die beiden kleinen Jungen schon fest schliefen. Sanft nahm sie Horst das Stofftier aus dem Arm und setzte es auf den Sessel, so dass Oliver den Teddy am Morgen sogleich sehen würde. Dann knipste sie das Licht aus und schloss lautlos die Tür hinter sich.
Clemens hatte den Abend auf Gut Schoeneich verbracht. Alexander von Schoenecker brachte ihn gegen Mitternacht mit seinem Wagen nach Sophienlust zurück, wo Clemens sich noch einmal herzlich für alles bedankte. Er wollte am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück heimfahren, um bei der Rückkehr seiner Frau zu Hause zu sein.
Dank des genossenen ausgezeichneten Weines schlief Clemens sofort ein. Lautes Geschrei riss ihn am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Er setzte sich auf, lauschte und erkannte die Stimme seines Sohnes. Sofort stand er auf, um nachzusehen, was los war. In Windeseile zog er sich an und eilte aus dem Zimmer.
Die Gästezimmer befanden sich genauso im ersten Stockwerk wie die Kinderzimmer. Auf dem Korridor begegnete Clemens das nette sommersprossige Mädchen. »Was ist los?«, fragte er kopfschüttelnd.
»Oliver schreit wie am Spieß. Er ruft immerzu nach Ihnen, Herr Dr. Wendt, und auch nach seiner Mutti. Nicht wahr, er ist zum ersten Mal von daheim fort?«, fragte Pünktchen.
»So ist es.« Clemens eilte neben Pünktchen zu dem Zimmer, in dem sein Sohn untergebracht war. Olivers lautes Weinen verstummte jedoch auch nicht, als er sanft auf ihn einredete.
»Oliver, was ist denn los?«, fragte Clemens ratlos und nahm seinen Sohn auf den Schoß.
»Ich habe geglaubt, du wärst ohne mich fortgefahren, Vati.« Allmählich ließ Olivers Schluchzen nach. »Ich habe solche Angst gehabt.«
»Ich bin ja da, mein Junge. Komm, sei ganz still.« Sanft wiegte Clemens das Kind in seinen Armen hin und her.
»Oliver, schau doch, was ich für dich habe«, sagte Heidi und gab ihm den Teddy Stupsi. »Tante Isi hat ihn uns allen geschenkt. Aber die nächsten Tage gehört er dir ganz allein.«
Oliver hörte zu weinen auf. »Ist der aber schön. Vati, nicht wahr, er ist schön?«, fragte er und lächelte Clemens unter Tränen an. »Ich habe so große Sehnsucht nach Mutti gehabt.«
Clemens unterdrückte einen Seufzer bei dem Gedanken an die Zukunft. Schwester Regine aber nickte ihm aufmunternd zu. »Oliver wird es schon bei uns gefallen«, meinte sie. »Ich nehme an, er ist erschrocken, als er in dem fremden Zimmer aufwachte. Oliver, gleich nach dem Frühstück kommen Nick und Henrik aus Schoeneich rüber. Dann darfst du auf einem Pony reiten. Ist das nicht fein?«
»Darf ich das auch wirklich?« Oliver atmete auf. Doch dann fragte er: »Aber du bleibst doch da, Vati?«
»Dein Vati bleibt noch da«, antwortete die Kinderschwester an Clemens’ Stelle.
Als Clemens mit Schwester Regine allein war, sagte er: »Ich glaube, ich sollte ohne Abschied losfahren.«
»Das müssen Sie entscheiden, Herr Dr. Wendt. Aber Frau von Schoenecker hat versprochen, sofort nach dem Frühstück zu kommen. Sie versteht es nach wie vor am besten, mit Kindern umzugehen und die richtigen Worte zu finden. So etwas ist eine Gabe, die einem Menschen angeboren ist.«
»Sie ist eine wundervolle Frau«, stellte Clemens fest. Die Aussicht, dass Frau von Schoenecker kommen würde, war für ihn eine große Erleichterung.
Denise tat alles, um zu verhindern, dass der Abschied von seinem Vater für Oliver allzu dramatisch verlief. Als das Auto losfuhr, nahm sie den Kleinen auf den Arm.
Aufgeregt winkte Oliver dem Wagen nach. Doch dann fing er an zu weinen. »Ich will zu meiner Mutti!«, schrie er und strampelte so heftig, dass Denise ihn auf den Boden stellte.
»Oliver, wir fahren jetzt zum Tierheim.« Nick bemühte sich, seiner Mutter zu helfen. »Nicht wahr, Mutti, du bringst uns mit deinem Auto hin?«
»Das mache ich, Nick. Pünktchen, Heidi, Horst, Henrik, du und Oliver dürfen heute mitfahren.«
»Wie schön!« Heidi klatschte erfreut in die Hände und machte dann einen Luftsprung. »Oliver, am lustigsten sind die Schimpansen Luja und Batu«, erzählte sie fröhlich.
