Patricia Vandenberg

Sophienlust Paket 3 – Familienroman


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bin ein krasser Egoist, sagte er sich später im Auto. Ich habe es doch nicht anders gewollt. Hätte ich Gesa verziehen, wären wir jetzt alle drei glücklich. Wie mag es ihr wohl jetzt ergehen?

      Seit die beiden sich getrennt hatten, war jede Verbindung zwischen ihnen abgebrochen. Genau das hatte sich Clemens gewünscht. Trotzdem war er jetzt sehr unglücklich darüber. Dazu kam noch, dass Marianne vorhatte, ihn zu verlassen. Das leere Haus schien nicht nach ihrem Geschmack zu sein, was er ihr eigentlich nicht verdenken konnte. Ihm graute selbst vor der Stille in der Villa, die noch vor Kurzem vom Lachen seines Sohnes und der stets fröhlichen Stimme seiner Frau erfüllt gewesen war.

      Wieder fragte sich Clemens, ob es nicht besser wäre, alles zu vergessen und Gesa heimzuholen. Und wieder war seine Antwort ein unerbittliches Nein.

      *

      Einige Tage später war Denise auf dem Weg von Bachenau nach Sophienlust. Sie hatte Oliver, Horst und Heidi zu ihrer Stieftochter gebracht. Die übrigen Kinder waren nach dem Frühstück zu einem Tagesausflug aufgebrochen, begleitet von dem Zeichen- und Musiklehrer Wolfgang Rennert und seiner jungen Frau Carola. Frau Rennert beaufsichtigte an diesem Tag ihre Enkelkinder, die Zwillinge Andreas und Alexandra. Die Hunde Barri und Anglos hatten sich den Ausflüglern ebenfalls angeschlossen.

      Die Stille, die Denise in Sophienlust empfing, war so ungewohnt für sie, dass sie ein seltsames beklemmendes Gefühl hatte. Als sie die Freitreppe hinaufstieg, hörte sie ein Auto kommen und drehte sich um. Es war die Hausärztin von Sophienlust, Frau Dr. Anja Frey, die auch Patienten im Maibacher Krankenhaus betreute.

      »Wie gut, dass ich Sie antreffe, Frau von Schoenecker!«, rief die Ärztin mit den mittelblonden Haaren und den dunkelbraunen Augen schon von Weitem. »Ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen. Erst einmal guten Tag«, holte sie dann etwas außer Atem die Begrüßung nach.

      Denise reichte der schlanken, ungefähr achtundzwanzigjährigen Frau die Hand. »Wie geht es Ihrer Familie?«

      »Ausgezeichnet. Mein Mann hat ebenso viel zu tun wie ich. Unsere Praxis ist meist überfüllt. Und Filzchen wächst und gedeiht.« Filzchen hieß in Wirklichkeit Felicitas und war das fünfjährige Töchterchen des glücklichen Arztehepaares. »Sie tollt den ganzen Tag draußen im Garten mit ihrem Spaniel Stoffel herum. Die gute Tante Elise ist oft verzweifelt, weil sie ununterbrochen Filzchens Sachen waschen und flicken muss«, ergänzte die Ärztin fröhlich. Dann aber zeigte sie wieder ein ernstes Gesicht. »Ich wollte Sie bitten, mich in das Maibacher Krankenhaus zu begleiten, Frau von Schoenecker. Es handelt sich um einen sechsjährigen Jungen, der seit einigen Tagen dort Patient ist.«

      »Was fehlt dem Kind?«, fragte Denise. Sie war sogleich an dem Schicksal des Jungen interessiert.

      »Vor ein paar Tagen ereignete sich in der Nähe von Maibach ein tragischer Autounfall. Ein Personenwagen wurde von einem entgegenkommenden Lastwagen gestreift und gegen einen dicken Baum geschleudert. Das Ehepaar war auf der Stelle tot. Das Kind kam jedoch mit leichten Verletzungen davon.«

      »Wie schrecklich!« Denise war blass geworden. »Nun entsinne ich mich wieder, dass Justus uns von diesem Unfall erzählt hat. Aber ich habe mich kaum dafür interessiert, weil er nichts von den Insassen erwähnte. Ich glaubte, es sei nur Sachschaden entstanden. Hat der Junge denn keine Verwandten, die sich um ihn kümmern?«

      »Bisher haben wir in dieser Beziehung nichts in Erfahrung bringen können. Das Kind heißt Andreas Hasler und hat einen schweren Schock erlitten, bei dem meine Kunst versagte. Deshalb wäre es gut, den Jungen in Sophienlust unterzubringen. Er ist noch ein Pflegefall. Ein Arm und ein Bein sind eingegipst. Aber Ihre Krankenschwester Regine versteht eine Menge von Krankenpflege und wird die Pflege des Kindes bestimmt gern übernehmen.«

      »Bestimmt wird sie das tun. Gut, dann fahren wir gleich los. Doch vorher möchte ich noch schnell meinen Mann anrufen.«

      Frau Dr. Frey brauchte nicht lange auf Denise zu warten. Wenige Minuten später war sie wieder zurück. Kurz drauf verließen die beiden Damen im Wagen der Ärztin Sophienlust.

