schalten und walten können. Wir brauchen diese Illusion so dringend wie eine Nachttischlampe. Die Wahrheit ist beängstigend: Wir sind so zerbrechlich wie junge Bäume in der Gewalt eines Tornados, und unsere geliebten Häuser trennt nur ein Hochwasser davon, Strandgut zu werden. Wir versenken unsere Wurzeln in zitternder Erde. Wir leben, wo Berge emporgehoben wurden und zerfielen, wo prähistorische Meere zu Nebel verbrannten. Wir und die Städte, die wir gebaut haben, sind nicht von Beständigkeit; selbst die Erde ist ein vorbeifahrender Zug. Wenn du in schlammigem Wasser stehst, das auf deine Taille zusteigt, und Leute gegen die Dunkelheit anschreien hörst und siehst, wie sie darum kämpfen eine Strömung einzudämmen, die sich nicht zurückweisen lässt, erkennst du die Wahrheit: Gewinnen werden wir nicht, aber aufgeben können wir auch nicht. Im prasselnden Regen an dem versinkenden Flussufer glaubte niemand, dass der Tecumseh sich umlenken ließe. Das hatte er noch nie. Und trotzdem ging die Arbeit weiter. Der Pick-up kam mit den Werkzeugen vom Baumarkt und Mr. Vandercamp Junior hielt ein Klemmbrett in der Hand, auf dessen Papier jeder unterschrieb, der sich eine Schaufel geben ließ. Aus Erde und Sandsäcken wurden Wälle errichtet und der Fluss strömte durch die Barrikaden wie braune Suppe durch einen Mund voller schlechter Zähne. Das Wasser stieg weiter. Meine Gürtelschnalle ging unter.
Blitze zickzackten vom Himmel, gefolgt von einem so lauten Donnerschlag, dass man die Frauen nicht schreien hören konnte. »Das ist irgendwo in der Nähe eingeschlagen!«, sagte Reverend Lovoy, der eine Schaufel hielt und aussah wie aus Schlamm gemacht. »Das Licht geht aus!«, rief eine schwarze Frau Sekunden später. Und tatsächlich, in ganz Bruton und Zephyr brach das Stromnetz zusammen. Ich sah, wie die Lampen flackerten und hinter den Fenstern erloschen. Dann lag meine Heimatstadt in Dunkelheit getaucht und man konnte den Himmel nicht mehr vom Wasser unterscheiden. In der Ferne sah ich im Fenster eines Hauses, das so weit von Bruton entfernt war, wie man nur sein konnte, ohne Zephyrs Stadtgrenzen zu verlassen, etwas wie eine Kerze glimmen. Noch während ich hinsah, bewegte sich das Licht von Fenster zu Fenster. Mir wurde bewusst, dass ich zu Mr. Moorwood Thaxters Villa auf dem höchsten Punkt der Temple Street hinstarrte.
Ich spürte es, bevor ich es erkennen konnte.
Links von mir stand eine Gestalt. Sie beobachtete mich. Wer es auch sein mochte, er hatte einen langen Regenmantel an und die Hände in den Taschen versenkt. Der Wind peitschte aus dem Gewitter heran und bewegte die nassen Falten des Mantels und ich erstickte fast an meinem in der Kehle schlagenden Herz. Denn ich erinnerte mich an die Gestalt am Waldrand von Saxon’s Lake.
Wer es auch war, er ging jetzt langsam an meiner Mutter und mir vorbei auf die arbeitenden Männer zu. Es war eine hochgewachsene Gestalt – ein Mann, nahm ich an –, und er bewegte sich mit zielstrebiger Stärke. Sekundenlang sah es aus, als würden die Lichtbündel von zwei Taschenlampen in der Luft miteinander fechten. Der Mann im Regenmantel trat in die Mitte ihres Lichtgefechts. Die miteinander kämpfenden Lichtstrahlen erhellten das Gesicht des Mannes nicht, machten aber etwas anderes sichtbar.
Der Mann trug einen durchweichten, tropfenden Filzhut. Am Hutband war ein rundes Silberstück in der Größe einer 50-Cent-Münze befestigt, aus dem eine kleine dekorative Feder hervorstach.
Eine Feder, die von Nässe ganz dunkel war, aber eindeutig grünlich schimmerte.
Wie die grüne Feder, die ich an jenem Morgen unter der Sohle meines Turnschuhs gefunden hatte.
Meine Gedanken jagten sich. Konnten es ursprünglich zwei grüne Federn in dem Hutband gewesen sein, bevor der Wind eine davon ausgerupft hatte?
Eins der Lichtbündel wich geschlagen zurück. Das andere tanzte davon. Der Mann ging im Dunkeln weiter.
»Mom«, sagte ich. »Mom?«
Die Gestalt watete von uns fort, war keine zweieinhalb Meter entfernt an mir vorbeigegangen. Der Mann streckte eine weiße Hand aus, um seinen Hut auf dem Kopf festzuhalten.
