machen mir ein wenig Mut. Ich blicke nun nicht mehr ganz so schwarz in die Zukunft. Wenn ich doch nur wüsste, in welchem Kinderheim Oliver ist«, fügte sie hinzu.
»Clemens wird ihn bestimmt in einem komfortablen Heim untergebracht haben. So, und nun trink’ deinen Whisky. Dann packe ich meine Sachen, und wir fahren los. Vielleicht bekommen wir noch das letzte Boot nach Borkum. Wenn nicht, dann übernachten wir irgendwo an der Küste. Einverstanden?«
»Einverstanden.« Gesa atmete auf. Wie gut, dass sie zu Ulla gefahren war. Ihre Freundin war ein patenter Kerl. Sie fand sich in jeder Lebenslage zurecht und wusste immer Rat.
Als die beiden Freundinnen später in Gesas Wagen saßen und nach Wilhelmshaven fuhren, fragte Gesa: »Weißt du, was ich mir wünsche?«
»Wie sollte ich?« Ulla lehnte sich bequemer auf ihrem Sitz zurück.
»Ich möchte wissen, was aus meinem unehelichen Sohn geworden ist. Ich bin nahe daran, mein Versprechen zu brechen und mich nach ihm zu erkundigen. Damals, als ich den Jungen scheinbar leichten Herzens hergab, hätte ich nie geglaubt, dass ich eines Tages unter der Trennung des Kindes, dessen Namen ich nicht einmal weiß, leiden würde.«
»Es wird schon alles gut werden, Gesa.«
»Weißt du, ich könnte doch einmal nach Bad Kissingen fahren, um …«
»Ich glaube, das ist kein guter Einfall, Gesa. Damit würdest du dir das Herz noch schwerer machen. Du würdest vielleicht deinen Sohn von Weitem sehen, aber mit dem Bewusstsein, dass du ihn nicht ein einziges Mal in deine Arme nehmen darfst. An deiner Stelle würde ich mir diesen Gedanken aus dem Kopf schlagen.«
Doch diesmal zeigte Gesa keine Bereitschaft, den Rat ihrer Freundin zu befolgen. In den nächsten Tagen nistete sich der Gedanke, nach Bad Kissingen zu fahren, bei ihr ein. Der Wunsch, ihren erstgeborenen Sohn wenigstens ein einziges Mal zu sehen, wurde immer stärker in ihr.
*
Trotz aller Bemühungen blieb Andreas’ Zustand unverändert. Alle Kinder nahmen große Rücksicht auf ihn. Nur Oliver hörte nicht auf, um seine Freundschaft zu werben. Auf jede nur mögliche Weise versuchte der Dreijährige, den Sechsjährigen für sich zu gewinnen.
Andreas reagierte unterschiedlich auf Olivers Anbiederungsversuche. Wenn er den Kleinen ungeduldig anfuhr, tat es ihm hinterher sogleich wieder leid.
Andrea von Lehn kaufte einen Rollstuhl, als sie bemerkte, wie sehr sich Andreas für die Tiere im Tierheim begeisterte. Tagtäglich brachte jemand den Jungen zum Tierheim. Meist kam auch Oliver mit, dem es einen Riesenspaß zu machen schien, seinen älteren Freund im Rollstuhl zu schieben.
Helmut Koster verstand es ausgezeichnet, Andreas’ Interesse für die Tiere wachzuhalten. Und Andreas hing bald mit kindlicher Zuneigung an dem Tierpfleger. Wenn dieser ihm von den Schicksalen der einzelnen Tiere erzählte, lauschte er mit glücklichen Augen.
Endlich wurden dem Jungen die Gipsverbände abgenommen. Schwester Regine massierte ihn jeden Tag, so dass er bald wiederhergestellt war und sich frei bewegen konnte.
Oliver freute sich sehr darüber. Begeistert zeigte er Andreas seine Reitkünste. »Bald wirst du auch reiten können«, erklärte er stolz. Um ihm noch mehr zu imponieren, bat er Helmut Koster, ihn auf den Rücken des Esels Fridolin zu setzen.
Der Tierpfleger erfüllte ihm diesen Wunsch gern. Als er den Jungen auf den Esel setzte, meinte er nur: »Ich hoffe, dass Fridolin heute seinen guten Tag hat. Fridolin, sei schön brav.«
Ein wenig verwundert wendete Fridolin seinen Kopf nach hinten. Doch dann trottete er gehorsam los. Helmut Kostner führte ihn vorsichtshalber am Halfter, um ein Unglück zu verhindern.
