Florian Steger

Vertuschter Skandal


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auch heute noch schwangeren Frauen verabreicht, die eine andere Rhesusgruppe als ihr Kind aufweisen. Neben den Blutgruppen A, B und 0 gibt es weitere Blutgruppenmerkmale wie das Rhesussystem. 1940 hatten Karl Landsteiner (1868–1943) und Alexander Solomon Wiener (1907–1976) das Erythrozyten-Antigen-System entdeckt.4 Rhesus-positive Individuen besitzen dieses System und damit spezielle Proteine auf der Zellmembran der Erythrozyten, den roten Blutkörperchen. Rhesus-negative besitzen das Erythrozyten-Antigen-System nicht. Der Name Rhesusfaktor geht auf die Verwendung von Erythrozyten aus dem Blut von Rhesusaffen für die Gewinnung der ersten Testseren zurück. Bei Rhesus-negativen Müttern, die ein Rhesus-positives Kind bekommen, tritt eine Rhesus-Inkompatibilität auf. Dabei bildet der Rhesus-negative Organismus Antikörper gegen die Rhesus-positiven Erythrozyten. Diese Antigen-Antikörper-Reaktion kann zu einer lebensbedrohlichen Situation führen. Daher erhalten diese Frauen während und unmittelbar nach der Schwangerschaft sowie nach einem Schwangerschaftsabbruch oder einer Fehlgeburt eine Prophylaxe mit Anti-D-Immunglobulinen. So werden die fremden Erythrozyten zerstört. Die Prophylaxe wurde in der Bundesrepublik Deutschland in den späten 1960er Jahren eingeführt.5 In der DDR war sie 1970/71 von einer Forschungsgruppe unter der Leitung des Obermedizinalrats (OMR) Dr. Wolfgang Schubert (* 1924) entwickelt worden. Für die Entwicklung des Präparats und die Einführung in die Praxis wurde Schubert 1976 mit dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet. Er war Ärztlicher Direktor des Bezirksinstituts für das Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale). Unter seiner Leitung wurde der Impfstoff für die gesamte DDR hergestellt. Für die Produktion des Impfstoffs erhielt das Bezirksinstitut für das Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) humanes Plasma geeigneter Spender von den anderen Bezirksinstituten der DDR.6

      Im Frühjahr 1978 hatte Schubert die Information des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen Neubrandenburg erhalten, dass im Bezirk Neubrandenburg mehrere Plasmaspender erkrankt waren. Das Plasma der erkrankten Spender war bereits an das Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) geliefert und dort zu zwei Chargen mit je etwa 1.000 Ampullen Anti-D-Immunglobulin verarbeitet worden.7 Vor diesem Hintergrund stand Schubert vor der Alternative, die kontaminierten Chargen Anti-D-Immunglobulin zu vernichten und den Produktionsverlust durch Importe aus dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW) zu ersetzen.8 Oder er konnte die fraglichen Chargen zurück in den Produktionsprozess geben. Der Direktor des Staatlichen Kontrollinstituts für Seren und Impfstoffe, Professor Dr. Friedrich Oberdoerster (1915–1984),9 hatte einen Import ausgeschlossen und Schubert für die Lieferung des Wirkstoffs verantwortlich gemacht. Daraufhin fasste Schubert einen folgenreichen Entschluss: Die beiden bereits fertiggestellten Chargen wurden zu einer neuen Charge umgearbeitet.10 Anschließend wurden die Chargen beim Staatlichen Kontrollinstitut für Seren und Impfstoffe zur Prüfung eingereicht, ohne darauf hinzuweisen, dass die verdächtigen Plasmen darin verarbeitet worden waren. Das Staatliche Kontrollinstitut gab die Chargen frei und das Anti-D-Immunglobulin wurde in den Bezirken der DDR verteilt.11

      Ende Dezember 1978 häuften sich in der DDR Meldungen über erkrankte Frauen, die eine Anti-D-Immunprophylaxe erhalten hatten. Die Betroffenen klagten unter anderem über Oberbauchbeschwerden, Appetitlosigkeit sowie verfärbten Urin und zeigten Symptome einer Hepatitis. Der Gesundheitsminister der DDR, Obermedizinalrat (OMR) Professor Dr. Ludwig Mecklinger (1919–1994),12 hielt die Anti-D-Prophylaxe für die Ursache der Erkrankungen und ließ die verdächtigen Chargen Mitte Januar 1979 sperren.13 Zudem ordnete er an, dass alle Frauen, die seit dem 1. September 1978 eine Anti-D-Prophylaxe erhalten hatten, erfasst und medizinisch überwacht werden sollten.14 Sofern die Frauen erhöhte Blutwerte oder Symptome einer Hepatitis aufwiesen, wurden sie ins Krankenhaus zwangseingewiesen und von ihren Säuglingen, Kindern und Partnern getrennt. Im März 1979 meldeten die Krankenhäuser, dass auch Frauen erkrankt waren, die den Wirkstoff aus nachfolgenden Chargen des Anti-D-Immunglobulins erhalten hatten. Bei erneuter Kontrolle des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) stellte sich heraus, dass durch Wiederverwendung einer Waschflüssigkeit diese Chargen kontaminiert worden waren. Auch diese Chargen wurden gesperrt.15 Bis Anfang September 1979 erkrankten mehrere tausend Personen, darunter auch infizierte Kontaktpersonen.16 Der Gesundheitsminister reagierte mit mehreren Anweisungen an die Bezirksärzte und erstattete Anzeige gegen Schubert und den Leiter der Technischen Kontrollorganisation des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale).17 Daraufhin leitete die Generalstaatsanwaltschaft der DDR ein Ermittlungsverfahren gegen die beiden ein.

