hatten und wie sehr sie ihm fehlten.
Er stand auf und ging zu dem großen Bücherregal, das sein Großvater einst selbst gebaut hatte, und strich über die Buchrücken, um etwas vom Geist seiner Großeltern, die Bücher so sehr geliebt hatten, aufzunehmen. Sie hatten sich sogar erst in den Neunzigerjahren einen Fernseher angeschafft, als ihre Augen langsam schlechter wurden. Selbst dann vertraten sie noch immer die Meinung, dass das Fernsehen einen negativen Einfluss auf die Fantasie der Menschen hätte. Letztendlich war es sicherlich seinen Großeltern zu verdanken, dass er die Liebe zum Schreiben für sich entdeckt hatte.
Er genoss einen recht guten Ruf als Reisejournalist. Nicht, dass er es nicht mit investigativem Journalismus oder einer festen Anstellung in einer Redaktion versucht hätte, aber es war ihm schon immer schwergefallen, sich anderen unterzuordnen.
Die letzte diesbezügliche Erfahrung lag jetzt vier Jahre zurück. Er hatte damals acht Wochen bei den deutschen Truppen in Afghanistan verbracht und seine Erlebnisse als Leitartikel niedergeschrieben. Allerdings gefiel es seinem Redakteur nach Lektüre des Entwurfs überhaupt nicht, dass deutsche Soldaten mit Langeweile, Pornos, Computerspielen sowie Alkohol- und Gewaltexzessen die Freiheit am Hindukusch verteidigten. Als ein Koautor retten sollte, was noch zu retten war, entschloss sich Torben kurzerhand, das Gastspiel Festanstellung zu beenden, und nahm das Angebot eines anderen Verlagshauses für die mehrmonatige Berichterstattung über eine Südamerika-Rundreise einer Gruppe von Naturforschern an.
Torben musste sich eingestehen, dass das Bücherregal in seiner Erinnerung irgendwie eindrucksvoller und majestätischer gewesen war als jetzt, da er davorstand. Eigentlich waren es nur einige massive Bretter, die sein Großvater dunkel gestrichen und mehr schlecht als recht zusammengezimmert hatte, jedoch mit einem solch großen Erfolg, dass das Regal sechzig Jahre und länger seinen Dienst getan und alle Renovierungen und Veränderungen der Einrichtung durch seine Großmutter überstanden hatte. Als Junge hatte Torben anhand der unterschiedlich hohen Regalböden regelmäßig überprüft, ob er wieder ein Stück gewachsen war. Vergeblich versuchte er sich zu erinnern, ob es ihm je ohne Hilfsmittel gelungen war, das oberste Regal zu erreichen. Heute, mit einem Meter achtzig, würde es ihm aber zweifellos gelingen und er beschloss, sich anstelle der Fotoalben erst einmal den Büchern zuzuwenden, die seine Großeltern im Laufe der Zeit zusammengetragen hatten.
Wenige Augenblicke später hielt er die gesammelten Werke Goethes in zehn Bänden in den Händen, gefolgt von einer Fassung des „Bürgerlichen Gesetzbuches“ aus dem Jahre 1937, nebst „Jugendwohlfahrtsgesetz“, wie sein Großvater einst betont hatte, einem Roman aus dem Jahre 1913 von Karl Strecker namens „Lebensstudenten“ und der 1940 veröffentlichen „Königsbotschaft“ von Carl Schünemann. Er musste sich eingestehen, dass er von den beiden letzten Autoren noch nie etwas gelesen hatte, und entschied, es auch weiterhin dabei zu belassen.
Während er sich noch Gedanken darüber machte, ob seine Großeltern absichtlich auf eine systematische Ordnung ihrer Bücher verzichtet hatten, bemerkte er, dass hinter den gerade entnommenen Bänden ein weiteres, in rotes Leder gebundenes, größeres Buch zum Vorschein kam, das er vorher noch nie in dem Regal bemerkt hatte. Als er sah, dass auf dessen vorderem Deckel ein schwarzes Hakenkreuz in einem weißen Kreis prangte, wurde ihm klar, dass der Platz in der zweiten Reihe sicherlich nicht zufällig gewählt worden war. Nicht jeder x-beliebige Besucher sollte offensichtlich von seiner Existenz erfahren.
Der Buchrücken verkündete in altdeutscher Schrift, dass es sich bei dem Werk um die Grundlage der Ideologie des Dritten Reiches handelte: „Mein Kampf“ von Adolf Hitler. Der Fund erstaunte ihn, da seine Großeltern ihm gegenüber nie auch nur ansatzweise Sympathien für dieses noch am eigenen Leib erfahrene Kapitel der deutschen Geschichte geäußert hatten. Torben ergriff das Buch, das in einem erstaunlich guten Zustand und ohne jede Gebrauchsspuren war, ließ sich in einen großen alten Ohrensessel sinken und schlug es auf.
