Kurierdienste zurückgreifen, erst recht, wenn sie durch Drohungen – wie der anstehenden Hinrichtung von Familienangehörigen – besonders motiviert und zu Höchstleistungen angespornt werden konnten.“
„Aber mein Großvater hatte niemanden mehr in Berlin! Er war auf diese Weise nicht erpressbar“, wandte Torben ein.
„Vielleicht hat er sich für einen Kameraden geopfert, oder ihm wurde schlichtweg eine Lüge aufgetischt, um ihn dazu zu bringen, als Kurier zu fungieren. Mir fallen da tausend verschiedene Möglichkeiten ein“, gab der Professor zu bedenken. „Wie auch immer“, setzte er fort, „am 30. April – seinem Todestag – stand Hitler sehr früh auf, verteilte Geschenke an Getreue und beauftragte seinen Adjutanten Günsche, seinen Leichnam nach seinem Tod zu verbrennen. Er aß allein zu Mittag und erteilte General Helmuth Weidling den Befehl zum Ausbruch aus Berlin, um mit den verbliebenen Soldaten anschließend in den Wäldern weiterzukämpfen. Hitler verabschiedete sich danach von seinen Mitarbeitern und ging gegen 15 Uhr – also etwa zu der Zeit, als Reiher ihren Großvater im Treppenhaus des Führerbunkers getroffen haben will – mit seiner neuen Frau in seinen Wohnraum.
Gegen 15.30 Uhr hörte Günsche, der als Wachposten vor der Tür stand, einen Schuss. Gemeinsam mit Bormann und anderen betrat er deshalb das Zimmer.
Ab hier gibt es verschiedene Schilderungen, deren Abweichen sicherlich auf die unterschiedlichen Wahrnehmungen der einzelnen Zeugen der Auffindesituation zurückzuführen ist.
Ich bin der Meinung, dass es am wahrscheinlichsten ist, dass Eva und Adolf Hitler beide Giftampullen zerbissen haben und Hitler sich zusätzlich in die Schläfe schoss. Die ganzen letzten Tage zuvor war nämlich die Art und Weise eines möglichen Suizides das beherrschende Thema im Bunker gewesen. Hitler selbst hatte wiederholt Giftampullen mit Zyankali und Blausäure verteilt. Da die Kapseln ursprünglich von Himmler stammten und er ihm nach seinem Verrat nicht mehr traute, hatte er ihre Wirkung vor seinem eigenen Tod sogar noch an seinem geliebten Schäferhund und dem Hund seiner Frau erfolgreich ausprobiert.
Aber weiter! Die Eheleute Hitler waren also tot. Bormann, Günsche und einige Leibwächter aus dem Begleitkommando verbrannten die Leichen im Garten der alten Reichskanzlei und setzten die verkohlten Überreste in einem Granattrichter bei. Bormann und Goebbels bemühten sich ab diesem Zeitpunkt verzweifelt, ihre Machtbefugnisse zu retten, und begannen mit den Russen über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Die lehnten aber ab. Bormann unternahm danach mit einigen anderen einen Ausbruchversuch aus dem Führerbunker, nahm sich aber in diesem aussichtslosen Kampf – auch da hat Reiher recht – ebenfalls mit Gift das Leben, so bestätigen es verschiedene Zeugen. Da man seine Leiche nicht fand, wurde Bormann bei den Nürnberger Prozessen in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Bauarbeiten am Lehrter Bahnhof in Berlin förderten erst 1972 seine Knochen tatsächlich zutage.
Goebbels hielt noch mehr als einen Tag die Stellung, bevor er dem neuen Reichspräsidenten Dönitz von Hitlers Selbstmord berichtete. Am Abend vergiftete dann seine Frau Magda die gemeinsamen sechs Kinder und beging mit ihm zusammen Selbstmord. Auch sie wurden mit ihren Kindern im Garten verbrannt. Trotz noch andauernder Kämpfe verschiedener Truppenverbände kann man sagen, dass der Krieg ab diesem Zeitpunkt de facto vorbei war. Als die Russen den Bunker einnahmen, befand sich dort nur noch der Haustechniker Johannes Hentschel, der die Wasserpumpe für das Lazarett in Betrieb hielt.
Natürlich gab es im Laufe der Zeit immer wieder Gerüchte, dass der Führer überlebt haben könnte. So sahen ihn Verschwörungstheoretiker gemeinsam mit Reitsch und Greim ausfliegen und ein U-Boot nach Südamerika besteigen. Aber spätestens seit Mitte der Neunzigerjahre sind diese Spekulationen verstummt, weil die Russen den Zugang zu den sowjetischen Geheimdienstarchiven ermöglichten.“
„Was heißt das genau?“ Torben schaute bei der Frage kurz von seinen Notizen auf und rieb sich die vom Mitschreiben schmerzende Hand.
