bekäme noch ein Brüderchen oder auch noch ein Schwesterchen?« In den Kinderaugen glitzerte es verdächtig.
»Oliver, du bist doch schon ein großer und verständiger Junge?« Clemens strich seinem Sohn zärtlich über das kurz geschnittene weißblonde Haar.
Tapfer schluckte der Kleine die Tränen herunter. Wenn sein Vater zu ihm sagte, dass er schon ein großer Junge sei, musste er sich auch dementsprechend benehmen, überlegte er. Und ein großer Junge weinte nicht mehr. »Ich bin schon sehr groß«, erwiderte er und hielt seine rechte Hand über seinen Kopf, um damit seine körperliche Größe anzudeuten.
»Na, siehst du! Und ich muss für ein paar Tage verreisen.«
»Aber Mutti ist doch zu Hause, Vati.«
»Mutti ist …«
»… verreist. Das weiß ich doch. Sie ist zu einer Freundin gefahren, aber sie hat mir versprochen, dass sie bald wiederkommt, Vati«, entgegnete der Junge leise.
»Sie ist nach Hamburg gefahren. Das stimmt, Oliver. Aber dort ist sie krank geworden und musste in ein Krankenhaus eingeliefert werden.« Clemens zündete sich eine Zigarette an.
»Aber sie wird doch wieder gesund?« Entsetzen stand plötzlich in den großen blauen Augen des kleinen Jungen. »Die Mutti von Peter Braun ist auch krank geworden und dann gestorben. Nun ist sie bei dem lieben Gott im Himmel. Peter hat mir erzählt, sie sei jetzt ein wunderschöner Engel. Aber ich möchte Mutti lieber bei mir haben. Ich habe doch so große Sehnsucht nach ihr.« Wie dumm, dass ihm schon wieder Tränen in die Augen schossen.
Gott steh’ mir bei, wenn ich Oliver eines Tages die Wahrheit über seine Mutter erzählen und ihm sagen muss, dass sie nicht mehr nach Hause kommt, dachte Clemens. »Mutti wird nicht sterben, mein Junge«, entgegnete er. Dann wechselte er das gefährliche Thema. »Onkel Ernst hat mir Sophienlust empfohlen. Dort soll es wunderschön sein und viele Tiere geben. Ganz in der Nähe ist ein Tierheim, in dem es sogar Affen und Bären gibt. Auch Pferde und Ponys leben in Sophienlust. Alle großen und kleinen Kinder dürfen reiten. Die großen auf den Pferden, die kleinen auf den Ponys.«
Olivers Interesse an dem Kinderheim wuchs sichtlich. »Und du glaubst, dass auch ich auf einem Pony reiten darf, Vati?«, fragte er gespannt. Für Ponys hatte er seit langem geschwärmt und sich sehnlichst gewünscht, einmal auf einem solchen Pferdchen reiten zu dürfen.
»Natürlich darfst du das.« Clemens atmete erleichtert auf. Er hatte sich die Reaktion seines Sohnes auf die Eröffnung, in einem Kinderheim untergebracht zu werden, viel schlimmer vorgestellt, denn der Junge hing sehr an seiner Mutter.
»Aber wenn Mutti dann gesund ist, besucht sie mich doch auch im Kinderheim?«, fragte Oliver etwas später, als sie die Landstraße, die schnurstracks nach Sophienlust führte, entlangfuhren.
»Wenn sie gesund ist, wird sie kommen. Du musst dich jedoch in Geduld fassen. Sie wird nicht so bald gesund werden«, fügte Clemens bedrückt hinzu. »Aber ich werde dich schon am nächsten Wochenende besuchen. Das verspreche ich dir.«
Olivers Freude über dieses Versprechen war nur verhalten. Still und in sich gekehrt saß er neben seinem Vater. Erst als ein dritter Wegweiser mit Holzfigürchen, die diesmal zwei kleine Reiter, einen Buben und ein Mädchen auf Ponys darstellten, zu sehen war, wurde er wieder gesprächiger.
»Sieh doch nur, Vati! Die beiden Kinder sitzen auf Ponys. Ob ich nachher gleich die lebendigen Ponys anschauen darf?«
»Sicherlich wirst du das dürfen.« Clemens fuhr nun durch das weit offen stehende doppelflügelige Tor.
»Vati, ist das ein Schloss? Ob dort ein richtiger König wohnt?«
»Das glaube ich kaum, Oliver. Wenn mich nicht alles täuscht, ist das das Kinderheim Sophienlust.« Clemens zweifelte ein wenig daran. Denn dieses schlossähnliche Gebäude mit der weißen Fassade, den großen Fenstern mit den grünen Läden und dem grauen Schindeldach entsprach so gar nicht seinen Vorstellungen von einem Kinderheim. Allerdings hatte sein Freund Ernst Weber ihm das Heim in den leuchtendsten Farben geschildert. Dessen Kinder hatten die vergangenen großen Ferien hier verbracht und sprachen noch jetzt voll Begeisterung von ihrem Aufenthalt in Sophienlust.
