‚Hitthim‘.“
„Wer war dieser Gilde?“
„Mensch, Rieder, wie lange bist du jetzt auf der Insel?“, stöhnte Malte auf. „Schon mal was von ‚Gildemeisters Backmischungen‘ gehört oder ‚Gildemeisters Suppen‘?“
„Ja, schon.“ Klar kannte er die bunten Packungen. Manchmal hatte er sich eine von den Tütensuppen der Firma Gildemeister gekocht. Typisches Single-Essen. „Und der Gilde wohnte hier auf der Insel?“
„Ja, klar. Er hatte ein Haus in Kloster“, antwortete Malte, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass sich die Reichen und Schönen auf Hiddensee niederließen.
„Ich soll zu Gildes Villa kommen. Zum Schwedenhagen. Wo ist denn das in Kloster?“
„Neben dem alten Institut der Universität Greifswald. Ein bisschen versteckt im Wald. Aber mit einem Superblick“, beschrieb Malte Rieder den Weg. Dann tippte er mit zwei Fingern an seine Schiffermütze und machte sich eilig auf den Weg zu seinem Haus in der Sprenge. Doch er blieb noch einmal stehen: „Und die Wiese?“
Rieder zuckte mit den Schultern. „Ich denke nochmal drüber nach.“
II
Rieder radelte über den Deich nach Kloster. Der frische Wind rauschte in seinen Ohren. Er kam von Südwest und brachte warme Frühlingsluft auf die Insel. Erst seit wenigen Tagen konnte man die Insel wieder ohne Probleme mit dem Rad befahren. Zuvor hatte es auf den Wegen immer noch hier und da Eisflächen oder scharfkantig gefrorene Schneereste gegeben. Auf den Sumpfwiesen weidete eine Schafherde. Sie war erst vor kurzem vom Winterquartier auf Rügen zurück nach Hiddensee gebracht worden. Um die Tümpel versammelten sich die ersten Zugvögel. Sie machten hier Station auf ihrer Rückreise nach Norden. Im Seglerhafen von Kloster waren erst wenige Liegeplätze belegt. Nur ein paar Motorboote der Einheimischen dümpelten vor sich hin. Wenn das Wetter so bliebe, würden wahrscheinlich zu Ostern die ersten Segler einen Törn nach Hiddensee wagen.
Rieder schloss sein Rad an der Außenstelle der Reederei Hiddensee im Hafen an. Malte hatte ihm empfohlen, von dort den schmalen Pfad hinauf zum Schwedenhagen zu nehmen. Rieder musste ein wenig suchen, ehe er im Gestrüpp den Trampelpfad entdeckte. Relativ steil verlief der schmale Weg. Oben angekommen, stand Rieder vor einem Feld mit frischer grüner Saat. Das war ungewöhnlich für Hiddensee. Außer dem Weiden von Kühen und Schafen wurde auf der Insel keine Landwirtschaft mehr betrieben. Am Feldrain standen ein paar alte LKW-Hänger, schon völlig von Buschwerk überwachsen. Rieder wandte sich nach rechts und lief zu dem kleinen Wäldchen neben dem Häuschen der Wasserversorgung. Dort stand der blaue Polizeiwagen von Damp. Im Dickicht der Bäume entdeckte er ein Haus. Das musste Gildes Villa sein. Ein Seil war zwischen zwei kniehohen Holzpfählen gespannt, kaum ein Hindernis für ungebetene Gäste. Rieder stieg darüber. Obwohl schon ein Jahr auf der Insel, war ihm dieses Haus noch nie aufgefallen. Auch das verlassene Institutsgebäude der Universität Greifswald nebenan hatte er noch nicht besucht.
Damp wartete schon auf ihn. „Gut, dass Sie da sind. Ich weiß mir echt nicht zu helfen.“
Rieder war verblüfft von Damps Aufzug. Seine Uniform war nagelneu. Bisher hatte sich sein Kollege nicht vom althergebrachten Polizeigrün trennen wollen. Nun aber trug er das neue Dunkelblau. Die Hose hatte ein scharfe Bügelfalte. Die Uniformjacke saß wie angegossen. Damp hatte in der letzten Zeit ziemlich an Gewicht verloren, brachte aber sicher immer noch einiges an Übergewicht auf die Waage. Seinen alten Sachen hatte man den Verlust angesehen. In diesem neuen Aufzug wirkte der Revierleiter mit seinen einsneunzig Körpergröße wie ein stattlicher Mann. Wie eine Autorität. Rieder kam sich dagegen ein wenig schäbig vor. Abgewetzte Jeans, Wanderschuhe, Fieldjacket und dazu ein ausgeblichenes rotes Basecap mit dem Logo der Insel. „Sie haben sich ganz schön in Schale geschmissen“, bemerkte Rieder.
