Swen Ennullat

Alpendohle


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gerückt, als beschlossen wurde, die wichtigsten SED-Politbüromitglieder der kommunistischen DDR in einem gesonderten, speziell gesicherten Komplex unterzubringen, der vom Ministerium für Staatssicherheit leichter als die Stadthäuser in der Berliner Innenstadt abzuschirmen war. Die Bewohner lebten im Vergleich zu anderen DDR-Bürgern dort recht luxuriös. Das wenige Kilometer entfernte Schloss Dammsmühle wurde in diesem Zusammenhang vom Inlandsgeheimdienst der DDR vereinnahmt und diente über Jahrzehnte den roten Bonzen als Jagdschloss.

      Der Name des Anwesens war im Übrigen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Mühle zurückzuführen, die sich im 16. Jahrhundert an gleicher Stelle befand.

      Ursprünglich wurde das Schloss im 18. Jahrhundert von einem Berliner Lederfabrikanten als zweigeschossiges Palais in der Nähe des Mühlenbecker Sees errichtet. Später wurde es umgebaut, aufgestockt und unter anderem mit einem Turm mit Zwiebelhaube versehen. Die Besitzer wechselten mehrfach. Selbst Napoleon, Wilhelm II. oder Zar Nikolaus II. logierten hier.

      Während der Nazizeit wurde der letzte Eigentümer, der Brite Harry Goodwin Hart, enteignet, der damals nicht nur Direktor von „Unilever“, sondern auch mit einer jüdischen Frau verheiratet war. Auf diese Weise gelangte die Dammsmühle in die Hände von Heinrich Himmler. 1943 wurde sie kurzzeitig Außenlager des nahe gelegenen Konzentrationslagers Sachsenhausen. Fünfundzwanzig Häftlinge hatten die „ehrenhafte“ Aufgabe, Himmlers Parkanlagen rund um Schloss und See zu pflegen. Kurz vor Kriegsende bezog der neue Kommandeur der Heeresgruppe Weichsel, Generaloberst Gotthard Heinrici, dort sein Hauptquartier.

      Diese Information begeisterte den Professor regelrecht und er erachtete es als notwendig, Torben die Person des Obersts sofort näherzubringen. So erfuhr er, dass Heinrici kommandierender Offizier bei der „Schlacht um die Seelower Höhen“ war, die vor den Toren Berlins noch zu sehr großen sowjetischen Verlusten, vorrangig bei Panzern, geführt hatte. Weil er letztendlich doch den Rückzug befahl, wurde er jedoch am 29. April 1945 von Hitler – einen Tag vor dessen Freitod – seines Postens enthoben und sollte vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Nach Hitlers Suizid wurde freilich auch dieser Befehl nicht mehr umgesetzt und Heinrici ergab sich Ende Mai den britischen Truppen.

      Der Professor erklärte weiter, dass der Oberst bereits während des Russlandfeldzuges mehrfach Befehle ignoriert hatte und zweimal seines Kommandos enthoben wurde. Seine hervorragenden militärischen Kenntnisse, insbesondere über Rückzugsgefechte, sorgten jedoch dafür, dass ihm immer wieder Kommandos übertragen wurden. Er erachtete Heinrici an dieser Stelle zwar als – wie er sich ausdrückte – schillernde und interessante Persönlichkeit, eine Verbindung zu Bormann konnte er aber nicht erkennen. Er sah dagegen seine Vermutung bestätigt, dass sich auf der Dammsmühle, die ja als Hauptquartier von Heinrici bis zuletzt für die Koordination der Kampfhandlungen benötigt wurde, bis in die letzten Kriegstage hinein noch deutsche Truppen aufgehalten hatten.

      Nach der Kapitulation diente die Dammsmühle als Lazarett, später als Erholungsheim und Kasino der Roten Armee, bis sie der DDR zur Nutzung übergeben wurde.

      Nach der Wiedervereinigung machten die jüdischen Erben von Hart, dem letzten rechtmäßigen Eigentümer, erfolgreich Rückübertragungsansprüche geltend und verkauften danach das Schloss samt Grundstück weiter. Während der letzten zehn Jahre versuchten immer wieder Veranstalter, dort verschiedene Projekte zu etablieren. Aber weder Open-Air-Konzerte, Restaurants noch Sportveranstaltungen fanden den rechten Anklang, sodass das Anwesen erneut dem Verfall preisgegeben wurde.

      Nachdem sein ehemaliger Mitarbeiter seine Ausführungen beendet hatte, bedankte sich der Professor überaus freundlich für dessen Bemühungen und bat – ganz Gentleman der alten Schule – noch Grüße an dessen „verehrte Frau Gemahlin“ auszurichten.

      Danach ließ sich Professor Meinert trotz eines dagegen protestierenden Torben nicht davon abhalten, die Rechnung für das Mittagessen zu übernehmen, sodass sich Torben im Gegenzug wenigstens als Chauffeur für den anstehenden Ausflug anbot.

