker konnte zum einen vom Keller der Reichskanzlei, in dem sich ja meine Eltern befanden, und zum anderen über eine Treppe vom Garten erreicht werden, obwohl nicht mehr viel übrig war, was man noch Garten hätte nennen können.“ Reiher stieß ein gequältes Lachen aus. „In den Bombentrichtern wurden nämlich die Leichen aus dem Lazarett verscharrt.“
Torben, der sich diese Szenerie gerade bildlich vorstellte, schluckte kurz und hörte Reiher weiter zu.
„Ihrem Großvater begegnete ich in eben diesem Treppenhaus zum Garten. Wenige Augenblicke danach führte mich ein Wachhabender durch einen etwa zwölf Meter unter der Erde gebauten und mit rotem Teppich ausgelegten Korridor an einigen Ordonnanzen vorbei in eine kleine Wachstube. Auf dem Weg dorthin bemerkte ich rechter Hand einen Raum, der offenbar als Besprechungszimmer diente. Darin befanden sich vielleicht ein halbes Dutzend Offiziere, die sich lautstark unterhielten. Ich konnte aber nicht erkennen, um wen es sich handelte. Ich selbst bekam dann nur eine Aufgabe, zu warten! Und zwar, bis für mich eine passende Verwendung gefunden worden wäre. Man setzte mich in die Wachstube, einen kleinen Raum von vielleicht zwölf Quadratmetern Größe, der so feucht war wie der gesamte Bunker an sich. Irgendwie hatte ich mir das Domizil des Führers erhabener vorgestellt. Ich zermarterte mir gerade das Hirn, warum man gerade mich und wofür ausgewählt hatte, als ich etwa eine halbe Stunde später und trotz des Artilleriefeuers, das man ständig hörte, so etwas wie einen dumpfen Knall vernahm.“
Torben, der es schon seit einiger Zeit nicht mehr auf der Gartenbank ausgehalten hatte und hin und her lief, unterbrach den ehemaligen Wehrmachtssoldaten: „Sie wollen doch nicht allen Ernstes behaupten, dass Sie dabei waren oder, um es genauer auszudrücken, gehört haben, wie Hitler sich erschoss?“
Reiher sah direkt in Torbens Augen und sagte mit ruhiger Stimme: „Doch, mein Junge, genau das versuche ich Ihnen beizubringen. Und Ihr Großvater war höchstwahrscheinlich in der Stunde vor dem Tod des Führers bei ihm.“
Torben schüttelte ungläubig den Kopf, weil er nicht wahrhaben wollte, dass dieser sanfte Mann, den er sein ganzes Leben gekannt hatte, ein solch enges Verhältnis zu Adolf Hitler gehabt haben sollte.
Reiher, der anscheinend seine Gedanken erahnte, fuhr mit seinen Ausführungen fort: „Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen, weder ihr Großvater noch ich selbst waren Kriegsverbrecher, die in besonderen Diensten des Führers standen. Ich bin der Überzeugung, dass wir nur zufällig ausgewählt wurden.“
Torben – immer noch zweifelnd – fiel ihm ins Wort: „Aber wofür?“
„Das will ich Ihnen doch die ganze Zeit sagen. Aber Sie wollen ja nicht zuhören! Oder kann ich jetzt weitererzählen?“, erwiderte Reiher.
Torben konnte nur stumm nicken und setzte sich, bereits jetzt innerlich erschöpft, wieder hin.
„Nach diesem Knall, Schuss oder was auch immer, wurde es sehr hektisch im Führerbunker. Was genau vor sich ging, weiß ich nicht, da ein SS-Mann dafür sorgte, dass ich in der Wachstube blieb. Diese grenzte allerdings an die Telefonzentrale und ich konnte einige Gesprächsfetzen auffangen. Irgendwann wurde mir klar, dass man von Hitlers Tod sprach. In diesem Moment wusste ich zwar, dass der Kampf endgültig verloren war, ich wollte es jedoch nicht wahrhaben. Ich fühlte mich so verloren. Ich war unendlich traurig und doch auch stolz auf den Führer, dass er sich nicht hatte lebend gefangen nehmen lassen. Er hatte sich quasi für Deutschland geopfert; ein Weg, den ich in diesem Moment auch beschreiten wollte. Sie werden jetzt sicherlich denken, ich wäre ein Alt-Nazi oder so etwas. Weder stimmt das, noch spielt es irgendeine Rolle, aber damals in diesem Bunker brach meine kleine Welt, wie ich sie kannte, auseinander.“
Jetzt war es Reiher, den seine eigene Erzählung sichtlich mitnahm. Er sah noch älter aus, als er war. Dennoch fuhr er fort: „Mit der Zeit beruhigte ich mich etwas und nach ein paar Stunden führte man mich in ein kleines Arbeitszimmer. Dort traf ich auf Martin Bormann, Reichsleiter und Sekretär Adolf Hitlers. Er brauchte sich nicht vorzustellen. Jeder wusste, was das für ein machthungriges Schwein war. Selbst in dieser ernsten Situation versicherte er sich zuerst in der herablassenden und arroganten Art, die ihm eigen war, ob mein Name Konrad Reiher sei. Als ich bejahte, teilte er mir mit, dass das Großdeutsche Reich einen neuen Kanzler namens Joseph Goebbels habe, der von mir erwarte, dass ich einen ungemein wichtigen Auftrag, der die weitere Zukunft des Reiches beeinflussen könne, für ihn erledige.