Damp stutzte kurz, schaute unsicher an sich runter. „Ich brauchte eben neue Klamotten, aber das tut jetzt nichts zur Sache.“ Er war total nervös, drehte seine Mütze mit seinen Händen hin und her. „Da oben sitzen die Witwe und der Sohn des Toten. Die sind auf der Beerdigung völlig ausgetickt.“ Damp deutete mit dem Kopf an, dass sie etwas vom Haus weggehen sollten, um nicht gehört zu werden. „Erst ging alles gut. In der Kirche, der Pfarrer, noch ein paar Worte von irgend so einem Heini aus Stralsund über Gilde und seine Firma. Dann liefen alle zum Grab. Jedenfalls, als der Sohn dann Erde ins Grab werfen wollte, rastete die Frau völlig aus.“
Damp blickte sich kurz ängstlich um, bevor er weitersprach. „Was er sich trauen würde. Er hätte seinen Vater ins Grab gebracht und sei für seinen Tod verantwortlich. Der Sohn giftete zurück, sie hätte ihren Mann verrecken lassen, um endlich an sein Geld zu kommen.“ Damp zog Rieder noch ein wenig weiter vom Haus weg. „Wenn ich nicht dazwischengegangen wäre, hätten die sich in die Haare bekommen. Ich habe sie dann hierhergebracht.“ Damp atmete schwer. So sehr hatte ihn allein sein Bericht wieder erregt.
„Und die anderen Trauergäste?“, fragte Rieder nach.
„Um die kümmert sich Förster. Die sind wahrscheinlich noch beim Leichenschmaus im Hotel ‚Hitthim‘ in Kloster.“ Thomas Förster war der Bürgermeister von Hiddensee. Damp machte eine kurze Pause. „Die waren alle total geschockt.“
„Und nun?“
„Was, und nun?“, erwiderte Damp verblüfft.
„Was soll ich jetzt hier tun?“, fragte Rieder.
Nachdem sich Damp noch einmal umgeschaut hatte, meinte er: „Vielleicht reden Sie mal mit den beiden. Sie kennen sich doch bestimmt besser mit solchen Dingen aus.“
Rieders Begeisterung hielt sich in Grenzen. Wahrscheinlich war es nicht mehr als der übliche Knatsch zwischen den Erben. „Na gut. Gehen wir mal rein.“
Sie betraten die Eingangshalle. Rieder blieb mit offenem Mund stehen. Er konnte nicht fassen, was er erblickte. Alle vier Wände waren eng behängt mit Gemälden, Aquarellen und Zeichnungen. Alle Bilder hatten aber nur ein Thema: Hiddensee. Ein Gemälde zog ihn sofort in den Bann. Zwei junge Mädchen mit leicht geröteten Gesichtern und farbigen Kopftüchern standen am Strand. Sie schauten in die Ferne. Rieder kannte das Bild, aber nur als Postkarte. Er wusste auch, dass es von Elisabeth Büchsel stammte, der berühmtesten Inselmalerin. Um das Bild herum waren noch weitere Kinderporträts gruppiert. Ein kleines Mädchen lehnte an einer Hauswand und schien ganz verschüchtert zur Malerin zu schauen. Auf einem anderen Bild sah man einen kleinen Jungen mit Schiebermütze. Er hatte sich auf einer Wiese im Hochland ausgestreckt. Im Hintergrund weideten Schafe. Andere Bilder zeigten Hiddenseer Fischer bei der Arbeit und ihre Frauen wartend am Ufer. An der Wand daneben erkannte Rieder den Inselblick wieder, den kleinen Platz, oberhalb von Kloster auf halbem Wege zum Leuchtturm mit der wunderbaren Aussicht über ganz Hiddensee. Rieder liebte diese Stelle und setzte sich immer ein paar Minuten auf eine der Bänke, wenn er dort vorbeikam. Hier gab es nun Dutzende Gemälde genau mit diesem Motiv, und die Signaturen zeigten, dass sie alle von Elisabeth Büchsel gemalt worden waren. Dagegen mussten die Bilder an der Wand gegenüber von anderen Künstlern sein. Sie waren in ganz unterschiedlichen Malstilen angefertigt. Manches wirkte moderner. Anderes verträumter. Aber auch hier gab es nur ein einziges Thema: Die Insel Hiddensee und ihre Menschen.
Rieder drehte sich im Kreis. „Was ist das hier? Das Inselmuseum?“, fragte er Damp.
Sein Kollege schien nicht so beeindruckt. „Sind halt Bilder.“
„Aber das ist ja einmalig“, staunte Rieder weiter. Er trat an das eine oder andere Bild näher heran.
„Können wir jetzt endlich?“, meldete sich ungeduldig Damp. Rieder folgte ihm auf der Treppe nach oben. Dort führte eine Doppeltür in einen Salon. Auch hier waren die Wände mit Bildern dekoriert. Es handelte sich um Porträts wahrscheinlich wichtiger Persönlichkeiten der Vergangenheit. Sie schauten bedeutungsschwanger in den Raum. Dem Eingang gegenüber war eine große Glastür, und Rieder war fasziniert von dem weiten Blick über Insel, Bodden und Ostsee.
Als er sich davon losriss, nahm er die beiden Personen