waren auf der Stelle tot.« Dann war Frau Dr. Frey da gewesen. Sie hatte die Leute angefleht, keine Bemerkungen in dieser Beziehung zu machen. Und dann hatte sie ihm eine Injektion gegeben. Er war sofort eingeschlafen und in diesem Bett hier aufgewacht. Er hatte keine Fragen nach seinen Eltern gestellt, weil er noch immer gehofft hatte, dass er das alles nur geträumt habe. Aber die Tage waren vergangen. Und nun war seine Hoffnung erloschen. Mutti und Vati waren bei dem Autounfall umgekommen. Seine Omi war erst vor einem halben Jahr gestorben. Nur Frau Helbricht, die Zugehfrau, war noch daheim in ihrem Haus.
»Andreas, ich ziehe dich jetzt an«, erklärte Schwester Eva. »Gleich kommt Herr Kaspar, der Krankenpfleger. Er wird dich auf eine fahrbare Trage legen, mit der du dann zu einem Krankenwagen gebracht wirst.«
Andreas gab keine Antwort. Wieder ruhte sein Blick auf Denise. Seine Mutti hatte auch schwarze Haare gehabt und ganz dunkle Augen. Sie hatte auch immer so lieb gelächelt.
»Andreas, möchtest du mich Tante Isi nennen?«, fragte Denise. Ihr war das erregte Mienenspiel des Jungen nicht entgangen.
»Ja, Tante Isi. Und darf ich Sie auch duzen?«
»Das gehört doch dazu, mein Junge.«
»Fährst du mit im Krankenwagen?«
»Wenn du es dir wünschst?«
Andreas nickte. Willig ließ er dann alles mit sich geschehen. Als der Krankenpfleger Kaspar ihn auf die Trage hob, streckte er seinen gesunden Arm nach Denise aus.
»Ich glaube, wir könnten auf den Krankenwagen verzichten«, meinte Frau Dr. Frey. »Ich habe einen viertürigen Wagen, so dass Andreas es sich auf dem hinteren Sitz bequem machen kann.«
So geschah es auch. Andreas warf keinen Blick zurück zum Krankenhaus, als sie losfuhren. Starr blickte er vor sich hin. Auch sprach er kein Wort auf der Fahrt.
Denise hatte inzwischen mit Frau Rennert telefoniert und ihr die Ankunft des Kindes angekündigt. Andreas’ Blick wurde etwas lebhafter, als sie das schmiedeeiserne Tor von Sophienlust passierten und vor der Freitreppe hielten.
»Herzlich willkommen in Sophienlust, Andreas«, sagte Denise.
»Das Haus sieht wie ein Schloss aus.« Der Junge blickte das einstöckige Gebäude staunend an.
Denise bedauerte, dass die Kinder nicht da waren. Sie hätten sofort die richtigen Begrüßungsworte für Andreas gefunden und ihn mit seiner neuen Umgebung vertraut gemacht.
Frau Rennert, Schwester Regine und das junge Hausmädchen Ulla hatten alles für den Empfang des verletzten Jungen vorbereitet.
Andreas lächelte zum zweitenmal an diesem Tag, als man ihn in den chromblitzenden Rollstuhl setzte, der für solche Fälle angeschafft worden war. Denise schob den Rollstuhl in den Wintergarten und zeigte Andreas Habakuk, der sofort seinen Wortschatz vom Stapel ließ. Es war, als ahne der Papagei, dass der Junge aufgemuntert werden sollte.
Währenddessen informierte Frau Dr. Frey die Kinderschwester im Behandlungszimmer über Zustand und Pflege des kleinen Patienten.
»Bisher hat Andreas noch keine Frage nach seinen Eltern gestellt«, berichtete die Ärztin. »Wir haben ihm gesagt, dass sie auf dem Friedhof von Maibach beerdigt worden sind. Fast bereue ich, dass man sie nicht auf dem hübschen Wildmooser Friedhof beigesetzt hat.«
»Sollte Andreas den Wunsch äußern, die Gräber seiner Eltern zu besuchen, werde ich mit ihm hinfahren«, versprach Schwester Regine.