Andreas blickte den dreien nach. Ein sehnsüchtiger Glanz stand plötzlich in seinen Augen. Impulsiv lief er den anderen nach und fragte schüchtern: »Darf ich dann auch mal auf dem Esel Fridolin reiten, Herr Koster?«
»Aber ja, mein Junge. Oliver, nicht wahr, du lässt jetzt Andreas reiten?«
»Natürlich, Onkel Koster.«
Oliver ließ sich vom Esel herunterheben, und Andreas kletterte mit heftig klopfendem Herzen auf den Eselsrücken. Er strahlte über das ganze Gesicht, als Fridolin sich in Bewegung setzte.
Helmut Koster erzählte später Andrea, dass Andreas zum ersten Mal richtig gelacht habe. Daraufhin entschloss sich die junge Frau, Andreas und Oliver für ein paar Tage ganz zu sich einzuladen.
Denise hatte nichts dagegen einzuwenden. Oliver aber war selig. »Nicht wahr, Andreas, es ist wunderschön, dass wir beide nun zusammen in einem Zimmer schlafen dürfen? Ich habe schon oft bei Tante Andrea und Onkel Hans-Joachim übernachtet. Die Dackelkinder Pucki und Purzel durften dann in meinem Zimmer schlafen. Und Tante Andrea hat auch ein zahmes Eichhörnchen, das jeden Morgen in die Zimmer hineinschaut. Sie hat mir erzählt, dass sie es halbtot gefunden hat. Aber Onkel Hans-Joachim hat es wieder ganz gesund gemacht.«
»Ich finde es auch nett, dass wir zusammen in einem Zimmer schlafen dürfen«, erwiderte Andreas.
Dieses erste Eingeständnis seiner Sympathie für Oliver versetzte den kleinen Jungen in eine so glückliche Stimmung, dass er einen Luftsprung machte. »Es wäre schön, wenn wir Brüder wären«, erklärte Oliver. »Aber ich …« Er sprach nicht weiter, sondern wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
»Ist deine Mutti denn auch tot?«, fragte Andreas leise.
»Sie ist krank. Und sie besucht mich überhaupt nicht. Darüber bin ich schrecklich traurig. Wenn ich meinen Vati nach meiner Mutti frage, sieht er immer so komisch aus. Vielleicht muss meine liebe Mutti auch sterben?« Oliver konnte nun seine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Andreas strich ihm ungeschickt über das weißblonde Haar. Es tat ihm gut, dass auch der kleine Oliver Sorgen hatte. Das lenkte ihn von seinem eigenen Leid ab. Zugleich erwachte in ihm der Wunsch, Oliver zu bewachen und zu beschützen.
»Du, ich habe einen Einfall«, sagte er. »Wir fragen Onkel Koster, ob wir beide auf Fridolin reiten dürfen. Der Esel ist stark genug, um uns beide zu tragen.«
Helmut Koster hatte nichts dagegen einzuwenden. Diesmal ließ er die beiden Jungen mit Fridolin allein. Der Esel schien eine Vorliebe für sie zu haben, denn er zeigte sich an diesem Tag von seiner nachgiebigsten Seite.
*
Von diesem Tag an lebte Andreas sichtlich auf. Und eines Tages erschien er bei Denise, die sich in Sophienlust für ein Weilchen in ihr Zimmer im ersten Stock zurückgezogen hatte, um ein wenig auszuspannen. Als Andreas schüchtern anklopfte, fuhr sie aus ihrem Dämmerschlaf hoch. »Herein!«, rief sie und erhob sich von der Schlafcouch.
»Tante Isi, ich möchte dich etwas fragen.« Andreas sah sie scheu an.
»Dann los, mein Junge.« Denise war schon wieder hellwach. Sie setzte sich auf einen der buntbezogenen Sessel.
»Tante Isi, ich möchte einmal zum Friedhof gehen.«
»Wenn du willst, fahren wir gleich hin«, erwiderte Denise ernst. »Und vorher plündern wir unsere Blumenbeete, um einen schönen Strauß für deine Eltern mitzunehmen.«
»Ja, Tante Isi.« Andreas sah sie dankbar an. »Nicht wahr, Oliver darf auch mitkommen?«
»Wenn er dazu Lust hat, darf er gern mitkommen.«
Oliver war sogleich einverstanden. Kurz darauf saßen die beiden Jungen nebeneinander auf dem hinteren Sitz in Denises Wagen und hielten sich bei den Händen.
Im Rückspiegel erblickte Denise die verklärten Kindergesichter. Wieder einmal schien die gute Fee von Sophienlust, an die Nick noch immer glaubte, einem unglücklichen Kind den Weg in eine glücklichere Zukunft geebnet zu haben. Unvermittelt dachte Denise auch an Sophie von Wellentin, die den Grundstein zu diesem Kinderglück gelegt hatte. Ihr Wunsch war es gewesen, das Herrenhaus von Sophienlust in ein Kinderheim für hilfsbedürftige Kinder umzugestalten. Inzwischen waren sie auf dem Friedhof angekommen. Lange stand Andreas mit gefalteten Händen vor dem Doppelgrab