fand nach seiner anfänglichen Euphorie ebenfalls auf den Boden der Tatsachen zurück und musste feststellen, dass er für eine Exkursion in leer stehende Gemäuer nicht ausreichend vorbereitet war, da ihm noch nicht einmal eine Taschenlampe zur Verfügung stand. Weil sich dem vorerst nicht abhelfen ließ, mussten sie gezwungenermaßen mit dem spärlichen Licht auskommen, das durch die schmutzigen oder gar vernagelten Fenster einfiel.
Außerdem fühlte sich Torben wie ein Eindringling und wusste nicht so recht, wonach er eigentlich Ausschau halten sollte. Und obwohl es nicht den geringsten Anhaltspunkt gab, hatte er das Gefühl, dass sie nicht allein im Schloss waren und irgendjemand sie beobachtete.
Die abgewohnten Räume, die sie betraten, waren meistens, bis auf ein paar kaputte Möbelstücke, Matratzen, Flaschen und anderen Müll, völlig leer. Zum Teil gelang es Torben nicht einmal zu erraten, welchem Zweck einzelne Zimmer früher gedient hatten, in solch einem schlechten Zustand befanden sie sich.
Eine Verbindung zum Deutschland des Jahres 1945 oder davor konnte er nicht ansatzweise finden. Der Lösung des Rätsels kamen sie so sicherlich nicht näher. Torben hatte den Eindruck, sie stocherten blind im Nebel, und sagte das auch Professor Meinert. Der teilte mittlerweile diese Ansicht, denn auch seine anfängliche Begeisterung für eine Reise in die Vergangenheit war in diesem leeren und deprimierenden Schloss verflogen.
Zwischenzeitlich erreichten sie die zwar ebenfalls stark verschmutzte, aber zumindest lichtdurchflutete Haupthalle und standen nun vor einer geschwungenen Treppe, die in das erste Obergeschoss führte. Sie einigten sich gerade darauf, noch das von Reiher beschriebene Arbeitszimmer und den Küchentrakt, in dem er sich ja aufgehalten haben wollte, in Augenschein zu nehmen, als plötzlich Gertrud zu knurren anfing. Während sich der Professor in Richtung seines Hundes beugte, um ihn zu streicheln und zu beruhigen, sah Torben einen hageren, ungepflegten, bärtigen und – wie man an Augen und Gang deutlich sah – alkoholisierten Mann mittleren Alters vom oberen Treppenaufsatz auf sich zukommen. Seine Kleidung war verdreckt und seinen letzten Gang zur Toilette hatte er wohl nicht mehr rechtzeitig geschafft, wie man an dem dunklen Fleck im Schritt seiner Hose sehen konnte.
Torben, der sich nach einigen unangenehmen Erfahrungen auf seinen Auslandsreisen durch eine gewisse Vorsicht auszeichnete, schätzte die Begegnung nicht ganz gefahrlos ein und wollte den Professor gerade auf das Erscheinen des mutmaßlichen Obdachlosen hinweisen, als es hinter ihm ertönte: „Na, wen haben wir denn da?“
Die Stimme gehörte einem anderen, weit jüngeren Mann von nicht einmal zwanzig Jahren, der wohl – genauso verdreckt und sehr wahrscheinlich auch verlaust – wie sein Kumpan ein Leben auf der Straße führte und jetzt mit einem breiten, unsympathischen Grinsen seine gelben Zahnstümpfe zeigte. Sein Gesicht, sein Hals und wahrscheinlich auch der Rest seines Körpers wiesen einen unappetitlichen dunkelroten Ausschlag mit eitrigen Pusteln auf. Torben trat instinktiv einen Schritt zurück, um sich nicht der Gefahr einer Ansteckung auszusetzen. Der Aussätzige, wie er ihn bereits gedanklich nannte, stampfte aus dem Zimmer, in dem er sich aufgehalten hatte, und blieb zwei Meter vor ihm stehen. Torben versuchte, seinen Würgereflex zu kontrollieren, denn die Entfernung war zu gering, um die Schweiß- und Alkoholausdünstungen seines Gegenübers nicht zu riechen.
Da er sich auf keinen Streit einlassen wollte, bemühte er sich, mit betont ruhiger Stimme zu sprechen, und sagte zum Professor: „George, ich glaube, wir lernen soeben zwei Bewohner des Hauses kennen!“ Während sich der Professor mit Blick auf die schäbigen Gestalten wieder aufrichtete und nur zustimmend brummte, antwortete dafür ein grobschlächtiger und glatzköpfiger Kerl, der seitlich unter der Treppe hervortrat. „Ich glaube, du irrst dich, du Lackaffe. Wir sind zu dritt! Her mit eurem Geld, Handys und was ihr sonst noch bei euch habt! Sonst steche ich zuerst den Köter und dann euch ab!“
Seine Forderung untermauerte er mit einem Springmesser, dessen Klinge er in diesem Moment mit einem schnarrenden Geräusch herausfahren ließ.