»Auch sonst hat Andreas für nichts Interesse gezeigt«, fuhr Frau Dr. Frey fort. »Ich bin sicher, dass der Junge ein Sorgenkind für Sophienlust werden wird. Ich werde Frau von Schoenecker und Frau Rennert bitten, den Kindern zu sagen, dass man Andreas nicht mit Fragen bedrängen darf. Man muss ihm Zeit lassen, seinen Schock zu überwinden.«
»Unsere Kinder werden sich an diese Bitte halten. Das kann ich Ihnen schon jetzt versprechen, Frau Dr. Frey. Auf Nick und auch auf Pünktchen ist unbedingter Verlass. Die beiden werden die anderen Kinder immer wieder daran erinnern. Steht Andreas denn ganz allein auf der Welt da?«
»Ich glaube, dass er niemanden mehr hat. Unsere Nachforschungen nach Verwandten blieben bisher ergebnislos. Es scheint ganz so, als ob er hier eine neue Heimat finden würde. Frau von Schoenecker hat sich bereit erklärt, ihren Familienanwalt damit zu beauftragen, sich um die Familienverhältnisse des Jungen zu kümmern. Wir wissen nur, dass Andreas mit seinen Eltern in Bad Kissingen gelebt hat. Sein Vater war Filialleiter in einem Kaufhaus. Aber Andreas spricht nicht von seinen Eltern. Ich bin mir noch nicht ganz im klaren, ob er durch den erlittenen Schock die Zeit vor dem Unfall vergessen hat. Es erscheint mir unnatürlich, dass er keine einzige Frage nach seinen Eltern stellt.« Die Ärztin erhob sich. »Ich muss fahren. Ich habe noch zwei Krankenbesuche zu machen. Ich will mich nur noch von Frau von Schoenecker verabschieden.«
Denise war noch immer mit Andreas im Wintergarten. Der Junge saß mit großen traurigen Augen im Rollstuhl vor dem Aquarium und beobachtete die schillernden Fischchen darin.
»Schwester Regine wird jetzt bei dir bleiben, Andreas«, sagte Denise liebevoll. Dabei nickte sie der Kinderschwester zu. Sie selbst folgte Frau Dr. Frey auf den Gang hinaus. »Es wird nicht einfach sein, das Kind aus seiner Lethargie zu lösen«, erklärte sie bedrückt. »Aber letzten Endes wird Andreas seinen Kummer überwinden. Ich fahre noch vor dem Mittagessen zu meiner Tochter, um die drei kleinen Kinder abzuholen. Sie können ein andermal den ganzen Tag bei ihr bleiben. Obwohl Oliver, Heidi und Horst noch klein sind, werden sie Andreas bis zur Rückkehr der großen Kinder gewiss ablenken. Wenn der Junge auch nicht nach den Kindern gefragt hat, so habe ich doch an seinem Gesicht abgelesen, dass er zu gern wissen möchte, wo die Kinder eigentlich sind.«
»Genauso war es im Krankenhaus. Jedes andere Kind hätte Fragen gestellt, um zu wissen, woran es ist. Nicht Andreas. Aber ich bin nun überzeugt, dass er seinen Schock bald überwinden wird. Leider muss ich mich jetzt verabschieden.« Die Ärztin reichte Denise die Hand. Dann ging sie noch schnell zu Andreas, um ihm zu sagen, dass sie am nächsten Tag wieder nach ihm sehen würde.
Kurz darauf fuhr Denise zu Andrea. Als sie vor dem hübschen Landhaus hielt, kamen Oliver, Horst und Heidi freudestrahlend angelaufen.
»Stell dir vor, Tante Isi, soeben ist ein Leopard ins Tierheim gebracht worden!«, rief Heidi aufgeregt. »Tante Andrea hat gesagt, er müsse an der rechten Vorderpfote operiert werden, weil er dort eine Entzündung hat. Der Leopard heißt Ali und ist ganz zahm. Sein Herr hat uns erzählt, er laufe wie ein Hund an der Leine.«
»Guten Tag, Mutti«, begrüßte Andrea Denise. »Ist etwas vorgefallen? Du wolltest doch erst am Nachmittag wiederkommen, um die drei Kleinen abzuholen.«
»Es ist etwas geschehen, was mich veranlasst, die drei Kinder noch vor dem Mittagessen nach Sophienlust zurückzubringen.«
Die Kinder spitzten die Ohren, und Heidi fragte: »Haben wir ein neues Kind bekommen, Tante Isi?«
»Du hast es erraten, mein kleines kluges Mädchen. Nicht wahr, ihr kommt gern mit?«
»Ja, Tante Isi!«, riefen die drei einstimmig. Und Heidi fügte altklug hinzu: »Damit das neue Kind nicht so allein ist, da die Großen doch fort sind.«
»Genau, Heidi. Aber zuvor möchte ich euch noch um etwas bitten. Ihr dürft Andreas, so heißt unser neuer Zuwachs, nicht mit Fragen quälen. Er hat seine Eltern vor ein paar Tagen bei einem schrecklichen Unfall verloren und steht nun vermutlich ganz allein auf der Welt da.«
»So wie ich!«, rief Heidi. »Dann wird er für immer bei uns bleiben, nicht wahr?«
»Ich glaube schon, Heidi. Andreas hat einen großen Schock erlitten und spricht kaum. Ihr dürft ihm alles Hübsche in Sophienlust zeigen, aber ihr dürft ihn nicht mit Fragen quälen.«
»Ich zeige ihm nachher gleich meine beiden Kaninchen Schneeweißchen und Rosenrot.«
»Tu das, mein Schatz.«
»Und ich zeige ihm die Ponys. Er wird staunen, dass ich schon ein bisschen reiten kann!«, rief Oliver stolz.
»Das