      *

      Die Krankenschwester Eva stand ratlos vor dem Bett, in dem der kleine Andreas Hasler lag. Seine grauen Augen zeigten einen matten Ausdruck. Schweißfeucht klebte das aschblonde kurz geschnittene Haar an seinen Schläfen. Seit der Junge ins Krankenhaus eingeliefert worden war, hatte er noch kein einziges Wort gesprochen und kaum etwas zu sich genommen.

      »Andreas, trink’ wenigstens die Milch«, bat die junge Schwester gütig.

      Andreas reagierte in keiner Weise. Zwar blickte er die Schwester an, aber er schien sie nicht zu sehen. Seine großen Augen waren völlig ausdruckslos.

      Mit einem unterdrückten Seufzer stellte die Schwester den Milchbecher auf das Nachtkästchen und verließ das Krankenzimmer. Draußen auf dem Korridor begegnete sie Frau Dr. Frey und ihrer Begleiterin. Nachdem sie die beiden begrüßt hatte, berichtete sie, dass der Zustand ihres kleinen Patienten nach wie vor unverändert sei. »Er verweigert jede Nahrung. Selbst seine Milch hat er heute noch nicht getrunken«, fügte sie besorgt hinzu.

      »Sie sehen, Frau von Schoenecker, dass uns jetzt nur noch Sophienlust helfen kann. Dort, im Kreis der Kinder und Tiere, wird Andreas seinen Schock sicherlich eher überwinden können. Bitte, liebe Schwester Eva, kümmern Sie sich um seine Sachen und sagen Sie auch in der Aufnahme Bescheid, dass der Junge das Krankenhaus sofort verlässt und mit Frau von Schoenecker nach Sophienlust fährt.«

      »Sophienlust?«, fragte die Krankenschwester. »Das ist eine gute Idee. Man hört im weiten Umkreis nur Gutes über das Kinderheim. Und Sie nennt man die gute Kinderfee, Frau von Schoenecker.«

      Denise und die Ärztin betraten das Krankenzimmer. Beide Fensterflügel waren weit geöffnet, so dass die warme Luft hereinströmen konnte. Zwei Spatzen saßen auf dem Sims und zankten sich um Brotkrumen. Andreas nahm jedoch nicht einmal das wahr. Er wendete auch nicht den Kopf, als die junge Ärztin an sein Bett trat und ihm liebevoll über das Haar strich.

      »Guten Morgen, Andreas«, sagte Anja Frey freundlich. »Wie geht es dir heute?« Sie umfasste das Handgelenk seines gesunden Armes und zählte die Pulsschläge. »Dein Puls ist kräftig und ruhig. Das ist schon ein großer Fortschritt.«

      Andreas erwiderte nichts darauf, sondern blickte Denise unverwandt an. Dann leuchtete es in seinen Augen auf. Plötzlich huschte ein kleines Lächeln über sein schmales Gesicht. Endlich war das Wunder geschehen, auf das alle seit Tagen gewartet hatten.

      Denise erwiderte das Lächeln und fragte schließlich: »Nicht wahr, Andreas, du kommst gern mit mir nach Sophienlust?«

      »Sophienlust? Wo liegt denn das?« Der Junge richtete sich etwas auf.

      »Bei dem Dorf Wildmoos, das in einer herrlichen Landschaft mit Bergen, Hügeln und Tälern, viel Wald und auch Seen liegt. Sophienlust ist ein Kinderheim, in dem alle Kinder wieder glücklich geworden sind.«

      Das Lächeln in dem Kindergesicht wich tiefer Traurigkeit. »Ich werde nie mehr glücklich werden«, erwiderte Andreas und presste dann die Lippen ganz fest aufeinander.

      Schwester Eva erschien. »Soll ich auch die anderen Koffer zum Wagen bringen?«, fragte sie. Sie meinte damit die Sachen von Andreas’ verunglückten Eltern.

      »Ich hole diese Sachen zu einem späteren Termin ab«, antwortete Frau Dr. Frey hastig nach einem schnellen warnenden Blick.

      Die Krankenschwester hatte verstanden. Es sah aus, als habe Andreas nichts von dem leisen Wortwechsel gehört. Doch das war ein Irrtum. Er hatte jedes Wort verstanden. Obwohl er noch nicht einmal sieben Jahre alt war, begriff er bereits, dass alle Leute um ihn herum große Rücksicht auf ihn nahmen und ihn nicht an seine Mutti und an seinen Vati erinnern wollten. Aber er musste ununterbrochen an sie denken. Den entsetzlichen Schrei seiner Mutter, als sie direkt auf den Baum zugerast waren, würde er nie vergessen. Und dann die furchtbare Stille, die auf das Krachen und Splittern gefolgt war. Er selbst war aus dem Auto geschleudert worden und auf eine weiche Wiese gefallen. Als er hatte aufstehen wollen, um zu seinen Eltern zu laufen, hatte er sein linkes Bein nicht bewegen können.

      Danach