Nichts ahnend blickte er plötzlich in die Augen des selbst ernannten Führers aller Deutschen, dessen schwarz-weiße Porträtaufnahme die Mitte der ersten linken Seite einnahm. Die rechte Seite verkündete, dass es sich um eine ungekürzte Ausgabe handelte, die beide Bände, „Eine Abrechnung“ und „Die nationalsozialistische Bewegung“, vereinte. Aber das nahm Torben schon nur noch im Unterbewusstsein war, denn eine handschriftliche Widmung unter der Fotografie schlug ihn völlig in ihren Bann.
Der Eintrag – in blauer Tinte und leicht krakeliger Handschrift, die jeden Grafologen sofort zu diversen Deutungen verleitet hätte – lautete: „Die Zukunft des Großdeutschen Reiches liegt in Ihren Händen! Adolf Hitler, Berlin d. 30.04.1945.“
Etwas weiter darunter stand, augenscheinlich mit noch unruhigerer Hand geschrieben, aber erkennbar vom gleichen Verfasser: „Ich stehe so tief in Ihrer Schuld, wie es ein Mann nur sein kann!“
Selbst Torben, dessen Wissen über das Dritte Reich nicht über seine schon erheblich zurückliegende Schulbildung hinausging, wusste, dass der 30. April 1945 als offizieller Todestag Adolf Hitlers genannt wurde. Sollte die Widmung tatsächlich an diesem Tag gefertigt worden sein, hätte der Führer sie also unmittelbar vor seinem Tod geschrieben. War die Widmung echt? Könnte es sein, dass seine Großmutter oder wohl eher sein Großvater als Wehrmachtssoldat das Buch tatsächlich vom Führer des Tausendjährigen Reiches erhalten hatte? Aber wofür? Oder gehörte es jemand anderem und seine Großeltern waren nur zufällig in den Besitz des Buches gelangt? Und was bedeutete die geheimnisvolle Widmung? Fragen über Fragen, die sich zweifelsohne nicht nur ein Journalist bei einem solchen Fund stellen musste.
Er blätterte das Buch auf andere Eintragungen durch, aber der ursprüngliche Eigentümer, sollte es denn einen gegeben haben, hatte weder seinen Namen vermerkt, noch deuteten Randkommentare oder Unterstreichungen darauf hin, dass es überhaupt jemand gelesen hatte. Der Ursprung und die Bedeutung der Widmung ließen sich nicht so leicht entschlüsseln. Sie war und blieb mysteriös.
Torben – völlig in seinen Gedanken versunken – bemerkte nicht, dass zwischenzeitlich seine Mutter das Zimmer betreten hatte, und erschrak ein wenig, als er plötzlich ihre Stimme sehr nah neben sich vernahm. „Was siehst du dir da an? Wolltest du dir nicht ein paar Fotos heraussuchen?“
„O Gott, musstest du mich so erschrecken?“, entgegnete Torben. „Und ja, klar wollte ich das! – Aber du müsstest mich eigentlich kennen, die Bücher haben mich irgendwie abgelenkt.“
Er schlug das Buch zu und reichte es seiner Mutter mit den Worten: „Sag mal, hast du das schon einmal gesehen?“
Die Reaktion seiner Mutter ähnelte seiner eigenen wenige Minuten zuvor. „Ach du meine Güte ‚Mein Kampf‘, nein, das kenne ich nicht. Mit so etwas hatten deine Großeltern doch nichts am Hut. Sag bloß, es stand hier im Regal?“
„Ja, es lag hinter der obersten Reihe Bücher. Schau dir bitte die Widmung an!“, forderte Torben sie auf.
Seine Mutter las die Widmung offensichtlich zwei Mal und blickte danach Torben skeptisch an. „Dein Großvater hat mir nie gesagt, dass er Hitler getroffen hat, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er im Krieg irgendetwas Besonderes getan haben kann, was eine solche Begegnung oder gar ein persönliches Geschenk gerechtfertigt hätte. Also, die Antwort auf deine Frage, die du mir sicherlich gleich stellen wirst, lautet: Nein, ich habe keine Ahnung, was die Widmung bedeutet.“
„Du scheinst mich recht gut zu kennen“, entgegnete er schmunzelnd.
„Du bist mein Sohn! Ich habe dich neun Monate mit mir herumgetragen und danach aufwachsen sehen. Auch wenn du mir jetzt nicht mehr alles erzählst, wenn dich einer kennen sollte, bin ich das!“ Sie lachte und fuhr ihm mit einer Hand durch die Haare, als ob er noch immer ein kleiner Junge wäre.
Torben lies es geschehen und bohrte weiter: „Okay, du hast gewonnen! Aber fällt dir keine Erklärung dafür ein? Ich weiß, dass Großmutter während der letzten Kriegsjahre auf dem Land gewohnt hat. Sie kann das Buch meiner Meinung nach nicht geschenkt bekommen haben. Großvater wiederum hat mit mir über den Krieg oder was dort passiert ist, nie wirklich gesprochen. Seine Erlebnisse haben mich natürlich trotzdem interessiert und ich habe ihn ziemlich oft danach gefragt, aber er wollte partout nicht antworten.