über den Grund, monatelang von ihren Familien getrennt. Sie wurden von einer politisierten Medizin versorgt und teilweise für wissenschaftliche Forschungsprojekte eingesetzt. So ist danach zu fragen, welche persönlichen Folgen die Ereignisse für sie und ihre Angehörigen hatten. Zudem waren die infizierten Frauen direkt von den Maßnahmen des staatlichen Gesundheitswesens betroffen, die näher untersucht werden sollen. Inwiefern wurde durch staatliche Institutionen reagiert und wie wurde dabei mit den Frauen umgegangen? Untrennbar hängt damit die Frage nach einer fürsorglichen Verantwortungspflicht vonseiten des medizinischen Personals, aber auch vonseiten staatlicher Institutionen zusammen. Dabei gilt es nach einer umfassenden Aufklärung der Patientinnen ebenso zu fragen wie nach der anschließenden medizinischen Versorgung. Hier ist auch zu fragen, inwiefern die ärztliche Behandlung von Forschungsinteressen geleitet war und ob diese transparent kommuniziert wurden.
Eine Trennung zwischen ökonomischer Entwicklung und dem Gesundheitswesen in der DDR kann ebenso wenig vorgenommen werden wie die Trennung von politischem Unrecht und den medizinischen Folgen für die Betroffenen.31 Aktuelle Forschungen hierzu belegen, welche Konsequenzen eine politische Verfolgung auf den weiteren Lebensweg der Betroffenen hatte.32 Eine zentrale Rolle kommt dabei dem Ministerium für Staatssicherheit zu, das Einfluss auf den Bereich des Gesundheitswesens hatte.
So war gerade unter den Ärztinnen und Ärzten der DDR eine informelle Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit besonders ausgeprägt – insbesondere im Bereich der Psychiatrie und der Sportmedizin.33 Dabei kam vor allem den Bezirksärzten eine wesentliche Rolle zu.34 Es hat sich gezeigt, dass Ärztinnen und Ärzte in leitenden Funktionen von der Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit profitierten, indem sie sich Vorteile für ihre Forschung und für die medizinischen und biotechnischen Entwicklungen ihrer Kliniken beschafften.35 Denn das Gesundheitswesen war stark unterfinanziert und blieb trotz der Aufwertung der Sozialpolitik Anfang der 1970er Jahre bei der Mittelzuteilung benachteiligt.36 Die Ereignisse der Jahre 1978/1979 sind von diesem Mangel geprägt, da das Spenderplasma rar war und das Staatliche Kontrollinstitut für Seren und Impfstoffe einen Import aus dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW) abgelehnt hatte. Das Ministerium für Staatssicherheit war auch in die Ermittlungen involviert, wie es zu der Kontamination der Chargen gekommen war. Es nahm Einfluss auf die Ermittlungen und begleitete das Strafverfahren.
Die vorliegende Arbeit ist wie folgt gegliedert: Im ersten Kapitel werden die Hintergründe des Geschehens dargestellt. So stehen das Auftreten von Hepatitiserkrankungen nach der Anti-D-Prophylaxe und die Suche nach den Verantwortlichen im Vordergrund. Offiziell ermittelte die Staatsanwaltschaft Halle (Saale) in enger Zusammenarbeit mit der Generalstaatsanwaltschaft Berlin. Das Ermittlungsverfahren endete schließlich mit einer nicht-öffentlichen Anklage. Schubert und der Leiter der Technischen Kontrollorganisation des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) wurden zu Gefängnisstrafen, die zur Bewährung ausgesetzt wurden, verurteilt. Die ausgewerteten Akten des Ermittlungsverfahrens geben Aufschluss über die Hintergründe der Erkrankungen, aber auch über den Umgang mit den beiden Beschuldigten und über die Einschätzung der Angelegenheit durch die Verantwortlichen in der DDR. Hier stehen folgende Fragen im Vordergrund: Wusste das Ministerium für Gesundheitswesen von der Kontamination der Chargen? Welche Rolle spielten die zuständigen Prüfinstanzen wie das Staatliche Kontrollinstitut für Seren und Impfstoffe? Wie wurde die Verantwortung der beiden Beschuldigten gewertet und zu welcher Einschätzung kommen wir heute? Welche Rolle hatte das Ministerium für Staatssicherheit bei den Ermittlungen?