Denise fasste Oliver, der zu weinen aufgehört hatte, bei der Hand. »Im Tierheim gibt es auch eine Braunbärin. Sie heißt Isabell und hat zwei Kinder. Taps und Tölpl sind sehr verspielt«, lenkte sie den Jungen weiterhin von seinem Abschiedsschmerz ab.
Oliver lächelte schon wieder. »Fahren wir gleich?«, fragte er aufgeregt.
»Sofort, Oliver.« Denise fiel ein Stein vom Herzen. Das Schlimmste schien überwunden zu sein.
»Die Bärenmutter erzieht ihre Kinder streng«, berichtete Pünktchen lebhaft. »Wenn sie nicht folgen, ohrfeigt sie ihre Kinder gehörig.«
Olivers Augen glänzten vor freudiger Erwartung.
»Und dann gibt es im Tierheim drei Füchse«, ergänzte Heidi.
»Und auch ein einziges Pferdchen, das nicht viel größer ist als ein ausgewachsener Pudel ist.« Auch Henrik gab sein Wissen zum Besten. »Es ist braunweiß und heißt Billy. Ja, und es kommt von ganz weit her. Es ist in Texas geboren. Dann gibt es im Tierheim auch noch zwei Esel. Der ältere Esel heißt Benjamin, der andere Fridolin. Fridolin kann einen Wagen ziehen. Nicht wahr, Mutti, wir dürfen nachher mit Oliver in dem Gig fahren?«
»Du musst Oliver noch erklären, was ein Gig ist, Henrik«, sagte Pünktchen. »Oder soll ich es tun?«
»Lass nur, ich erkläre es ihm schon.« Henriks graue Augen zeigten einen verschmitzten Ausdruck, als er hinzufügte: »Ein Gig ist ein zweirädriger leichter Wagen mit einer Gabeldeichsel.«
»Bravo, mein Kleiner«, lobte Nick seinen jüngeren Bruder.
»Sag’ nicht immer Kleiner zu mir. Das kann ich nicht leiden«, empörte sich der Siebenjährige und reckte sich, um größer zu erscheinen.
»Ist schon gut.« Nick schmunzelte. Es machte ihm nach wie vor einen Heidenspaß, Henrik ein wenig zu necken.
»Gebt Ruhe, und hört zu streiten auf«, bat Denise in bester Stimmung. »Kommt nun, damit wir endlich losfahren können.«
In den nächsten Stunden vergaß Oliver sein Heimweh. Das Tierheim Waldi & Co. faszinierte ihn. Sehr nachdenklich bewunderte er auch Peterle, das reizende Baby des Ehepaares von Lehn.
»Mutti hat mir versprochen, dass ich eines Tages auch ein Brüderchen oder Schwesterchen bekomme«, sagte er.
»Bestimmt bekommst du bald ein Brüderchen«, erwiderte Pünktchen, die sich besonders um den Kleinen kümmerte.
*
Erst gegen Abend erreicht Dr. Clemens Wendt seine Villa in München-Grünwald, die in einem sehr künstlerisch angelegten Garten mit seltenen exotischen Bäumen, Blumenrabatten und einem Springbrunnen stand.
Als Clemens ausstieg, um die beiden Flügeltüren des eisernen Tores zu öffnen, steigerte sich seine Nervosität noch. Ob Gesa inzwischen heimgekommen war, fragte er sich. Er hätte die unvermeidliche Auseinandersetzung mit ihr gern so schnell wie möglich hinter sich gebracht. Auf der Rückfahrt nach München hatte er hin und her überlegt, ob er Oliver die Trennung von seiner Mutter ersparen könne. Doch es erschien ihm unmöglich. Er konnte nicht über seinen eigenen Schatten springen und musste die Konsequenzen aus Gesas Verhalten ziehen.
Bisher hatte es in seinem Leben niemals halbseidene Sachen gegeben. So sollte es auch bleiben. Er würde sich selbst nicht untreu werden. Gesa hatte ihn auf die niederträchtigste Weise belogen und hintergangen. Mit einer unverzeihlichen Lüge war sie seine Frau geworden. Ihm blieb nun nichts anderes übrig, als einen dicken Schlussstrich unter seine Ehe zu setzen.
Langsam fuhr Clemens zu den Garagen. Gesas Wagen war noch nicht da. Also muss ich auf sie warten, dachte er bedrückt.
Clemens parkte den Wagen. Als er ausstieg, fiel sein Blick auf Olivers neuen Roller. Schmerzhaft zog sich sein Herz zusammen. Dann aber atmete er tief durch und presste die Lippen hart aufeinander.