Swen Ennullat

Alpendohle


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deshalb ist die Gedenkstätte umstritten“, führte er weiter aus. „Der Holocaust hat nicht nur Juden, sondern auch andere Opfergruppen hinweggerafft. Es hätte auch ein gemeinsames Mahnmal geben können. Um es zu finanzieren, wurde zudem bei anderen Gedenkstätten rigoros gestrichen. Die Hälfte der Stelen wies überdies bereits nach drei Jahren Risse auf und etliche werden deshalb jetzt mit Stahlbändern gesichert. Auch die Bauarbeiten wurden seinerzeit einmal unterbrochen, als bekannt wurde, dass der Anti-Graffiti-Schutz der Stelen – offensichtlich ist so eine Versiegelung in Berlin vonnöten – durch die Degussa AG aufgetragen werden sollte. Deren Tochterfirma Degesch hatte im Dritten Reich das Giftgas Zyklon B hergestellt, mit dem die Juden in den Konzentrationslagern vergast wurden.“ Er schüttelte den Kopf. „Manchmal verstehe ich nicht, wie unsensibel und unwissend Menschen sein können. Aber genug davon, wir sind an der Stelle angekommen, die ich Ihnen zeigen wollte.“

      Sie hatten den südlichen Rand des Stelenfeldes erreicht und der Professor zeigte in Richtung einiger Bäume. „Nicht einmal hundert Meter von hier in dieser Richtung lag der Führerbunker im Garten der alten Reichskanzlei an der Wilhelmstraße.“ Torben zog hörbar die Luft ein.

      Professor Meinert dozierte indes munter weiter: „Der Bunker wurde niemals ganz fertiggestellt. Es gab einen Vorbunker, der einhundertfünfzig Menschen Platz bot, und einen Hauptbunker mit zwanzig Zimmern. Wenn Sie glauben, dass er luxuriös eingerichtet war, dann irren Sie. Selbst Hitler musste auf nackte Betonwände starren. Wegen der Baumängel drang ferner ständig Wasser ein, das kontinuierlich abgepumpt werden musste. Nach dem Krieg wurde mehrfach, ohne großen Erfolg versucht, den Bunker zu sprengen. Und da er nach dem Bau der Berliner Mauer im Todesstreifen lag, hat ihn die DDR-Regierung letztendlich mit Schutt auffüllen und planieren lassen. Wir können also unsere Suche nach Erkenntnis nicht dort beginnen.“

      Der Professor ließ seinen Blick noch kurz schweifen und fragte dann an Torben gewandt: „Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber Gertrud und ich möchten nach all dem Beton mal etwas mehr vom neuen Grün des Frühlings sehen. Was halten Sie davon, wenn wir unseren Weg in Richtung Großer Tiergarten fortsetzen?“

      Torben stimmte zu und gemeinsam liefen sie an der Außenseite des Mahnmals entlang in Richtung der drittgrößten Parkanlage Deutschlands. Jetzt, da sie erneut nebeneinander gehen konnten, wurde ihr Gespräch wieder intensiver.

      „Die Beschreibung, die der Freund Ihres Großvaters gab, lässt mich vermuten, dass er tatsächlich im Führerbunker war. Es gab wirklich eine Wachstube neben der Telefonzentrale, in der er gewartet haben könnte. Und rechtsseitig im Korridor, der – auch das stimmt – mit einem roten Teppich ausgelegt war, konnte man über Besprechungs- bzw. Konferenzräume in die Privatgemächer Hitlers gelangen. Auch Martin Bormann, Privatsekretär und Chef der Reichskanzlei, war am Ende dort und versuchte zu retten, was noch zu retten war.“

      Torben zauberte sein Notizbuch hervor und fragte: „Kann ich mir Notizen machen?“

      „Aber ich bitte darum!“, antwortete Professor Meinert lächelnd und setzte fort: „Bormann hat die letzten Kriegstage und alle Geschehnisse penibel für die Nachwelt dokumentiert. Fast jeden von Hitlers Sätzen hat er wortwörtlich aufgeschrieben. Durch seine Aufzeichnungen konnte auch nachgewiesen werden, wer und zu welchem Zeitpunkt im Führerbunker anwesend war oder welche Befehle in den letzten Tagen noch erteilt wurden. Bormann wäre aber auch der Einzige gewesen, der dafür hätte Sorge tragen können, dass bestimmte Informationen nicht dokumentiert wurden und damit für immer geheim bleiben konnten. Im Bunker selbst hielten sich damals nur noch etwa zwanzig Personen auf. Deren Namen sind alle bekannt, die Ihres Großvaters oder seines Freundes gehören nicht dazu. Einige werden Sie auch kennen. Neben Bormann waren natürlich Hitlers Geliebte Eva Braun …“, er sprach absichtlich langsamer, damit Torben mitschreiben konnte, „sein Kammerdiener SS-Sturmbannführer Linge … sein Adjutant Günsche … dazu sein Leibwächter, seine vier Sekretärinnen, seine Diätköchin, sein Chauffeur und sein Leibarzt anwesend. Im Vorbunker kamen der Generalstabschef des Heeres Hans Krebs … Eva Brauns Schwager SS-Gruppenführer Hermann Fegelein … die gesamte Goebbelsfamilie und einige andere Größen des Dritten Reichs dazu. Aber ich will Sie nicht mit noch mehr Namen verwirren. Wie dem auch sei, Ende April standen die russischen Truppen in Berlin und Hitler traute längst niemanden mehr.