      Die Fahrt selbst war für alle recht amüsant. Der Professor, gesättigt und gut gelaunt, erklärte den Anfahrtsweg zur offiziellen Pause zwischen den Unterrichtseinheiten, die sowohl Lehrer als auch Student zum Ausruhen nutzen sollten. Er kündigte an, daher vorerst auf weitere Vorträge zu verzichten. Kurz vor ihrem Ziel, als ein Schild darauf aufmerksam machte, dass sie sich bereits im Naturpark Barnim befanden, musste Torben ihn und Gertrud dann auch wecken. Professor Meinert quittierte dies eilends mit der Bemerkung, dass er überhaupt nicht geschlafen habe. Als Torben das Gegenteil behauptete und lautstark mit Geräuschen belegte, stritt der Professor lachend jegliches Schnarchen ab und bat darum, dass sich alle wieder auf die vor ihnen liegende Aufgabe konzentrieren sollten.

      Die letzten drei Kilometer führte sie das Navigationsgerät über eine schmale, offenbar kaum noch befahrene Straße durch einen dichten Mischwald, in dem die Laubbäume nach dem langen Winter endlich begannen, zaghaft ihr neues Grün zu zeigen.

      Obwohl auf der rechten Seite einige leer stehende Wirtschaftsgebäude und halb zugewachsene Parkplätze darauf hinwiesen, dass sie sich unmittelbar vor ihrem Ziel befanden, waren der Professor und Torben doch von der erhabenen Eleganz überrascht, mit der das Schloss plötzlich hinter der nächsten Biegung des Weges auftauchte. Eingebettet in einer malerischen, wenn auch seit Jahren ungepflegten und dadurch wildromantisch wirkenden Parkanlage, grenzte das dreistöckige, in angenehmen rosa Farbtönen gehaltene Gebäude mit L-förmiger Grundfläche direkt an einen See mit kristallklarem Wasser.

      Selbst der Professor musste bei dem Anblick zugeben, dass sich das Schloss eher als Filmkulisse für eine Jane-Austen-Verfilmung eignen würde, als dort den Rätseln alter Nazis nachzujagen.

      Nord- und Ostflügel verfügten jeweils über Flachdächer, welche die Gefälligkeit der hohen Fenster im klassizistischen Stil eher betonten. Beide Gebäudeteile vereinigten sich in einem die Seitenflügel um das doppelte überragenden Turm mit einer runden zwiebelförmigen Kuppel. Eine großzügige von der zweiten Ebene zu erreichende Terrasse und mehrere über die gesamte Front verteilte Balkone mit dunklen Eisengeländern luden zu einem Blick auf den See und den das Schloss umgebenden Park ein.

      Als Torben und der Professor aus dem Auto stiegen, fanden sie Palais und Parkanlage vollständig verwaist vor. Nichts vermittelte den Eindruck, dass das Schloss in den letzten Jahren aus seinem Schlaf geweckt worden war.

      Mit einem lauten Bellen, das Torben ihr gar nicht zugetraut hätte, kam Gertrud prompt ihrem natürlichen Bewegungsdrang nach. Während sie sich durch das hohe Gras der letzten und bereits verwelkenden Frühblüher des neuen Jahres einen Weg bahnte und dabei zwei Fasane aufscheuchte, umrundeten Torben und der Professor das Gebäude auf der Suche nach einem möglichen Eingang, da die Tür des Hauptportals abgeschlossen war. Sie stellten schnell fest, dass der Glanz vergangener Zeiten und die Aufwendungen verschiedener Investoren der Neunziger, die dem Gemäuer wieder Leben einhauchen wollten oder aber nur das schnelle Geld gewittert hatten, dem Vandalismus von weniger intelligenten Zeitgenossen zum Opfer gefallen waren. Viele der Fenster waren eingeschlagen und etliche Fensteröffnungen in der unteren Etage deshalb zugemauert oder mit Brettern vernagelt. Unrat und Dreck bedeckten die Wege. Am einst so herrschaftlichen Bootsanleger schwammen unzählige Plastikflaschen im Wasser. Beim genaueren Hinsehen zerfloss die ehrwürdige Schönheit des Anwesens und vor allem beim Professor wandelte sich die Stimmung in Wut und Trauer. Verächtlich sprach er vom Werk von üblen Barbaren und untätigen Behörden.

      Seine Laune hellte sich erst ein wenig auf, als sie eine – wenn auch gewaltsam geöffnete – Seitentür fanden, die ihnen den Eintritt in das Gebäude ermöglichte. Es dauerte einen Moment, ehe sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten. Professor Meinerts Miene verfinsterte sich kurz darauf schon wieder, als er in dem dahinterliegenden Flur eine meterhohe und über den historischen Stuck reichende farbige Losung „All Cops Are Bastards“ erblickte. Eingerahmt wurde das unnötige Graffito von mehreren Darstellungen des Buchstaben A, die sich jeweils in einem Kreis befanden. Obwohl Torben wusste, dass es sich dabei um Anarchiezeichen der linksextremen Szene handelte, ließ er den Professor gewähren, als der ihm dazu einen seiner Kurzvorträge hielt und beifügte, dass die Verfasser – wären sie noch hier – die gewünschte Anarchie von ihm gleich am eigenen Leibe erfahren könnten.