Bormann übergab mir ein kleines, unförmiges Päckchen, etwas größer als ein Stück Butter, und einen verschlossenen Brief ohne Adresse und erklärte mir, dass ich diese Sachen nach Carinhall in der Schorfheide, den Landsitz Hermann Görings, bringen solle. Entsetzt über die Order und dadurch alle Befehlshierarchien vergessend, erwiderte ich, dass dies völlig unmöglich sei. Sie müssen nämlich wissen, Carinhall lag fünfzig Kilometer nördlich und die russischen Truppen hatten Berlin quasi schon vollständig eingenommen. Bormann lehnte sich daraufhin zurück und schaute mich selbstgefällig an. Er erklärte mir, dass ich eine Generalvollmacht des Reichskanzlers erhalten werde, die mir die Unterstützung aller mir begegnenden deutschen Truppen zusichere.
Am liebsten hätte ich ihm als Antwort ins Gesicht geschrien, dass es keine deutschen Truppen mehr gab und eine solche Generalvollmacht bei einer Gefangennahme dafür sorgen könne, dass ich sofort standrechtlich erschossen würde. Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich wollte nur noch raus aus diesem Bunker, den ich mittlerweile als übergroßes Grab empfand. Ich fasste den Entschluss, sollte mir dies gelingen, sofort zu desertieren.
Aber so einfach machte Bormann es mir nicht. Auf meine Bedenken ging er überhaupt nicht ein, sondern empfahl mir, wie er es nannte, in ziviler Kleidung zu reisen. Dann wies er eher beiläufig darauf hin, dass bei einem Misserfolg meiner Mission meine Eltern, die sich ja nur einige Dutzend Meter entfernt im Lazarett befanden, ebenso wie ich selbst als Volksverräter hingerichtet würden. Er wünschte mir viel Glück und wandte sich wieder dem Abfassen eines Briefes zu.
Mein Kopf schien auf einmal fast zu explodieren und ich starrte ihn fassungslos an, denn Bormann hatte soeben nicht nur meinen Tod, sondern auch den Tod meiner Eltern beschlossen. Als er aufblickte und fragte, ob noch etwas wäre, entgegnete ich geistesgegenwärtig, wie seine Befehle lauten würden, wenn Carinhall bereits eingenommen oder verlassen wäre.
Bormann, über die Nachfrage verwirrt, dachte kurz nach, nannte mich einen ausgesprochen guten Soldaten und sagte, in diesem Fall – und nur dann – müsse ich die Sachen im Schloss Dammsmühle in Wandlitz abliefern. Das Anwesen gehöre dem Reichsführer der Waffen-SS Heinrich Himmler. Mein Auftrag werde dann auch als erfolgreich erledigt angesehen werden. Danach forderte mich Bormann mit einem Handzeichen auf, den Raum zügig zu verlassen.
Vor der Tür wartete bereits ein SS-Mann, der mir einen alten Anzug, eine Lederjacke, die Vollmacht sowie eine Pistole 08 mit Kniegelenkverschluss und zwei Handvoll Munition übergab. Als ich mich umgezogen hatte, führte er mich nach draußen.
Ich weiß bis heute, dass die Treppe, die aus dem Bunker in den Garten führte, siebenunddreißig Stufen zählte; mit jeder einzelnen wuchs meine Entschlossenheit, den verdammten Auftrag zu erfüllen, um das Leben meiner Eltern zu retten. Natürlich wollte ich mich nicht nach Carinhall durchschlagen, das war völlig unmöglich. Noch in Bormanns Büro hatte ich mich entschlossen, es nach Wandlitz zu versuchen. Ich kannte mich in der Gegend aus, weil mein Vater mich