Torben – sicherlich nicht von ängstlichem Gemüt, aber einigermaßen von den Ereignissen überrascht – schätzte den Kerl wegen seines kräftigen Körperbaus und einem Gewicht von mehr als hundert Kilo als gefährlichsten der drei Männer ein. Just als er überlegte, wie sie am besten ihre Köpfe aus der Schlinge ziehen konnten, und instinktiv seine Arme hob, um den Kerlen seine Bereitschaft zur Kooperation zu signalisieren, sah er, wie der Professor mit einer Schnelligkeit, die er ihm nicht zugetraut hätte, seinen Spazierstock hochriss und dem bulligen Typ, der von Torbens Armbewegung abgelenkt war, mit voller Wucht ins Gesicht schlug. Die Nase des Glatzkopfes wurde von der Wucht des Schlages mit einem lauten Knirschen regelrecht zertrümmert und das Blut schoss aus seinen Nasenlöchern. Vor Schmerz schreiend, ließ er das Messer fallen und taumelte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.
Torben sah aus den Augenwickeln, wie sich der Aussätzige, um seinem Kumpan zu helfen, auf den Professor stürzen wollte. Er drehte sich deshalb blitzschnell zur Seite und gab dem Angreifer, als er auf seiner Höhe war, mit beiden Armen und mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, einen Stoß in die Seite, sodass dieser laut fluchend in einen Haufen Sperrmüll stürzte und sich Hände und Knie blutig schlug.
Der Betrunkene auf der Treppe rannte inzwischen den Aufgang hinunter, um sich ebenfalls auf den Professor zu stürzen, und nahm dafür immer drei Stufen gleichzeitig. Professor Meinert eilte ihm hastig entgegen, und gerade als der Bärtige den Fuß der Treppe erreicht hatte, stieß er ihm das untere Ende seines Spazierstockes mit voller Kraft in den Solarplexus. Der Oberkörper des Landstreichers kam augenblicklich aus vollem Lauf heraus quasi in der Luft zum Stillstand und sein Gesicht verzog sich vor Schmerz zu einer Grimasse. Der Rest seines Körpers blieb noch im Vorwärtsdrang, sodass er, als sich seine Beine weiter nach vorn bewegten, rückwärts nach hinten kippte, mit dem Kopf auf die untersten Steinstufen aufschlug und reglos liegen blieb.
Dem Professor blieb keine Gelegenheit festzustellen, ob der Angreifer endgültig außer Gefecht gesetzt war. Während Torben versuchte, mit gezielten Schimpftiraden, Tritten und Faustschlägen, die ihm Atem und Kraft raubten, dafür zu sorgen, dass der Aussätzige im Müllhaufen liegen blieb, denn festhalten wollte er ihn immer noch nicht, und Gertrud mit ihrem Bellen den Kampf ihres Herrchens begleitete, wandte sich der Professor wieder dem glatzköpfigen ersten Angreifer zu.
Der hatte sich von dem Schlag ins Gesicht zwar noch nicht ganz erholt, aber mit blutender Nase und irrsinniger Wut in den Augen wollte er sich erneut auf den Professor stürzen. Dieser hatte jedoch, als er erkannte, dass er mit dem Stock bei dem tobenden Berserker nichts mehr auszurichten vermochte, blitzschnell den Griff an seinem Spazierkopf mit einer leichten Drehung des Handgelenks gelöst, sodass eine etwa siebzig Zentimeter lange, dreikantige Klinge zum Vorschein kam, die er jetzt in die nach dem Messer greifende Hand des Glatzkopfs fahren ließ. Der markerschütternde Schrei, den der Kerl ausstieß, als sein Handrücken durchbohrt wurde, sorgte dafür, dass auch der Aussätzige beschloss, seine Gegenwehr fürs Erste einzustellen, nun selbst die Arme in die Luft streckte, sich fluchend in den Müll zurückfallen ließ und es sich dort widerwillig bequem machte.
Der Professor zog mit einem kurzen Ruck den kalten Stahl aus der Hand seines Gegners, wischte mit einem Taschentuch, das er danach wegwarf, die Klinge ab und ließ den Stockdegen wieder in seinen Schaft verschwinden. Er wandte sich von dem Verletzten ab, der mit seiner gesunden Hand auf die blutende Fleischwunde drückte und wegen der gebrochenen Nase beim Atmen schwer schnaufte. Der Professor ging zu dem noch immer vor Aufregung zitternden und unter Adrenalin stehenden Torben, nickte ihm anerkennend zu und sagte zu dem Pickligen: „Schnapp dir deine beiden Kumpane und verschwindet von hier. Lasst euch nicht einfallen, noch einmal aufzutauchen!“
Das ließ dieser sich nicht zweimal sagen. Er kroch zuerst zu dem Glatzköpfigen und half ihm beim Aufstehen. Ohne ein Wort zu verlieren, versuchten sie dann zu zweit, den bewusstlosen Bärtigen wachzurütteln, der noch immer auf den Treppenstufen lag. Gott sei Dank gelang es ihnen, und Torben atmete innerlich auf. Sich gegenseitig stützend, verließen die drei Galgenvögel gleich darauf den Korridor in Richtung Nordflügel. Offenkundig gab es noch andere Möglichkeiten, ins oder aus dem Schloss zu gelangen, als den Weg, den Torben und der Professor genommen hatten. Professor Meinert ließ es sich nicht nehmen, den Landstreichern hinterherzurufen, dass Sie es nicht wagen sollten, jemals wieder Graffiti anzubringen.