Swen Ennullat

Alpendohle


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her? Und vor allem: Wissen Sie, wer es vom Führer bekommen hat? Der Kreis der Menschen, die ihn in seinen letzten Stunden sahen, ist recht überschaubar. Einer von ihnen könnte es jedoch tatsächlich erhalten haben, denn die Handschrift ähnelt schon stark der des Führers. In den letzten Wochen vor seinem Tod sollen in Hitlers Armen Lähmungserscheinungen aufgetreten sein. Er war ein kranker Mann und das Schreiben fiel ihm zunehmend schwer. Ich bin aber natürlich bei Weitem kein Gutachter.“

      Torben holte kurz Luft und begann zu erzählen: „Das Buch stammt aus dem Nachlass meines verstorbenen Großvaters. Ich vermute, dass er es persönlich vom Führer unmittelbar vor dessen Suizid empfangen hat.“

      In den folgenden Minuten setzte er den Professor darüber in Kenntnis, was er von Konrad Reiher über seinen Großvater und deren beider Anwesenheit im Führerbunker erfahren hatte. Erst als er endete, registrierte er, dass sein Zuhörer ihn dieses Mal nicht unterbrochen hatte. Vielmehr glänzten dessen Augen regelrecht und fast erweckte es den Eindruck, als ob der Professor plötzlich frischer und jugendlicher aussah.

      Als er sicher sein konnte, dass Torben seine Ausführungen abgeschlossen hatte, erwiderte Professor Meinert: „Mein lieber junger Freund, ich glaube, das ist der Beginn einer wundervollen Freundschaft!“ Er lachte und legte seine freie Hand auf Torbens Arm. „Ihre Geschichte und Ihre Nachforschungen sind höchst interessant. Sie eröffnen einen völlig neuen Blick auf die letzten Tage des Tausendjährigen Reiches. Sie sind von großer wissenschaftlicher Bedeutung. Ich bin sehr froh, dass Sie den Weg ausgerechnet zu mir gefunden haben. Sie kommen allerdings“ – der Professor seufzte und ließ Torben los – „zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt zu mir. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass ich meinen Lehrstuhl abgegeben und mich sozusagen ins Privatleben zurückgezogen habe.“ Der grimmige Blick des Professors verriet, dass dieser Schritt nicht freiwillig erfolgte.

      „Das weiß ich bereits“, entgegnete Torben. Schon wenige Minuten nach der herzlichen Begrüßung durch den Professor hatte er entschieden, den für ihn richtigen Experten für seine Recherchen kennengelernt zu haben. Jetzt wollte er ihre Zusammenarbeit nicht mit einer Lüge beginnen. „Ich habe gestern mit dem Sekretariat Ihrer Fakultät gesprochen. Ist es unhöflich, nach dem Grund Ihrer Entscheidung zu fragen?“

      „Keineswegs, Torben! Zugegebenermaßen werden Sie mein Motiv allerdings vielleicht als höchst banal betrachten. Ich habe bei meinen Forschungen die Rolle der Alliierten schon immer sehr differenziert betrachtet. In einem meiner letzten Gutachten habe ich mich nun dazu hinreißen lassen, mich diesbezüglich noch kritischer als jemals zuvor zu äußern. Es ging dabei um den Tod von neun Jungen der Hitlerjugend, die – so belegen es neu aufgetauchte Unterlagen – im März 1945 bei Treseburg im Harz von US-Soldaten erschossen, oder besser gesagt, hingerichtet wurden. Da aber die HJ eine von der Wehrmacht unabhängige Organisation und ihre Mitglieder, formell genommen, somit keine Militärangehörigen waren, habe ich das Handeln der US-Amerikaner im Rahmen meiner Gutachtertätigkeit im Strafverfahren als Mord eingestuft. Bekanntlich kann dieser nicht verjähren. Was zur Folge hätte, dass die an der Tat beteiligten und noch lebenden GIs hätten verhaftet werden müssen.

      Seine Magnifizenz – der Rektor meiner Hochschule – sowie der Kanzler und einige andere sahen den Fall jedoch völlig anders und verlangten von mir, dass ich das Gutachten zurückziehen, abändern und den Terminus Kriegsverbrechen verwenden solle, was nebenbei gesagt impliziert, dass die Handlungen nicht mehr verfolgt werden können. Als ich den Damen und Herren sagte, was sie mich mal können, war dies wohl der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Von meinem Standpunkt aus betrachtet hätte ich aber nicht nur meine wissenschaftliche Meinung aufgegeben, ich hätte die für einen Forscher notwendige Unabhängigkeit verloren.

      Mittlerweile habe ich sogar eine Vermutung, was den möglichen Hintergrund der Bitte oder Order betrifft, ganz wie Sie wollen. Offensichtlich strebt meine Hochschule eine Kooperationsvereinbarung im Bereich der Forschung mit einer finanzstarken Universität an der Ostküste der USA an. Verständlicherweise möchte man den zukünftigen Partner nicht mit amerikakritischen Enthüllungen vor dem Kopf stoßen.

