gerade Gehörte auch nur so ungefähr wiedergeben können, würden Sie sogar die Prüfung bestehen!“
„Vielen Dank, George!“ Torben musste schon wieder lachen. Er genoss es, den Erzählungen von Professor Meinert zuzuhören. „Habe ich dann einen Bachelor- oder einen Master-Abschluss? – Aber im Ernst: Wenn ich Sie recht verstanden habe, passen die Schilderungen Reihers genau in den zeitlichen Ablauf der Ereignisse.“
„Also erstens: Zu einem Vordiplom könnte ich mich gerade noch durchringen, zu mehr aber nicht! Bei mir sind – im Gegensatz zu einigen meiner Kollegen – akademische Grade nicht so leicht zu erlangen! Und zweitens: Sie haben recht! Und nicht nur das, ich halte es für einen Laien – ohne Einsicht der historischen Dokumente, die ja fünfzig Jahre unter Verschluss waren – für nahezu unmöglich, die von mir geschilderten Ereignisse so detailliert in Erfahrung zu bringen“, bestätigte ein ebenfalls gut gelaunter Professor.
„Meiner Meinung nach war Reiher tatsächlich im Führerbunker und Bormann hat dafür gesorgt, dass es nicht bekannt wurde“, fuhr er fort. „Und da Reiher in diesem Punkt die Wahrheit gesagt hat, besteht auch kein Grund für uns, seine Aussagen anzuzweifeln, die seine damaligen Befehle oder das Treffen mit Ihrem Großvater betreffen. Außerdem bestätigt Ihre Mutter, dass sich beide kannten. Ein Kriminalist würde sagen, die Aussagen Reihers sind glaubhaft und werden durch andere Beweise gestützt, was uns jetzt zu Ihrem Großvater zurückbringt.
Wir können – da bin ich mir sicher – davon ausgehen, dass er wirklich direkt von Adolf Hitler einen Befehl erhielt. Die Widmung im Buch bestätigt das. Was könnte es aber gewesen sein? Hitler spricht von der ‚Zukunft des Großdeutschen Reiches‘, die in den ‚Händen‘ Ihres Großvaters liegt. Das ist selbstverständlich nur eine Metapher. Ich vermute, dass Ihr Großvater eine wichtige Nachricht, einen Befehl oder einen Gegenstand zustellen sollte. Letzte Befehle zum weiteren Kriegsverlauf konnten es eigentlich nicht sein, denn seine beiden Testamente verblieben im Bunker. Seine Nachfolge war geregelt. Seine Ehefrau, von der er Abschied hätte nehmen können, starb mit ihm. Was sollte also den Russen nicht in die Hände fallen? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht!“ Professor Meinert schien unzufrieden mit sich. „Es gibt – das versichere ich Ihnen – weder in Dokumenten noch in Zeugenaussagen der Bunkerinsassen Hinweise auf einen letzten Geheimbefehl! Hunderte Historiker vor uns haben alle Unterlagen bis ins Kleinste gesichtet, ohne ein Anzeichen dafür zu finden!
Hitler schreibt in der Widmung weiter, dass er tief in der Schuld ihres Großvaters steht. Ich interpretiere das Eingeständnis so, dass er vermutlich um die Gefahr des Auftrags wusste. Ansonsten habe ich aber nicht die geringste Vorstellung, was damit gemeint sein kann! Wenn Sie mich fragen, haben wir nur eine Chance, wir müssen die Spur, auf die uns Reiher gestoßen hat, weiterverfolgen.“
Torben, der sich gerade erneut einen Vermerk machte, stimmte seinem neuen Lehrer innerlich zu, der längst wieder weitersprach, da ihn das Thema zu sehr gefangen nahm.
„Bormann war Hitlers Sekretär. Er ließ Hitler in den Stunden vor seinem Tod nicht aus den Augen und hätte es sicherlich um nichts auf der Welt versäumt, die letzten Anweisungen oder Befehle Hitlers für die Nachwelt zu dokumentieren. Er muss etwas erfahren haben! Und er wollte diese Entdeckung bestimmt erhalten wissen. Was wäre, wenn er versucht hätte, den beiden mächtigsten Männern Nazideutschlands nach Hitler und Goebbels eine Nachricht über die letzte Anweisung des Führers zukommen zu lassen? Göring und Himmler! Gut, sie waren kurz vor Hitlers Tod ihrer Titel und Ränge enthoben worden, aber einflussreich und mächtig waren sie noch immer, und vor allem waren sie nicht in Berlin eingeschlossen!
Es ergab durchaus Sinn, Reiher nach Carinhall im Norden von Brandenburg zu schicken. Vermutlich ging Bormann davon aus, dort noch getreue Anhänger von Hermann Göring zu finden, die ihm auf nur ihnen bekannten Wegen eine Botschaft oder einen Gegenstand zukommen lassen könnten.
Carinhall diente Göring als Landsitz, auf dem er häufig ausländische Staatsgäste empfing und mit ihnen in der Schorfheide jagte. Der Name des Anwesens bezieht sich auf seine erste schwedische Frau, die er nach ihrem Tod mit einem Staatsakt nach Deutschland überführen und in einer Gruft auf dem Gelände von Carinhall beisetzen ließ.