Im zweiten Kapitel wird auf die Situation der betroffenen Frauen eingegangen. Wie wurden die Frauen 1979 und auch danach über die Ereignisse und die Folgen für ihre Gesundheit aufgeklärt? Wie sahen der Krankenhausaufenthalt und die ärztliche Behandlung der Frauen aus? Hatten sie die Möglichkeit einer freien Arztwahl und welche Rechte hatten sie in Bezug auf die ärztliche Behandlung? Zum anderen stellt sich die Frage nach einer materiellen Entschädigung der Frauen durch die DDR. Die Erkrankungen wurden in der DDR als Impfschäden erfasst, und es wurden nach dem „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen“ (GÜK) Ausgleichszahlungen gewährt. Hier war auch die Staatliche Versicherung der DDR involviert, welche die Zahlungen vornahm. Neben den unmittelbaren Maßnahmen des Ministeriums für Gesundheitswesen und der sich daraus ergebenden Situation für die Betroffenen wird auch nach langfristigen Erkrankungen gefragt. Wie wurden die Frauen bei längerer Erkrankung ärztlich behandelt und finanziell unterstützt? Dabei stellt sich insbesondere die Frage nach der ärztlichen Versorgung und dem Forschungsinteresse der beteiligten Ärztinnen und Ärzte. Inwiefern war die ärztliche Behandlung von Forschungsinteressen geleitet und welche Rolle spielten in diesem Zusammenhang staatliche Institutionen? Inwiefern waren die Untersuchungen notwendig für eine Heilung oder Verbesserung der gesundheitlichen Situation der Frauen? Wurden Untersuchungen an den Frauen vorgenommen, die ausschließlich der Forschung dienten?
Im dritten Kapitel wird auf die Situation der Frauen nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung eingegangen. Die Frauen waren mit einem neuen politischen System konfrontiert, das sie nicht kannten. Sie konnten sich zusammenschließen, ihre Interessen bündeln und sich aktiv für ihre Rechte einsetzen. Vor allem aber konnten sie die Öffentlichkeit über das ihnen geschehene Unrecht aufklären. Untersucht wird, wie die Frauen mit einer chronischen Erkrankung für ihre Anerkennung und Entschädigung kämpften, und wie diese durch politische Initiativen unterstützt wurden. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang ihre Versorgung in der DDR? In diesem Teil wird dargestellt, welche Schwierigkeiten für die betroffenen Frauen nach der deutschen Wiedervereinigung auftraten und welche Streitpunkte zwischen den Frauen und der Bundesregierung bestanden. In einem Schlusskapitel werden die Ergebnisse zusammengeführt und diskutiert.
Für die Untersuchung der Fragen standen zahlreiche Quellen zur Verfügung. Zum einen konnten wir auf die Akten der Staatsanwaltschaft Halle (Saale) zurückgreifen, die einen Einblick in das Ermittlungsverfahren und die Ursachen der kontaminierten Anti-D-Prophylaxe geben. Ergänzt wurden diese durch Akten der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU), die Aufschluss über die Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit in dieser Hinsicht ermöglichen. Die Situation der Betroffenen in der DDR konnten wir anhand von Dokumenten rekonstruieren, die uns von den Frauen zur Verfügung gestellt wurden. Zudem haben wir den Bestand des Ministeriums für Gesundheitswesen (DQ 1) im Bundesarchiv Berlin ausgewertet, um Fragen zur ärztlichen Behandlung, den Ausgleichszahlungen und der Forschung an den Patientinnen zu beantworten. Der Bestand DQ 1 beinhaltete zudem zahlreiche Eingaben von Frauen an die staatlichen Stellen der DDR in den Jahren 1979 bis 1989/90. Die Ereignisse nach der Wiedervereinigung lassen sich anhand der uns zur Verfügung gestellten Schriftstücke des Deutschen Vereins HCV-Geschädigter e. V. rekonstruieren. Den gesamten Quellenbestand haben wir quellenkritisch ausgewertet. Darüber hinaus haben wir die Methode der Oral History genutzt und mit betroffenen Frauen narrative Interviews durchgeführt. Diese haben uns einen Einblick in die individuellen Erfahrungen und die persönliche Situation gegeben.37 Zudem wurden von betroffenen Frauen Fragebögen ausgefüllt, die von uns ebenfalls kritisch ausgewertet wurden. Wir haben versucht, alle Akteure anzusprechen und mit ihnen ein Gespräch zu führen. Leider standen nicht alle Verantwortlichen gleichermaßen als Gesprächspartner zur Verfügung.
Wir haben uns entschlossen, einige Namen von Ärzten nicht zu anonymisieren, da sie in Medienberichten und vorangegangenen Publikationen mehrfach öffentlich gemacht worden sind und in Datenbanken eingesehen werden können. Allen Zeitzeugen, die mit uns ein Interview führten, haben wir Anonymität zugesichert. An diese Vereinbarung werden wir uns halten. Zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte werden alle Namen real existierender oder bereits gestorbener Personen aus den Archivunterlagen des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), der Staatsanwaltschaft Halle (Saale) (StA Halle (Saale)) sowie des Bundesarchivs (BArch) vollständig anonymisiert. Damit sind Rückschlüsse auf die Identität dieser Personen nicht möglich.
Für die Begleitung des Projekts und die finanzielle Unterstützung möchten wir uns bei der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Frau Birgit Neumann-Becker, bedanken. Dank gilt darüber hinaus dem Leitenden Oberstaatsanwalt Halle (Saale), Herrn Jörg Wilkmann, der uns durch die Einsicht in die Akten eine detaillierte Betrachtung des Ermittlungsverfahrens ermöglicht