      Und so – wieder einmal um einige Illusionen ärmer – habe ich unlängst beschlossen, in den sofortigen Ruhestand zu treten. Die Entscheidung fiel mir zumindest in finanzieller Hinsicht leicht, da ich vor einigen Jahren das ausgesprochene Glück hatte, eine größere Erbschaft anzutreten. Einen solchen Vorgang kann ich jedem nur empfehlen.“

      Torben, der dem Professor aufmerksam zugehört hatte, sagte: „Ich bedauere sehr, wie man mit Ihnen umgegangen ist, George. Die Frage ist aber nun, ob Sie bereit sind, mir zu helfen, denn mir persönlich ist es völlig egal, ob Sie noch eine Professur innehaben oder nicht!“

      Das Gesicht des Professors hellte sich augenblicklich auf und er erwiderte: „Sie haben recht, Torben! Es ist töricht, Trübsal zu blasen und ewig einer verflossenen Liebe nachzuweinen! Die Devise muss lauten: Auf zu neuen Ufern! Also, Sie halten mit diesem Buch eine unglaubliche Chance in der Hand, das Ende und womöglich das Erbe eines der größten Diktatoren der Geschichte der Menschheit etwas aufzuhellen. Ich verfüge zwar über keine Mitarbeiter mehr, die mich bei meinen Forschungsarbeiten unterstützen, aber wir, ich meine damit Gertrud und mich“, er streichelte der inzwischen deutlich gelangweilten kleinen Hundelady den Kopf, „würden uns freuen, wenn wir Ihnen bei Ihren Nachforschungen helfen können. Und außerdem wird das – sollten wir erfolgreich sein – meinen früheren Arbeitgeber ziemlich verärgern.“

      Der Professor lachte erneut, setzte zum Weiterlaufen an und reichte Torben das Buch. „Hier, nehmen Sie es zurück! Die Widmung habe ich mir sowieso gemerkt. Es gehört ja Ihnen, aber achten Sie gut darauf. Wir werden den Wälzer bestimmt noch brauchen. Um das Rätsel zu lösen, schlage ich vor, dass wir uns erst einmal gedanklich in die letzten Kriegstage zurückbegeben. Meinen Sie nicht auch?“

      Torben, der gerade unter den neugierigen Blicken Gertruds, die wohl auf ein Leckerli hoffte, sein Buch verstaute, nickte kurz als Zeichen der Zustimmung.

      Der Professor, abermals gut gelaunt und voller Elan und Tatendrang, hatte nun endlich wieder die Gelegenheit, sein lebenslang erworbenes Wissen über das Dritte Reich und den Nationalsozialismus weiterzugeben, und es bereitete ihm großes Vergnügen. Fast schon theatralisch setzte er an: „Beginnen wir also mit der ersten Unterrichtsstunde! Sie hätten keinen besseren Ort für den Anfang unserer Reise in die Geschichte wählen können!“

      Professor Meinert und Torben gingen langsam zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals hindurch. Weil nicht genügend Platz war, mussten sie hintereinander laufen. Torben sah, wie der Professor ab und an seine Hand über die Steinquader gleiten ließ.

      „Waren Sie jemals vorher hier, mein junger Freund?“, fragte er ihn, während er sich umdrehte.

      „Nun ja“, gab Torben etwas verlegen zu, „ich habe zwar eine Wohnung im Wedding, aber ich bin viel unterwegs und verbringe wenig Zeit in Berlin. Um ehrlich zu sein, ich habe mir das Mahnmal noch nie richtig angeschaut.“

      Professor Meinert hatte nicht vor, ihn zu kritisieren. „Das ist nicht schlimm! Ich verstehe das, Sie sind ein junger Mensch und voller Leben. Der Tod sollte Sie jetzt noch nicht beschäftigen.“ Nach einer kurzen Pause sprach er weiter: „Dieses Mahnmal erinnert an eines der dunkelsten Kapitel des Dritten Reiches. Ich will Ihnen nichts vormachen, vielleicht müssen wir uns genau mit diesen Dingen auseinandersetzen.“

      Gertrud, die jetzt etwas ängstlich schien, was nicht verwunderlich war, da die Stelen bisweilen selbst die beiden Männer überragten, wurde vom Professor auf den Arm genommen. „Es sind übrigens zweitausendsiebenhundertelf Betonpfeiler, die in parallelen Reihen auf einer Fläche von fast zwei Hektar aufgestellt wurden. Jeder der grauen Pfeiler ist etwa einen Meter breit und zweieinhalb Meter lang.“ Jetzt kam bei ihm doch noch der Stadtführer durch. „Die Höhen reichen von zwanzig Zentimetern bis fast fünf Meter. Wie Sie vielleicht erkennen können, ist das Stelenfeld sanft, aber unregelmäßig geneigt. Optisch ergeben die Steine eine Welle“, klärte der Professor Torben auf. „Die Quader sind nur der sichtbare Teil des Mahnmals. Zu dem Komplex gehört auch ein unterirdisches Museum mit einer Namensliste der bekannten jüdischen Holocaustopfer. Die Stelen sollen wohl an Grabsteine erinnern, da Ähnlichkeiten