»Mom«, sagte ich wieder, und sie hörte mich endlich über den Lärm hinweg und fragte: »Was denn?«
»Ich glaube … ich glaube …« Aber ich wusste nicht, was ich glaubte. Ich konnte nicht beurteilen, ob dies die Person war, die ich auf der anderen Straßenseite gesehen hatte oder nicht.
Schritt um Schritt entfernte sich die Gestalt durch die braunen Fluten.
Ich entzog meiner Mutter meine Hand und folgte dem Schatten im Mantel.
»Cory!«, rief sie. »Cory, gib mir deine Hand!«
Ich hörte sie, gehorchte aber nicht. Das Wasser strudelte um mich herum. Ich stapfte weiter.
»Cory!«, schrie Mom.
Ich musste sein Gesicht sehen.
»Mister!«, rief ich. Es war zu laut – der Regen und der Fluss und die ackernden Menschen; er konnte mich nicht hören. Und wenn doch, dann drehte er sich jedenfalls nicht um. Ich spürte, wie die Strömung des Tecumseh River an meinen Schuhen sog. Ich war bis zur Taille im kalten, trüben Wasser versunken. Der Mann ging aufs Ufer zu, dorthin, wo mein Dad war. Taschenlampenlicht zuckte auf und schwankte und ein schimmernder Widerschein tanzte in die Höhe und fiel auf die rechte Hand des Mannes, die er gerade aus der Tasche zog.
Etwas Metallisches glänzte im Licht auf.
Etwas mit einer scharfen Kante.
Mein Herz stotterte.
Der Mann mit dem grüngefiederten Hut war auf dem Weg zum Ufer und hatte ein Stelldichein mit meinem Vater. Ein Stelldichein, das er vielleicht geplant hatte, seit Dad dem versinkenden Auto hinterhergetaucht war. Würde der Mann mit dem grüngefiederten Hut in all diesem Chaos, Lärm, in dieser wässerigen Dunkelheit eine Gelegenheit finden, meinem Vater das Messer in den Rücken zu stoßen? Ich konnte meinen Dad nicht sehen. Mit absoluter Sicherheit konnte ich niemanden erkennen: Ich sah nur nassglänzende Gestalten, die gegen das Unvermeidliche kämpften.
Er kam gegen die Strömung schneller voran als ich. Sein Abstand zu mir vergrößerte sich. Ich warf mich nach vorn, kämpfte gegen den Fluss an. Plötzlich rutschten mir die Füße weg und das schlammige Wasser schlug über meinem Kopf zusammen. Ich streckte die Hand hoch, um nach irgendeinem Halt zu greifen. Aber es gab nichts Festes. Ich schaffte es nicht, meine Füße auf Grund zu stemmen. Meine innere Stimme schrie, ich würde nie wieder Atem schöpfen. Ich schlug um mich, taumelte, und dann packte mich jemand und zerrte mich hoch. Dreckiges Wasser strömte mir vom Gesicht und aus den Haaren.
»Ich hab dich«, sagte ein Mann. »Alles okay.«
»Cory! Was ist denn bloß los mit dir, Junge?« Die Stimme meiner Mutter, die sich auf neue Gipfel der Angst emporschraubte. »Bist du verrückt?«
»Ich glaube, er ist in ein Loch getreten, Rebecca.« Der Mann ließ mich wieder runter. Ich stand immer noch bis zur Taille im Wasser, aber wenigstens hatte ich Boden unter den Füßen. Ich wischte mir Schlamm aus den Augen und sah zu Dr. Curtis Parrish hoch, der einen grauen Regenmantel und Regenhut aufhatte. Kein Hutband war daran befestigt, und somit auch kein Silberstück und keine grüne Feder. Ich drehte mich um und suchte nach der Gestalt, die ich einzuholen versucht hatte, aber der Mann war mit den anderen Menschen in der Nähe des Flussufers verschmolzen. Er und das Messer, das er aus der Tasche gezogen hatte.
»Wo ist Dad?«, fragte ich noch panischer als meine Mutter. »Ich muss Dad finden!«
»Na, na, beruhig dich mal.« Dr. Parrish packte mich an den Schultern. In einer Hand hielt er eine Taschenlampe. »Tom ist da drüben.« Er richtete den Lampenstrahl auf eine Gruppe schlammverschmierter Männer. Die Richtung, in die er leuchtete, war nicht die, die der Mann mit dem grüngefiederten Hut eingeschlagen hatte. Aber ich konnte meinen Vater dort sehen. Er arbeitete zwischen einem schwarzen Mann und Mr. Yarbrough. »Siehst du ihn?«
»Ja, Sir.« Wieder hielt ich Ausschau nach der mysteriösen Gestalt. Sie war verschwunden.
»Cory, lauf nie wieder so von mir weg!«, schalt meine Mutter mich. »Du hast mich fast zu Tode erschreckt!« Sie nahm wieder meine Hand. Ihr Griff war wie aus Eisen.
Dr. Parrish war ein korpulenter Mann, achtundvierzig oder neunundvierzig Jahre alt, mit