      Das Hepatitis-C-Virus wurde erst Ende der 1980er Jahre entdeckt und erhielt seinen Namen. Zuvor war lediglich bekannt, dass es neben der Hepatitis A und B weitere Typen gab, die allgemein unter dem Begriff Non-A-Non-B-Hepatitis zusammengefasst wurden.18 Bei vielen Frauen, die in der DDR mit der kontaminierten Prophylaxe infiziert worden waren, wurde die Erkrankung chronisch und verlief mit jahrelangen Beschwerden. Diese betrafen nicht nur die Leber, sondern äußerten sich als sogenannte extrahepatische Manifestationen in Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Gelenkschmerzen, Gefäßerkrankungen sowie psychischen Beschwerden.19 Eine öffentliche Debatte zu den Ereignissen von 1978/1979 wurde in der DDR nicht geführt. Der Prozess gegen die Beschuldigten verlief unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Infektionen wurden als Impfschaden bewertet und nach der Zweiten Durchführungsbestimmung zum „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen“ (GÜK) vom 27. Februar 1975 behandelt.20 Einige Frauen erhielten Entschädigungsleistungen. Auch Lohnausgleichszahlungen wurden in den folgenden Jahren vorgenommen. Mitte der 1990er Jahre waren Verbände der Betroffenen entstanden, der Bundesverband Anti-D-geschädigter Frauen e. V. und der Deutsche Verein HCV-Geschädigter e. V. Diese forderten von der Bundesregierung eine Entschädigung und eine öffentliche Anerkennung. Im Jahr 2000 wurde von der rot-grünen Bundesregierung das Anti-D-Hilfegesetz erlassen, welches „die unbefriedigende Situation“ der Betroffenen verbessern sollte.21 Das Anti-D-Hilfegesetz gewährte einem Teil der Frauen eine Einmalzahlung sowie monatliche Renten. Die Voraussetzung für den Bezug einer Rente und den Erhalt einer Einmalzahlung wurde an die Minderung der Erwerbsfähigkeit geknüpft und nach dem jeweiligen Grad gewährt.22

      Durch zahlreiche Initiativen der Betroffenen-Verbände rückten die Ereignisse der Jahre 1978/1979 in die Öffentlichkeit. Die persönlichen Schilderungen von Britt Brandenburger trugen dazu ebenso bei23 wie ein Film der beiden Journalistinnen Anne Mesecke und Ariane Riecker aus dem Jahr 2012. Unter Rückgriff auf Archivalien und Zeitzeugeninterviews stellten sie die Geschichte aus journalistischer Sicht dar.24 Der Film entstand für den Rundfunk Berlin-Brandenburg in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Er hat eine breite Resonanz gefunden, so auch bei sächsischen Ärzten, die ihn für „absolut entbehrlich“ halten, da er „fachlich historisch unzureichend und theatralisch politisch“ sei.25 Eine erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den rechtlichen Aspekten nach der Wiedervereinigung wurde von Elke Beatrice Käser in ihrer juristischen Dissertation vorgelegt.26 Dennoch fehlt bisher eine wissenschaftliche Arbeit, die sich umfassend mit den Ereignissen auseinandersetzt und diese kritisch in den Blick nimmt.

      Die Kontamination von Anti-D-Immunglobulin-Chargen mit Hepatitis-C-Viren ist nicht auf die DDR beschränkt. Zwischen 1977 und 1978 wurden in Irland unwissentlich Chargen mit Hepatitis-C-Viren verwendet. Eine 1996 eingesetzte Untersuchungskommission kam zu dem Ergebnis, dass das Blutplasma einer einzigen erkrankten Person zu der Kontamination geführt hatte.27 Vor diesem Hintergrund ist die wissenschaftliche Bearbeitung der Geschichte der Hepatitis-C-Infektionen, des Strafprozesses und des Umgangs mit den betroffenen Frauen in der DDR notwendig, die den politischen Kontext beachtet. Das Gesundheitswesen der DDR war staatlich organisiert und unterstand dem direkten Einfluss der SED. Mit Mecklinger war erstmals ein SED-Mitglied Gesundheitsminister.28 Die Ereignisse aus den Jahren 1978/1979 zeigen, dass neben dem Gesundheitsminister weitere Personen aus dem Bereich des Gesundheitswesens als politische Akteure handelten. In jüngst veröffentlichten Arbeiten zu den geschlossenen Venerologischen Stationen in der DDR wurde herausgearbeitet, wie stark die Medizin in der DDR politisiert war. Danach beschränkten sich die Akteure bei ihrem Handeln nicht nur auf eine bloße Übernahme politischer Vorgaben. Sie prägten das politische System selbst durch ihre Normen, die sie in der alltäglichen Praxis anwandten.29 Der Alltag in den geschlossenen Venerologischen Stationen war durch Zwangseinweisungen, Isolation und Terror geprägt. Die Patientinnen in den geschlossenen Venerologischen Stationen wurden ohne Aufklärung und gegen ihren Willen über mehrere Wochen zwangsweise