Auch die Freitreppe war hochherrschaftlich. Eine ältere Dame mit weißen Haaren trat aus dem Haus. Sie trug ein schlichtes dunkelblaues Leinenkleid. Zwei große Hunde folgten ihr auf dem Fuße.
»Vati, sind das aber große Hunde«, flüsterte Oliver respektvoll. »Nicht wahr, sie beißen mich nicht?« Er wagte es nicht, auszusteigen.
»Gewiss beißen sie dich nicht. Wären sie böse, würde man sie bestimmt nicht frei herumlaufen lassen. Komm, sei kein Hasenfuß und steig’ schon aus«, bat Clemens.
Oliver seufzte hörbar auf und öffnete vorsichtig die Autotür. Bevor er die Füße auf den Boden setzte, erkundigte er sich noch: »Was sind denn das für Hunde?«
»Der weißbraune ist ein Bernhardiner, und der große schwarze Hund ist eine Dogge. Siehst du, sie beißen nicht«, stellte Clemens fest, als ein ungefähr vierjähriges Mädchen mit hellblonden Haaren aus dem Haus kam und den Bernhardiner umarmte. Dann streichelte es die Dogge.
Oliver hatte seine Furcht nun überwunden. Wenn ein so kleines Mädchen keine Angst vor den großen Hunden hatte, durfte er sich auch nicht fürchten, sagte er sich und stieg nun endgültig aus.
Clemens Wendt war schon ausgestiegen und kam nun um das Auto herum. Er ergriff die Hand seines Sohnes und stieg mit ihm die Freitreppe hinauf.
Die Heimleiterin, Frau Rennert, kam den beiden ein paar Schritte entgegen. Clemens stellte sich und seinen Jungen vor. »Ich habe bereits mit Ihnen telefoniert, Frau von Schoenecker«, fügte er hinzu, in der Meinung, der Besitzerin des Heimes gegenüberzustehen.
»Ich bin Frau Rennert, Herr Dr. Wendt. Ich bin die Heimleiterin. Aber Frau von Schoenecker erwartet Sie. Also, du bist der Oliver?«, wandte sie sich an den Jungen.
»Ich heiße Oliver Wendt und bin drei Jahre alt.« Der Knirps richtete sich ein wenig auf, um damit dem kleinen Mädchen zu imponieren, das ihm sehr gut gefiel.
»Also Oliver Wendt.« Frau Rennert verkniff sich ein Lächeln.
»Darf man die Hunde streicheln?«, fragte Oliver, seinen ganzen Mut zusammennehmend. Dass sein Herz zum Zerspringen klopfte, sah man ja glücklicherweise nicht.
»Das darfst du, Oliver. Der Bernhardiner heißt Barri und gehört allen Kindern. Die Dogge heißt Anglos. Sie gehört unserem Fabian.«
»Dann dürfen die Kinder hier eigene Hunde halten?«, fragte Clemens erstaunt.
»Wenn sich ein Kind von seinem Liebling nicht trennen will, darf es seinen Hund mitbringen. Manchmal bringen wir die Hunde auch im Tierheim unter. Aber kommen Sie doch weiter.« Frau Rennert lächelte Clemens liebenswürdig an.
»Und ich bin die Heidi«, machte sich das kleine Mädchen bemerkbar, weil es von niemandem beachtet worden war.
»Guten Tag, Heidi«, Clemens reichte dem kleinen Persönchen die Hand. »Ich freue mich, dich kennen zu lernen.«
»Ich auch, Heidi.« Oliver war momentan mit allem recht zufrieden. Den Gedanken, dass sein Vati ihn hier allein zurücklassen wollte, schob er weit von sich. »Darf ich die Ponys sehen?«, fragte er neugierig.
»Später darfst du sie dir ansehen, Oliver. Jetzt werden wir zunächst Tante Isi begrüßen. So nennen die Kinder Frau von Schoenecker, Herr Dr. Wendt«, erläuterte sie. »Sie verwaltet Sophienlust für ihren Sohn. Denn unser Nick ist erst fünfzehn Jahre alt. Ihm gehört Sophienlust eigentlich.«
»Ach, so ist das. Ich …« Clemens sprach nicht weiter, denn in der geräumigen Halle mit dem offenen Kamin, vor dem ein Bärenfell lag, kam ihnen eine aparte, sehr jugendlich aussehende Dame in einem leichten Sommerkleid aus einem buntbedruckten Stoff entgegen. Das schwarze Haar trug sie in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem leichten Knoten geschlungen. Die auffallend dunklen Augen in dem ovalen Gesicht mit den gleichmäßigen Zügen strahlten Ruhe und unendliche