„Die militärische Spionageeinheit Smersch – was übrigens vollständig ‚Smert’ špiona‘ also ‚Tod den Spionen‘ bedeutet – der 3. Stoßarmee unter Leitung von Oberstleutnant Ivan Klimenko hatte bereits am 2. Mai 1945 den Garten der alten Reichskanzlei betreten. Dort fanden sie zuerst die Überreste der Eheleute Goebbels, dann die Kinderleichen und den Körper des letzten Generalstabschefs der Wehrmacht, Hans Krebs, der sich kurz zuvor wegen der gescheiterten Kapitulationsverhandlungen ebenfalls das Leben genommen hatte. Die Identifizierung der Leichname erfolgte vor Ort durch gefangen genommene Zeugen. Hinkefuß Goebbels war ja auch, schon anatomisch betrachtet, leicht zu erkennen.
Das Ehepaar Hitler wurde am 5. Mai durch einen einfachen Soldaten gefunden, aber zunächst wieder begraben, da man den Leichnam des Führer-Doppelgängers, Gustav Weler, in der Nähe der neuen Reichskanzlei aufgefunden hatte und ihn zunächst für Hitler hielt. Weler wurde jedoch als solcher identifiziert und die Grabstelle Hitlers durch Zeugenaussagen bekannt, die übrigens zum Teil durch Folter erpresst wurden. Bei der erneuten Öffnung des Grabes am selben Tag wurden dann auch ein Medaillon, Bargeld und die beiden Hunde gefunden. Die Leichen des Führerehepaars wurden durch eine eigens eingesetzte Kommission obduziert und gerichtsmedizinische Expertisen erstellt, die ich im Rahmen meiner eigenen Forschungen selbstverständlich eingesehen habe. Mithilfe von Röntgenaufnahmen sowie Protokollen zu Zahnbehandlungen und Prothesen wurde Hitler zweifelsfrei identifiziert, nicht zuletzt dadurch, weil er nur einen Hoden hatte.“
Torben blickte erneut von seinem Notizbuch auf. „Einen Hoden?“
„Ja, einen Hoden“, wiederholte der Professor.
„Ich weiß schon, deshalb schreiben Menschen wie Sie Bücher, oder?“ Torben lachte. „Aber ich wollte Sie nicht schon wieder unterbrechen. Bitte sprechen Sie weiter.“
„Das ist schon in Ordnung. Stellen Sie Ihre Fragen am besten immer sofort!“, merkte der Professor an.
„Also, bei der Verlegung des Smersch-Stabes wenige Tage später wurden die Leichen des Ehepaars Hitler, der Familie Goebbels, des Krebs und der Hunde in mehreren Munitionskisten mitgenommen und auf dem Gelände der neuen Garnison in Finow vergraben. Diese Praxis setzte sich in gleicher Weise bei jeder weiteren Verlegung der Truppen so fort – Hitler wurde also mehrfach bestattet. Bei einer dieser Umbettungen ließ Stalin danach unter anderem Hitlers Kieferknochen nach Moskau bringen, um den Zahnstatus erneut zu untersuchen. Es besteht für mich kein Zweifel: Adolf Hitler ist tot!“
Er machte eine Pause, um diese Aussage auf Torben wirken zu lassen, ehe er fortsetzte: „Als sich die Truppe im Januar 1946 in Magdeburg an der Elbe, einhundertvierzig Kilometer östlich von Berlin, endgültig niederließ, fanden die Überreste der elf Verstorbenen zumindest für vierundzwanzig Jahre dort ihre letzte Ruhestätte. Sie wurden im Hinterhof der Westendstraße 36 in Magdeburg beigesetzt, wo die Smersch-Abteilung einquartiert wurde. Eine Adresse, die jeder Historiker und auch Neonazi in Deutschland kennt oder kennen sollte.
Als die Grundstücke der Garnison im Jahre 1970 der DDR wieder übergeben werden sollten, entschied der damalige KGB-Chef Juri Andropow mit Zustimmung von Breschnew, die Überreste der Leichen zu verbrennen, um eine Entdeckung der Gräber zu vermeiden. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurden die Körper, oder besser, was davon noch übrig war, Anfang April streng konspirativ exhumiert, auf einen Lkw verladen, auf einem Truppenübungsplatz verbrannt und die Reste danach westlich von Magdeburg von der sogenannten Schweinebrücke in die Ehle gestreut.“
Auf dem Gesicht des Professors zeichnete sich, während er weitersprach, ein sarkastisches Lächeln ab. „Adolf Hitler hatte immer von einer für seine Person angemessenen Ruhestätte geträumt. Sein Wunsch war es, in einem goldenen und mit Edelsteinen verzierten Sarg in einer anderthalb Kilometer langen und mehrere Hundert Meter hohen Gruft in Linz beerdigt zu werden. Letztendlich als eine Handvoll Asche von einer Schweinebrücke in einen Fluss geschüttet zu werden, kann wohl gegensätzlicher nicht sein.
Nur der Vollständigkeit halber – denn da bin ich meinem Berufsstand noch verpflichtet – muss ich erwähnen, dass die Russen bei der letzten Exhumierung vielleicht nicht sehr gründlich waren. Bei Schachtarbeiten für den Bau einer Garage auf dem Gelände der Westendstraße 36 oder besser Klausenerstraße, wie sie jetzt heißt, wurden zu einem späteren Zeitpunkt immer noch menschliche Knochen