Göring war nicht nur für die Gründung der Gestapo, die Errichtung der ersten Konzentrationslager oder für die Endlösung der Judenfrage verantwortlich. In Carinhall ließ er auch eine riesige Kunstsammlung von unschätzbarem Wert anhäufen, die fast ausschließlich aus Raub- und Beutekunst aus ganz Europa stammte. Den größten Teil der Kunstgegenstände lagerte er schon 1943 in einem Salzbergwerk in der Steiermark ein, wo er später von den Alliierten gefunden wurde. Den Rest der Sammlung schaffte er im Januar 1945 nach Berchtesgaden und stellte ihn in Luftschutzbunkern unter. Göring war Anfang Mai also noch im Besitz eines riesigen Privatvermögens. Allerdings hatte er ja Berlin, wie bereits gesagt, am 20. April 1945 den Rücken gekehrt. Bormann musste davon ausgehen, dass Göring wie üblich auf dem Anwesen Soldaten zurückgelassen hatte. Vermutlich wusste er aber nicht, dass dieser Trupp der Luftwaffe Carinhall auf Görings Weisung, um es nicht in die Hände der Roten Armee fallen zu lassen, bereits am 28. April 1945 gesprengt hatte.
Reiher hat also instinktiv richtig gehandelt, sich in Richtung Dammsmühle zu wenden. Außer den Postenhäuschen und den Unterkünften für die Wachmannschaft hätte er in Carinhall nichts vorgefunden.
Aber bleiben wir noch kurz bei Göring. Sein Handeln, sich selbst als neuen Führer auszurufen, hatte ja dazu geführt, dass er wegen Hochverrats auf dem Obersalzberg festsaß. Als aber bekannt wurde, dass Hitler tot war, ließ ihn die SS unverzüglich frei. Das bestätigt, dass auch noch andere Kräfte neben Bormann in Göring den nächsten starken Hoffnungsträger Deutschlands sahen. Er stellte sich – aus Angst vor den Russen – aber am 9. Mai 1945 der 7. US-Armee. Er wurde in Nürnberg zum Tode verurteilt, nahm sich jedoch in der Nacht vor seiner Hinrichtung im Oktober 1946 mit einer Zyankalikapsel selbst das Leben.“
Der Professor machte eine kurze Pause, weil er bemerkte, dass Torben mit seinen Notizen wieder nicht hinterherkam. Als es sicher war, dass er weitermachen konnte, stellte er die Frage: „Und was wurde aus Carinhall? – Vor ein paar Jahren hat man noch eine kleine erhaltene Bunkeranlage mit ein paar Kunstgegenständen ausgegraben. Ich habe das Anwesen mehrfach mit Studenten besucht. Der Bunker wurde zur Beherbergung von Fledermäusen ausgebaut. Die restlichen Nebengebäude sind inzwischen Baudenkmäler. Die einzig erhaltende Statue, die Kämpfende Amazone von Franz von Stuck, die westlich des ursprünglichen Hauptflügels stand, wurde nach Eberswalde gebracht. Auch diese Spur ist kalt. Meiner Meinung nach bleibt uns ebenso wie Reiher nur die Dammsmühle Heinrich Himmlers, um unsere Suche in der Hoffnung fortzusetzen, dort einen Hinweis zu finden.“
Damit beendete der Professor seine Ausführungen und sah Torben erwartungsvoll an. Wie auf Stichwort hob auch Gertrud, die bis dahin ein kleines Schläfchen in der Frühlingssonne gehalten hatte, ihren Kopf und blickte ebenfalls in Torbens Richtung.
Torben, schon längst von dieser Idee überzeugt, schlug sein Notizbuch zu, zwinkerte in Gertruds Richtung und antwortete: „Was soll ich da noch sagen? Offensichtlich werde ich – falls ich ablehne – sowieso überstimmt!“
„Sehr gut, mein lieber Freund!“, rief der Professor begeistert. „Und da bekanntlich Zeit Geld ist oder flieht, wie der Lateiner mit tempus fugit zu bedenken gibt, sollten wir gleich den heutigen Tag für den Ausflug zur Dammsmühle nutzen!“
IV
Zwei Stunden später saßen sie in Torbens zehn Jahre altem VW Golf und fuhren in Richtung Wandlitz vor den Toren Berlins.
Sie hatten die Zeit genutzt, um noch etwas essen zu gehen, wobei Torben überrascht wurde, welche Menge an Kleinigkeiten in den Magen eines Chiwawas passten. Noch im Park hatte der Professor einen seiner ehemaligen Mitarbeiter angerufen und gebeten, etwas über die Dammsmühle in Erfahrung zu bringen. Offensichtlich genoss Professor Meinert noch immer ein hohes Ansehen bei seinen ehemaligen Angestellten, denn bereits vor dem Dessert rief dieser zurück.
Sie erfuhren, dass es sich bei der Dammsmühle, oder besser, dem Schloss Dammsmühle um ein neubarockes Herrenhaus nördlich von Berlin in der