      So hatte Hermann Göring, Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe, Berlin am 20. April 1945 nach dem Empfang zu Ehren Adolf Hitlers sechsundfünfzigsten Geburtstags wie viele andere Staats- und Parteifunktionäre in Richtung des noch unbesetzten Süddeutschlands verlassen. Drei Tage später versuchte er, weil Hitler weiterhin in Berlin ausharrte, sich als dessen Nachfolger auszurufen. Der Führer enthob ihn daraufhin aller Ämter und ließ ihn auf dem Obersalzberg, seinem Wohnsitz im Berchtesgadener Land, wegen Hochverrats von der dortigen SS-Kommandantur festsetzen.

      Heinrich Himmler, Reichsführer-SS, Reichsinnenminister und Chef der Deutschen Polizei, hatte in den Augen Hitlers ebenfalls versagt, weil er als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel im März nicht hatte verhindern können, dass die Rote Armee die Front in Pommern durchbrach. Etwa zeitgleich mit dem Putschversuch Görings suchte Himmler den Kontakt zu den alliierten westlichen Streitkräften, um eine einseitige Kapitulation anzubieten, und ließ dafür sogar jüdische Frauen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück frei. Am 28. April 1945 wurde Himmler für dieses Verhalten von Hitler ebenfalls aller Ämter enthoben.

      Und so ging es weiter! Fegelein, sein Beinaheschwippschwager, setzte sich in Zivil und mit einhunderttausend Reichsmark und Schweizer Franken aus dem Führerbunker ab, SS-General Karl Wolff schloss in Italien einen Waffenstillstand, SS-General Felix Steiner verweigerte den Gehorsam. Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Hitler fühlte sich verraten, getäuscht, war außer sich vor Wut und fürchtete einen Attentäter, der sich bereits im Führerbunker hätte befinden können.

      Zumindest gelang es dem aufgebrachten und zornigen Hitler, Fegelein durch einen seiner Personenschützer aufspüren zu lassen. Er ließ ihn im Ehrenhof der Reichskanzlei hinrichten, obwohl Eva Braun für den Mann ihrer schwangeren Schwester auf Knien um Gnade bat. Vermutlich um seine Geliebte zu beruhigen, ließ er deshalb einen Standesbeamten ausfindig machen und heiratete Eva Braun um Mitternacht des 28. April 1945.“

      Torben, der mit seinen Notizen schon längst nicht mehr hinterherkam, und in dessen Kopf die Namen herumschwirrten, die er wahrscheinlich schon vielfach gehört, aber noch nie so miteinander in Verbindung gebracht hatte, unterbrach den Professor: „Hitler hat Eva Braun geheiratet? Das wusste ich gar nicht!“

      „Tja, mein lieber Freund, deshalb gibt es ja Menschen wie mich, die ab und an mal ein Buch schreiben, damit bestimmte Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten.“ Er zog Gertrud von einem Mülleimer weg, denn mittlerweile hatten sie die Parkanlage erreicht.

      „Kommen Sie, setzen wir uns dort an den Springbrunnen und ich erzähle Ihnen den Rest.“

      Torben und Gertrud kamen dieser Einladung gerne nach.

      „Nach der Hochzeit mit Eva Braun, ich meine Eva Hitler, geborene Braun, um genau zu sein“, der Professor lächelte, „diktierte Hitler der Sekretärin Traudl Junge sein politisches und ein persönliches Testament. Göring und Himmler schloss er aus der NSDAP aus. Als Reichspräsidenten ernannte er Großadmiral Karl Dönitz und Goebbels wurde Kanzler. Generaloberst Robert Ritter von Greim, der durch die Testpilotin Hanna Reitsch drei Tage zuvor unter größtem Risiko ins fast völlig besetzte Berlin eingeflogen worden war, wurde zum Luftwaffenchef befördert und erhielt den Auftrag, gemeinsam mit Reitsch wieder auszufliegen und Himmler hinrichten zu lassen, wenn er seiner habhaft werden könnte. Das erzähle ich Ihnen, weil Reitsch mehrere persönliche Briefe mitnahm. So hatte Magda Goebbels an ihren Sohn aus erster Ehe geschrieben und Eva Braun-Hitler an jemand anderen. Diesen Adressaten kennen wir allerdings noch immer nicht. Der Brief von Frau Goebbels wurde später durch die Alliierten zwar sichergestellt, den Brief der frischgebackenen Frau Hitler will Reitsch jedoch vernichtet haben.

      Sie sehen also, es wurde jede Möglichkeit genutzt, um noch persönliche Nachrichten oder Befehle aus dem Bunker hinauszubringen. Insoweit mag ich der Geschichte von Reiher – so hieß er doch – durchaus etwas Wahres abgewinnen.

      Der